Bundessozialgericht, Urteil vom 19.10.2010, Az. B 14 AS 15/09 R

14. Senat | REWIS RS 2010, 2245

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Gegenstand

Arbeitslosengeld II - Unterkunft und Heizung - Angemessenheitsprüfung - Ermittlung der Angemessenheitsgrenze - schlüssiges Konzept - Datenerhebung und -auswertung nach mathematisch-statistischen Grundsätzen - bei fehlenden Erkenntnismöglichkeiten Anwendung der Wohngeldtabelle - getrennte Angemessenheitsprüfungen - Unzulässigkeit der Pauschalierung von Heizkosten


Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 11. Dezember 2008 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob den Klägern für den Zeitraum vom 1.6. bis 30.11.2006 höhere Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung zustehen.

2

Der 1959 geborene Kläger zu 1, die 1962 geborene Klägerin zu 2 und die 1998 geborene Klägerin zu 3 bewohnten eine 88,59 qm große Drei-Zimmer-[X.]ohnung in [X.] zur Miete. Seit Januar 2005 ist eine monatliche [X.] von 412 Euro zu entrichten (und ein [X.] von 120 Euro monatlich). Bereits mit Schreiben vom 8.12.2004 wurden die Kläger vom Beklagten aufgefordert, die Unterkunftskosten zu senken. Nachdem der Beklagte dann die Unterkunftskosten zunächst weiter übernahm, forderte er mit Schreiben vom 15.11.2005 die Kläger erneut zur Senkung der Unterkunftskosten bis zum [X.] auf. Die [X.] betrage 372 Euro monatlich (kalt).

3

Der Beklagte bewilligte den Klägern sodann für den Zeitraum vom 1.6. bis 30.11.2006 lediglich Leistungen, die eine [X.] von 372 Euro (nebst Heizkosten von monatlich 96,73 Euro) berücksichtigten. Zur Begründung führte der Beklagte aus, es hätten nur noch angemessene Kosten der Unterkunft in der bewilligten Höhe übernommen werden können (Bescheid vom 12.4.2006, [X.]iderspruchsbescheid vom 19.7.2006).

4

Das Sozialgericht ([X.]) hat auf die Klage durch Urteil vom [X.] den Beklagten verurteilt, den Klägern Kosten der Unterkunft in Höhe der rechten Spalte der Tabelle nach § 8 [X.]ohngeldgesetz ([X.]oGG) zuzüglich eines Zuschlags von [X.] (451 Euro monatlich ohne Heizkosten) zu gewähren. Die vom Beklagten vorgelegten Tabellen gäben die tatsächlichen Mietpreise in [X.] nicht wieder. Dementsprechend seien Unterkunftskosten zwar nicht in tatsächlicher, sondern in Höhe der Tabelle nach § 8 [X.]oGG nebst eines Zuschlags von [X.] zu gewähren.

5

Das [X.] ([X.]) hat durch Urteil vom 11.12.2008 den Beklagten auf dessen Berufung hin unter Änderung des Urteils des [X.] verurteilt, den Klägern für den Zeitraum vom 1.6. bis 30.11.2006 Leistungen unter Berücksichtigung von Kosten der Unterkunft in Höhe von monatlich 412 Euro sowie unter Berücksichtigung von Heizkosten in Höhe von 120 Euro im Monat zu gewähren. Im Übrigen hat es die Berufung des Beklagten zurückgewiesen.

6

Der Beklagte rügt mit seiner Revision eine Verletzung des § 22 Abs 1 Satz 1 des [X.] ([X.]B II). Er habe für die Bestimmung der angemessenen Unterkunftskosten nicht nur ein schlüssiges Konzept angewandt, sondern hieraus auch zutreffende Schlüsse gezogen.

7

Der Beklagte beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,
die Urteile des [X.] Niedersachsen-Bremen vom 11. Dezember 2008 und des [X.] vom 15. Mai 2007 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

8

Die Kläger beantragen nach ihrem schriftsätzlichen Vorbringen,
die Revision zurückzuweisen.

9

Sie halten die Ausführungen des [X.] für zutreffend.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz <[X.]G>) erklärt.

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des [X.] und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das [X.] begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Der [X.] kann auf Grund der vom [X.] festgestellten Tatsachen nicht abschließend beurteilen, ob der beklagte Grundsicherungsträger zur Feststellung der [X.] von einem schlüssigen Konzept ausgegangen ist und die [X.] ohne Rechtsfehler festgesetzt hat.

Gegenstand des Rechtsstreits ist der Bescheid des Beklagten vom 12.4.2006 in der Gestalt des [X.]iderspruchsbescheides vom 19.7.2006 nur noch insoweit, als mit diesem Bescheid Leistungen für Kosten der Unterkunft für den Zeitraum vom 1.6. bis 30.11.2006 geregelt werden.

Die Beteiligten haben den Streitgegenstand zulässigerweise auf die Kosten der Unterkunft beschränkt (ständige Rechtsprechung des [X.] seit [X.], 217 = [X.]-4200 § 22 [X.], Rd[X.]8 ff). Dies ist nach der ständigen Rechtsprechung der für die Grundsicherung für Arbeitsuchende zuständigen [X.]e des [X.] ([X.]) rechtlich zulässig. Eine weitere Begrenzung des Streitgegenstandes nur auf die Unterkunftskosten, ohne Berücksichtigung der Heizkosten, ist jedoch nicht möglich (vgl [X.] aaO, Rd[X.] 22).

Das [X.] hat den Beklagten verurteilt, den Klägern für den streitigen Zeitraum vom 1.6. bis 30.11.2006 Kosten der Unterkunft in Höhe von 412 Euro und Heizkosten in Höhe von 120 Euro monatlich zu bewilligen. Da die Kläger selbst keine Revision eingelegt haben, ist der Bescheid vom 12.4.2006 in der Gestalt des [X.]iderspruchsbescheides vom 19.7.2006 bestandskräftig geworden, soweit mit diesem Bescheid höhere Leistungen abgelehnt worden sind.

Die Kläger erfüllen die Anspruchsvoraussetzungen des § 7 SGB II bzw § 28 SGB II für Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Ihr Anspruch umfasst dem Grunde nach auch Leistungen für Kosten der Unterkunft. Diese werden gemäß § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind. Damit lässt sich der Gesetzgeber - anders als bei der pauschalierten Regelleistung - bei den Unterkunftskosten zunächst vom Prinzip der Einzelfallgerechtigkeit leiten, indem er anordnet, auf die tatsächlichen Unterkunftskosten abzustellen. Diese sind im Grundsatz zu erstatten. Allerdings sind die tatsächlichen Kosten nicht in beliebiger Höhe erstattungsfähig, sondern nur insoweit, als sie angemessen sind. Die [X.] limitiert somit die erstattungsfähigen Kosten der Höhe nach. Die [X.] ist nicht ins Belieben der Verwaltung gestellt. Vielmehr sind weitere Konkretisierungen erforderlich, die schon auf Grund des allgemeinen Gleichheitssatzes nach einheitlichen Kriterien erfolgen müssen. Zum anderen fordert das Rechtsstaatsprinzip die Verlässlichkeit und Vorhersehbarkeit der Begrenzung (vgl hierzu [X.], 192 = [X.]-4200 § 22 [X.], Rd[X.]2).

Zur Konkretisierung der [X.] wird nach der Rechtsprechung des [X.] in einem ersten Schritt die abstrakt angemessene [X.]ohnungsgröße und der [X.] bestimmt sowie in einem zweiten Schritt festgelegt, auf welchen räumlichen Vergleichsmaßstab für die weiteren [X.] abzustellen ist. Insoweit ist das Vorgehen des [X.] nicht zu beanstanden. Das [X.] hat in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des [X.] zur Bestimmung der Angemessenheit der [X.]ohnungsgröße auf die [X.]erte zurückgegriffen, welche die Länder auf Grund des § 10 des Gesetzes über die [X.] [X.]ohnraumförderung ([X.]) festgesetzt haben (vgl [X.], 254 = [X.]-4200 § 22 [X.] Rd[X.]9). Insoweit ist das [X.] unter Berücksichtigung der [X.]ohnraumförderbestimmungen nach [X.]1 der Richtlinie über die [X.] [X.]ohnraumförderung in [X.] ([X.]ohnraumförderungsbestimmungen vom 27.6.2003, [X.] 2003, 580, zuletzt geändert durch Runderlass vom 19.10.2006, [X.] 2006, 973) von einer für die Kläger abstrakt angemessenen [X.]ohnungsgröße von 75 qm ausgegangen. Auch bestehen keine Bedenken dagegen, die gesamte Fläche der Stadt [X.] als maßgeblichen Vergleichsraum zu berücksichtigen (vgl hierzu bereits [X.], 192 = [X.]-4200 § 22 [X.], Rd[X.]5).

Der [X.] kann indessen auf Grund der bisherigen Feststellungen des [X.] nicht beurteilen, welche [X.]ohnungsmieten im maßgeblichen Vergleichszeitraum in [X.] zu zahlen und welche davon als angemessen anzusehen sind.

Stehen die abstrakt angemessene [X.]ohnungsgröße und der maßgebliche Vergleichszeitraum fest, ist nach der Rechtsprechung des [X.] in einem dritten Schritt nach Maßgabe der Produkttheorie zu ermitteln, wie viel auf diesem [X.]ohnungsmarkt für eine einfache [X.]ohnung aufzuwenden ist, dh, Ziel der Ermittlung des Grundsicherungsträgers ist es, einen Quadratmeterpreis für [X.]ohnungen einfachen Standards zu ermitteln, um diesen nach Maßgabe der Produkttheorie mit der dem Hilfeempfänger zugestandenen Quadratmeterzahl zu multiplizieren und so die angemessene Miete feststellen zu können. Entscheidend ist hierbei, dass den Feststellungen des Grundsicherungsträgers ein Konzept zu Grunde liegt, das im Interesse der Überprüfbarkeit des Ergebnisses schlüssig ist. Die Begrenzung der tatsächlichen Unterkunftskosten auf ein "angemessenes Maß" soll auf diese [X.]eise hinreichend nachvollziehbar gemacht werden.

Der 4. [X.] des [X.] hat das dem vorliegenden Rechtsstreit zu Grunde liegende Konzept des Beklagten, der sich nicht auf einen qualifizierten Mietspiegel stützen kann (vgl zur Erstellung eines schlüssigen Konzepts auf der Basis der Daten eines Mietspiegels die Urteile des [X.]s vom 19.10.2010 - [X.] [X.]/09 R; [X.] [X.]/10 R; [X.] AS 50/10 R), bereits einer eingehenden rechtlichen Überprüfung unterzogen (Urteil vom 22.9.2009 - [X.] AS 18/09 R = [X.], 192 = [X.]-4200 § 22 [X.] Rd[X.]9 ff). Der erkennende [X.] macht sich insoweit für den vorliegenden Parallelfall die Rechtsauffassung des 4. [X.]s des [X.] zum sog schlüssigen Konzept zu Eigen und verweist insoweit auf dessen Ausführungen unter Rd[X.]9 ff des zitierten Urteils vom 22.9.2009.

Der erkennende [X.] teilt auch die Rechtsauffassung des 4. [X.]s hinsichtlich der Rechtsfolgen aus dem Nichtvorliegen eines schlüssigen Konzepts seitens der beklagten Stadt [X.] Diese hat zwar Daten über Mietpreise und den [X.]ohnungsbestand erhoben, es kann jedoch nicht beurteilt werden, ob aus diesem Datenbestand zutreffende Schlüsse auf die [X.] gezogen werden können. Solche Rückschlüsse setzen voraus, dass nachvollziehbar ist, welche [X.]ohnungen in die Datenerhebung einbezogen wurden. Schon hieran fehlt es im vorliegenden Fall. Das [X.] wird daher prüfen müssen, nach welchen Kriterien der beklagte Grundsicherungsträger die von ihm ausgewerteten Daten erhoben hat, insbesondere welche [X.]ohnungen dabei berücksichtigt wurden. Ergeben diese Ermittlungen eine brauchbare Datengrundlage, wird das [X.] möglicherweise in die Lage versetzt, eine [X.] selbst zu bestimmen. Ist dies nicht möglich, so ist nach der Rechtsprechung des [X.] auf die [X.]erte der [X.]ohngeldtabelle (rechte Spalte) zu § 8 [X.]oGG zuzüglich eines Zuschlags abzustellen (grundlegend [X.] Urteil vom 17.12.2009 - [X.] AS 50/09 R = [X.]-4200 § 22 [X.] 29; vgl auch Urteil des [X.]s vom 20.8.2009 - [X.] [X.]/08 R = [X.]-4200 § 22 [X.] 26, insbesondere Rd[X.] 21).

Das [X.] wird auch unabhängig vom Vorliegen eines schlüssigen Konzepts hinsichtlich der Kosten der Unterkunft eine abschließende Entscheidung über die Angemessenheit der Höhe der Heizkosten zu treffen haben (grundlegend Urteil des [X.]s vom [X.] - [X.] [X.]/06 R = [X.], 41 = [X.]-4200 § 22 [X.] 23). Das [X.] hat - soweit ersichtlich - den Beklagten verurteilt, die tatsächlich monatlich anfallenden Heizkosten in Höhe von 120 Euro zu übernehmen. Dies entspricht vom Ansatzpunkt her der Rechtslage und der Rechtsprechung des [X.] ([X.] aaO). Der Anspruch auf Heizkosten gemäß § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II besteht zunächst jeweils in Höhe der konkret individuell geltend gemachten Aufwendungen. Eine Pauschalierung ist unzulässig. Nur wenn die Heizkosten über einem aus einem bundesweiten oder kommunalen Heizspiegel zu ermittelnden Grenzbetrag liegen, sind sie im Regelfall nicht mehr als angemessen zu betrachten (zur Ermittlung des [X.]ertes aus diesem sog bundesweiten Heizspiegel vgl [X.] aaO, Rd[X.] 22 ff).

Das [X.] wird auch abschließend über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 14 AS 15/09 R

19.10.2010

Bundessozialgericht 14. Senat

Urteil

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Oldenburg (Oldenburg), 15. Mai 2007, Az: S 49 AS 1002/06, Urteil

§ 22 Abs 1 S 1 SGB 2, § 10 WoFG, VVND-23400-MS-20030627-SF

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 19.10.2010, Az. B 14 AS 15/09 R (REWIS RS 2010, 2245)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 2245

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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