Bundessozialgericht, Beschluss vom 19.10.2016, Az. B 14 AS 105/16 B

14. Senat | REWIS RS 2016, 3767

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Voraussetzungen für eine Berufungsrücknahmefiktion - Rechtsschutzgarantie - Wegfall des Rechtsschutzinteresses nach Aufklärungs- und Hinweisverfügung


Leitsatz

Für die Berufungsrücknahmefiktion gelten dieselben Voraussetzungen wie für die Klagerücknahmefiktion.

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des [X.] vom 10. März 2016 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

1

I. Umstritten ist die Aufhebung einer Leistungsbewilligung nach dem [X.] für einen Monat. Nachdem zunächst das [X.] die Rücknahme der Klage durch Urteil vom 14.9.2011 festgestellt hat, hat das L[X.] - nach Zulassung der Berufung - im Berufungsverfahren mit Beschluss vom [X.] festgestellt, die Berufung der Klägerin gelte als zurückgenommen. Aufgrund eines Antrags der Klägerin, das Verfahren fortzuführen, weil die Voraussetzungen der Berufungsrücknahmefiktion nicht vorgelegen hätten, hat das L[X.] mit Beschluss vom [X.] festgestellt, der Rechtsstreit sei durch Zurücknahme der Berufung erledigt. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde, in der sie als Verfahrensmangel nach § 160 Abs 2 [X.] [X.]G rügt, die Voraussetzungen für die Fiktion einer Berufungsrücknahme lägen nicht vor und es sei zu Unrecht kein Sachurteil ergangen.

2

II. Die gegen die Nichtzulassung der Revision in der angefochtenen Entscheidung des L[X.] gerichtete Beschwerde der Klägerin ist zurückzuweisen, weil sie unbegründet ist.

3

Die Revision kann nur aus den in § 160 Abs 2 [X.]G genannten Gründen - grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, Abweichung (Divergenz), Verfahrensmangel - zugelassen werden. In der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde muss die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt oder die Entscheidung, von der das Urteil des L[X.] abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden (§ 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G).

4

Vorliegend stützt die Klägerin ihre Nichtzulassungsbeschwerde allein auf den Zulassungsgrund eines [X.] nach § 160 Abs 2 [X.] [X.]G. Der von ihr gerügte Verfahrensmangel "Prozessurteil statt Sachurteil" (vgl nur seit B[X.]E 1, 283; B[X.]E 2, 245, 252 ff; B[X.]E 15, 169, 172; B[X.] SozR 1500 § 160a [X.]), weil das L[X.] in dem angefochtenen Beschluss vom [X.] die zuvor in dem Beschluss vom [X.] getroffene Feststellung, die Berufung gelte als zurückgenommen, bestätigt hat, liegt nicht vor.

5

Die Berufungsrücknahmefiktion ist durch das Vierte Gesetz zur Änderung des [X.] und anderer Gesetze vom 22.12.2011 ([X.] 3057) mit Wirkung ab 1.1.2012 als § 156 Abs 2 [X.]G eingeführt worden (vgl zur vorherigen Einführung der Klagerücknahmefiktion in § 102 Abs 2 [X.]G und deren Nichtübertragbarkeit auf das Berufungsverfahren: B[X.] vom [X.] - B 13 R 58/09 R - B[X.]E 106, 254 = [X.]-1500 § 102 [X.] 1). Nach § 156 Abs 2 [X.]G gilt die Berufung "als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Der Berufungskläger ist in der Aufforderung auf die Rechtsfolgen hinzuweisen, die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Absatz 1 Satz 1 in Verbindung mit § 155 Absatz 2 der Verwaltungsgerichtsordnung ergeben. Das Gericht stellt durch Beschluss fest, dass die Berufung als zurückgenommen gilt."

6

Hintergrund für die Berufungsrücknahmefiktion ist ebenso wie für die Klagerücknahmefiktion die Annahme, das Rechtsschutzbedürfnis des Berufungsklägers sei, wie sich aus seinem Verhalten ergebe, weggefallen (vgl B[X.] vom [X.], aaO, Rd[X.]8 ff mwN auch zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben). Zur Wahrung der Rechtsschutzgarantie des Art 19 Abs 4 [X.] haben § 102 Abs 2 und § 156 Abs 2 [X.]G Ausnahmecharakter und stellen zu deren Sicherung verfahrensrechtliche Anforderungen (vgl B[X.] vom [X.], aaO, Rd[X.] 42 f mwN). Die Aufforderung zum Betreiben (sog "Betreibensaufforderung") muss, um die aufgezeigten Rechtsfolgen nach sich zu ziehen, nicht nur eine entsprechende Fristsetzung enthalten, sondern vom [X.] verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet sein; die an den betroffenen Verfahrensbeteiligten zuzustellende Ausfertigung oder beglaubige Abschrift (§ 63 Abs 1 [X.]G) der Betreibensaufforderung muss durch Wiedergabe des vollen Namens des Richters erkennen lassen, dass die Betreibensaufforderung von ihm stammt (vgl B[X.] vom [X.], aaO, Rd[X.] 48 f).

7

Diesen Voraussetzungen wird der angefochtene Beschluss des L[X.] vom [X.] und das ihm vorausgegangene Verfahren gerecht. Die Betreibensaufforderung des L[X.] vom 2.6.2015 ist von dem Senatsvorsitzenden mit vollem Namen unterschrieben worden. Die beglaubigte Abschrift der Verfügung enthielt den Namen des Richters und ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit [X.] spätestens am 9.6.2015 zugestellt worden. Der Beschluss, der die Rücknahme der Berufung feststellt, datiert vom Freitag, den [X.].

8

Dass die Klägerin zwischenzeitlich das Verfahren in irgendeiner Form betrieben hat, ist der vorliegenden Akte des L[X.] nicht zu entnehmen, die Klägerin hat derartiges in ihrer Beschwerdebegründung auch nicht behauptet. Welche Mitwirkungshandlung von der Klägerin erwartet wurde, war der Betreibensaufforderung - nach den Angaben in der Beschwerdebegründung "natürlich" - zu entnehmen. Denn die Betreibensaufforderung bezog sich ausdrücklich auf die Aufklärungs- und Hinweisverfügung des L[X.] vom 27.3.2015, die mit der Frage endete, ob der Klägerin im strittigen Monat März 2010 Entgelt aus ihrer Beschäftigung ab [X.] zugeflossen sei. Im Übrigen war die Klägerin zuvor mit Verfügung vom 11.5.2015 an die Beantwortung dieser Aufklärungs- und Hinweisverfügung erinnert worden.

9

Entgegen der Beschwerdebegründung steht die Aufklärungs- und Hinweisverfügung der Annahme eines Wegfalls des [X.] wegen mangelnden Betreibens der Sache im Berufungsverfahren nicht entgegen. Denn auch wenn das L[X.], nachdem das [X.] zuvor festgestellt hat, die Klage sei durch Klagerücknahmefiktion erledigt (Urteil vom 14.9.2011), ausweislich der genannten Verfügung in eine Sachprüfung eintreten wollte, weil es Bedenken gegen die vom [X.] festgestellte Klagerücknahmefiktion hatte, schließt dies eine Berufungsrücknahmefiktion nicht aus. Denn diese beruht - wie dargestellt - auf der Annahme, aus dem Verhalten - oder besser dem "Nicht-Verhalten" oder dem [X.] - des Berufungsklägers sei der Wegfall seines [X.] abzuleiten. Diese Voraussetzung kann unabhängig vom Verlauf des erstinstanzlichen Verfahrens auch im Berufungsverfahren erfüllt sein, weil dem einschlägigen § 156 Abs 2 [X.]G eine dahingehende spezifische Einschränkung nicht zu entnehmen ist.

Im Übrigen kann, wenn das L[X.] eine längere Aufklärungs- und Hinweisverfügung an einen Beteiligten gesandt hat, die mit einer bestimmten Frage endete, dies bei dem betreffenden Beteiligten rein praktisch zum Wegfall seines ([X.] an dem Verfahren führen, weil er aus der ihm bekannten Antwort auf die Frage seine Erfolgschancen abschätzen kann. Bei einem Streit um Leistungen nach dem [X.] für März 2010, wie vorliegend, ist die Antwort auf die Frage nach dem Zufluss von Entgelt in diesem Monat möglicherweise streitentscheidend.

Weitere [X.] hat die Klägerin nicht erhoben und eine Prüfung anderer Verfahrensmängel von Amts wegen, zB die Entscheidung des Gerichts durch Beschluss nach § 153 Abs 4 [X.]G nach dem Antrag der Klägerin auf Fortführung des Verfahrens, ist im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde ausgeschlossen, wie sich aus dem Wortlaut des § 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G und den systematischen Zusammenhängen mit dem Revisionsverfahren (vgl dort zB § 170 Abs 1 Satz 2 [X.]G) ergibt (vgl schon [X.] vom [X.] 148.65 - [X.] 310 § 132 VwGO [X.] 50; Fichte in Breitkreuz/Fichte, [X.]G, 2. Aufl 2014, § 160a Rd[X.] 7; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], [X.]G, 11. Aufl 2014, § 160a Rd[X.] 16, 19).

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 [X.]G.

Meta

B 14 AS 105/16 B

19.10.2016

Bundessozialgericht 14. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Lüneburg, 14. September 2011, Az: S 23 AS 1158/11 WA, Urteil

§ 156 Abs 2 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 160a SGG, § 102 Abs 2 S 1 SGG, § 153 Abs 4 SGG, Art 19 Abs 4 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 19.10.2016, Az. B 14 AS 105/16 B (REWIS RS 2016, 3767)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 3767

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