Bundessozialgericht, Beschluss vom 14.05.2020, Az. B 14 AS 73/19 B

14. Senat | REWIS RS 2020, 2431

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Prozessurteil - Klagerücknahmefiktion - Untätigkeit des Klägers - Betreibensaufforderung - Zweifel am Fortbestehen des Rechtsschutzinteresses


Tenor

Auf die Beschwerden der Kläger wird das Urteil des [X.] vom 24. Januar 2019 - L 2 AS 199/18 - aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die Kläger wenden sich gegen eine vom [X.] bestätigte Feststellung des [X.], dass ihre Klagen gegen abschließende Bescheide zu Leistungen nach dem [X.]B II von Oktober 2010 bis September 2012 und [X.] mit einem Gesamtbetrag von 8256,83 Euro nach § 102 Abs 2 Satz 1 [X.]G als zurückgenommen gelten.

2

Grundlage der Entscheidung war eine Betreibensaufforderung vom [X.], nach der das Verfahren durch "Stellungnahme zu dem Protokoll vom 21.07.2015" betrieben werden sollte und die Klage als zurückgenommen gelte, wenn das Verfahren trotz Aufforderung länger als drei Monate ab Zustellung des Schreibens nicht betrieben sein sollte. Nach dem in Bezug genommenen Protokoll erörterte der [X.] im Rahmen eines Termins die Bescheidlage für den streitbefangenen Zweijahreszeitraum und divergierende Rechtsansichten der Beteiligten dazu und verkündete anschließend einen [X.] wie folgt:

3

"Der [X.]eite wird aufgegeben, für die einzelnen streitgegenständlichen Sechsmonatszeiträume darzulegen, was aus ihrer Sicht an Einnahmen und Ausgaben angefallen ist. Dabei soll auch dargestellt werden, was in den Anlagen zu den [X.] falsch sein soll.

4

Der Vorsitzende regt an, diesen Vortrag erst einmal nur auf den Widerspruchsbescheid zu beziehen, der zwischen den Beteiligten unstreitig hier in der Sache ergangen ist und wo nicht die Problematik besteht, ob hier die Klage mangels Widerspruchsbescheid überhaupt zulässig ist."

5

Auf die ihnen am 10.2.2016 zugestellte Betreibensaufforderung legten die Kläger mit am Folgetag beim [X.] eingegangen Schreiben vom [X.] für den Zeitraum von Ende Jan[X.]r bis Anfang April 2012 sowie betriebswirtschaftliche Auswertungen einer selbständigen Tätigkeit des [X.] zu 2 für März, Juni, September bis Dezember 2011 sowie Jan[X.]r bis März 2012 unter Ausweis jeweils der [X.] und der geltend gemachten Gesamtaufwendungen vor. Zudem machten sie Einwendungen gegen die Einkommensermittlung des Beklagten geltend, unter anderem unter Hinweis auf die nach ihrer Auffassung unzureichend berücksichtigte Beendung der Beschäftigung der Klägerin zu 1 im letzten streitbefangenen Q[X.]rtal.

6

Das [X.] forderte hierauf unter mehrfacher Erinnerung eine Stellungnahme des Beklagten an, gab den Beteiligten Gelegenheit zu weiteren Erklärungen und zur Vorlage zusätzlicher Unterlagen, unterbreitete einen übereinstimmend abgelehnten Vergleichsvorschlag und entschied sodann, dass die Klage "zurückgenommen ist". Dem innerhalb der gesetzten Frist eingegangenen Schriftsatz sei wieder kein "konkreter Vortrag" bezüglich der Einnahmen und Ausgaben in den jeweiligen [X.] zu entnehmen; die vorgelegten betriebswirtschaftlichen Auswertungen böten keine Übersicht für den Zeitraum von Oktober 2010 bis September 2012 (Urteil vom 28.11.2017).

7

Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des [X.] vom [X.] rügen die Kläger einen Verstoß gegen § 102 Abs 2 Satz 1 [X.]G, der im Berufungsverfahren durch die Zurückweisung ihrer Berufung gegen das Urteil des [X.] fortgewirkt habe.

8

II. Die Beschwerden der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des [X.] vom [X.] sind zulässig, denn sie haben mit ihnen eine Verletzung von § 102 Abs 2 Satz 1 [X.]G hinreichend bezeichnet (§ 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 [X.] [X.]G).

9

Die Beschwerden sind auch begründet. Die angefochtene Entscheidung beruht auf einem [X.], weil das [X.] zu Unrecht die Klagen aufgrund fingierter Klagerücknahme als erledigt und deshalb unzulässig angesehen hat und das Ergehen eines Prozessurteils anstatt des eigentlich angezeigten [X.] ein Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G ist (vgl zum Verfahrensmangel "Prozessurteil statt Sachurteil" bei Feststellung der Erledigung durch Berufungsrücknahme nur B[X.] vom 19.10.2016 - [X.] [X.]/16 B - RdNr 4; bei Klagerücknahme nach § 102 Abs 2 Satz 1 [X.]G; B[X.] vom 5.8.2018 - [X.] [X.] 50/17 B - RdNr 4). Der [X.] macht deshalb von seiner Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen (vgl § 160a Abs 5 [X.]G).

Nach § 102 Abs 2 Satz 1 [X.]G in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom [X.] ([X.]) gilt eine Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. In der sog Betreibensaufforderung ist der Kläger ([X.]) auf die sich aus Satz 1 ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen (§ 102 Abs 2 Satz 3 [X.]G). Die wirksame Fiktion der Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 102 Abs 2 Satz 2 iVm Abs 1 Satz 2 [X.]G).

Hiernach ist bereits offen, ob der Entscheidung des [X.] eine wirksame Mitwirkungsaufforderung als Voraussetzung für die Fiktion der Klagerücknahme zugrunde liegt. Schon formal gelten im Hinblick auf die einschneidenden Rechtsfolgen einer (erfolglosen) Betreibensaufforderung hohe Anforderungen (vgl nur B[X.] vom [X.] - B 13 R 58/09 R - B[X.]E 106, 254 = [X.]-1500 § 102 [X.], RdNr 49 mwN). Auch inhaltlich darf kein Zweifel darüber bestehen, was von dem Beteiligten erwartet wird (vgl zur Präklusionsvorschrift des § 296 Abs 1 ZPO nur [X.] vom 9.2.1982 - 1 BvR 1379/80 - [X.]E 60, 1, 6 f; zu § 102 Abs 2 [X.]G vgl nur [X.], [X.]b 2009, 458, 460 mwN; zu § 92 Abs 2 VwGO Clausing in [X.]/[X.]/Bier, VwGO, § 92 RdNr 7 - Stand Oktober 2014). Das ist hier bereits zeitlich fraglich, weil dem [X.] vom 21.7.2015 nicht ohne Weiteres zu entnehmen ist, für welchen Bewilligungszeitraum nach Ansicht des [X.] ein Widerspruchsbescheid "unstreitig hier in der Sache ergangen ist" und Angaben der Kläger deshalb "erst einmal" nur dazu gefordert waren. Nicht zweifelsfrei ist ebenso, ob die angeforderte Aufstellung der Kläger dazu, "was aus ihrer Sicht an Einnahmen und Ausgaben angefallen ist", Nachweise zu den Einzelbeträge enthalten oder ob für die zum Zeitpunkt des [X.]es offenkundig noch nicht als abschließend aufgefasste Erhebung zunächst eine Zusammenstellung der monatlichen Gesamterlöse und -aufwendungen des [X.] zu 2. wie für einzelne Monate vorgelegt ausreichen sollte.

Das kann indes dahinstehen, weil jedenfalls die Anforderungen an den Nachweis des fortbestehenden [X.] überspannt sind. Selbst wenn unterstellt wird, dass die Kläger im [X.] an den Erörterungstermin vom 21.7.2015 Zweifel an ihrem Interesse an der Fortführung des Klageverfahrens geweckt haben (vgl zu den Voraussetzungen dafür nur B[X.] vom 4.4.2017 - B 4 [X.]/16 R - B[X.]E 123, 62 = [X.]-1500 § 102 [X.], RdNr 27 ff mwN) - was der [X.] offen lässt -, bietet ihr Schriftsatz vom [X.] unter der gebotenen Berücksichtigung aller Umstände des Falls (vgl nur [X.] vom 17.9.2012 - 1 BvR 2254/11 - NVwZ 2013, 136 Rd[X.]4) keine hinreichende Grundlage für die Annahme, dass ein Rechtsschutzinteresse an der Fortführung des Verfahrens nicht mehr bestand.

Dagegen spricht seitens der Klägerin zu 1 schon der ausdrückliche Einwand, dass der Beklagte bei der abschließenden Bewilligung von Leistungen Einkommen berücksichtigt hat, das sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr bezogen habe. Im Hinblick auf den Kläger zu 2 stand zwischen den Beteiligten im [X.] die Frage im Streit, ob Aufwendungen für die von ihm behauptete und dem Beklagten in Zweifel gezogene Anschaffung eines Gabelstaplers in Höhe von geltend gemachten 10 000 Euro erlösmindernd zu berücksichtigen sind oder nicht; dazu war weiterer Vortrag offenkundig nicht erforderlich. Dass im Übrigen die vorgelegten betriebswirtschaftlichen Auswertungen vom Beklagten ihrer Art nach als ungeeignet zur Ermittlung des zu berücksichtigenden Einkommens des [X.] zu 2 angesehen worden wären, ist den Akten nicht zu entnehmen. Soweit sie teilweise verspätet vorgelegt worden sind, ist dies demgegenüber nicht ausschlaggebend. Der Zweck des § 102 Abs 2 Satz 1 [X.]G besteht nicht darin, den Kläger zu einer weiteren Substantiierung seines Klagebegehrens anzuhalten, sondern in der Klärung der aufgekommenen Zweifel am Fortbestehen des [X.] (vgl nur [X.] vom 17.9.2012 - 1 BvR 2254/11 - NVwZ 2013, 136 Rd[X.]2). Alleine die verzögerte Vorlage von Einkommensnachweisen rechtfertigt solche Zweifel angesichts der substantiierten Auseinandersetzung mit den streitbefangenen Bescheiden im Übrigen hier nicht.

Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung des [X.] vorbehalten.

Meta

B 14 AS 73/19 B

14.05.2020

Bundessozialgericht 14. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Düsseldorf, 28. November 2017, Az: S 40 AS 1639/13, Urteil

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 102 Abs 1 S 2 SGG, § 102 Abs 2 S 1 SGG, § 102 Abs 2 S 2 SGG, § 102 Abs 2 S 3 SGG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 14.05.2020, Az. B 14 AS 73/19 B (REWIS RS 2020, 2431)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 2431

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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1 BvR 2254/11

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