Bundesfinanzhof, Beschluss vom 29.10.2015, Az. X B 55/15

10. Senat | REWIS RS 2015, 3068

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Gegenstand

Überraschungsentscheidung bei nicht durchgeführter Beweiserhebung - Absehen von einer Begründung


Leitsatz

NV: Lädt das Gericht einen Zeugen und gibt dies den Beteiligten bekannt, vernimmt den Zeugen jedoch ohne Hinweis auf eine geänderte Rechtsansicht nicht, so liegt eine Überraschungsentscheidung vor; dies gilt auch, wenn für einen Prozessbeteiligten niemand zur mündlichen Verhandlung erschienen ist.

Tenor

Auf die Beschwerde der Kläger wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des [X.] vom 25. Februar 2015  15 K 27/13 E,[X.],F aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Tatbestand

1

I. Die Kläger und [X.]eschwerdeführer (Kläger) sind verheiratet und werden im Streitjahr 2007 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Sie betrieben einen gewerblichen [X.]rundstückshandel.

2

Die Kläger machten erhebliche Kosten im Rahmen verschiedener Objekte in [X.], [X.] und [X.] geltend, die nach [X.]nsicht der Prüferin der Steuerfahndung (Steufa) nicht als [X.]etriebsausgaben abziehbar waren. [X.]us ihrer Sicht lagen insoweit Scheinrechnungen vor. Der Empfänger der [X.]usgaben, eine [X.]mbH aus [X.], sei nicht genau benannt worden. Eine Prüfung der Existenz, Identität und tatsächlichen wirtschaftlichen [X.]ktivität der [X.]mbH sei nicht möglich gewesen. Internetrecherchen hätten ergeben, die [X.]mbH habe es nur bis ca. Ende 1999 gegeben. Sämtliche Rechnungen seien bar bezahlt worden. [X.]ls Entgeltempfänger werde auf den Quittungen ein [X.] genannt. Dessen Identität sowie seine [X.]eschäftsbeziehung, Handels- und Empfangsbevollmächtigung für die [X.]mbH seien nicht nachgewiesen worden. Die angegebene Steuernummer der [X.]mbH existiere im Übrigen nicht.

3

[X.]ufgrund dieser [X.]eststellungen der Steufa änderte der [X.]eklagte und [X.]eschwerdegegner (das [X.]inanzamt --[X.][X.]--) die Einkommensteuerfestsetzung des [X.] und des [X.]olgejahres 2008, den [X.]escheid über die gesonderte [X.]eststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer auf den 31. Dezember 2007, die [X.]ewerbesteuermessbetragsbescheide des [X.]etriebs der Klägerin für das Streitjahr und das [X.], den [X.]escheid über die gesonderte [X.]eststellung des vortragsfähigen [X.] auf den 31. Dezember 2008 sowie die entsprechenden [X.]ewerbesteuermessbetragsbescheide des [X.]etriebs des Klägers für diese Jahre.

4

Die Einspruchsverfahren blieben erfolglos. Zwar hätten die Kläger weitere Einzelheiten zur Person des [X.] mitgeteilt. Das [X.][X.] wies die Einsprüche jedoch unter [X.]nwendung des § 160 der [X.]bgabenordnung ([X.]) als unbegründet zurück.

5

Die Klage, welche das [X.]inanzgericht ([X.]) als nur gegen die [X.]escheide des [X.] anhängig ansah, wurde durch Urteil vom 25. [X.]ebruar 2015  15 K 27/13 E,[X.],[X.] als unbegründet abgewiesen. Das [X.] war aufgrund der im Einzelnen dargelegten Umstände der [X.]nsicht, die Voraussetzungen des [X.]etriebsausgabenabzugs lägen bereits nicht vor. [X.]uf die Regelungen des § 160 [X.] käme es deshalb nicht (mehr) an. Nach seiner Überzeugung fehle es am Vorliegen eines Leistungsbezugs zur [X.]mbH. Darüber hinaus hätten die Kläger trotz [X.]usschlussfristsetzung versäumt, die Einzelheiten der behaupteten Leistungen darzulegen. [X.]uch sei das [X.] nicht überzeugt, dass die Kläger die in Rechnung gestellten [X.]eträge an die [X.]mbH gezahlt hätten.

6

Das [X.] hat am 11. [X.]ebruar 2015 [X.] als Zeugen geladen und dies auch den Parteien zur Kenntnis gebracht. Der Zeuge wurde jedoch, obwohl bei der mündlichen Verhandlung anwesend, nicht gehört. [X.]ründe hierfür finden sich im [X.]erichtsprotokoll der mündlichen Verhandlung nicht. Zur mündlichen Verhandlung war für die Kläger niemand erschienen.

7

Die Kläger machen mit ihrer [X.]eschwerde Verfahrensmängel geltend. [X.]. habe das [X.] [X.], obwohl geladen und anwesend, nicht befragt.

8

Das [X.][X.] tritt der [X.]eschwerde entgegen und hält diese für unzulässig.

Entscheidungsgründe

9

II. 1. Nach § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) kann der [X.] ([X.]) das angefochtene Urteil aufheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O vorliegen. Ein Verfahrensfehler im Sinne der letztgenannten Vorschrift liegt vor, wenn die Entscheidung des [X.] auf einer unzulässigen Überraschungsentscheidung beruht. Dies ist hier der Fall.

a) Dieser Verfahrensmangel wird von den Klägern auch geltend gemacht, indem sie darauf hinweisen, dass das [X.] [X.], obwohl geladen und anwesend, nicht befragt habe.

b) Das [X.] hat Verfahrensrechte der Kläger verletzt, indem es ihnen vor Erlass des Urteils nicht mit der erforderlichen Klarheit zu erkennen gegeben hat, dass es nicht mehr (unbedingt) beabsichtige, [X.] als Zeugen zu hören.

aa) Nach der Rechtsprechung des [X.] entsteht durch einen (ggf. förmlichen) Beweisbeschluss eine Verfahrenslage, auf welche die Beteiligten ihre Prozessführung einrichten dürfen. Sie können grundsätzlich davon ausgehen, dass das Urteil nicht ergehen wird, bevor der Beweis vollständig erhoben worden ist. Zwar ist das Gericht nicht verpflichtet, eine Beweisaufnahme in vollem Umfang durchzuführen. [X.] es von einer (weiteren) Beweisaufnahme absehen, muss es aber vor Erlass des Urteils die von ihm geschaffene Prozesslage wieder beseitigen. Dazu hat es für die Beteiligten unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen, dass es den Beweis als nicht mehr nötig erachtet und somit einen (ggf. förmlichen) Beweisbeschluss als erledigt betrachtet (vgl. Senatsbeschluss vom 19. Januar 2012 [X.]4/10, [X.]/NV 2012, 958, m.w.N.). Andernfalls liegt eine Überraschungsentscheidung vor ([X.]-Beschluss vom 19. September 2014 I[X.]101/13, [X.]/NV 2015, 214).

bb) Im Streitfall hat das [X.] angeordnet, [X.] als Zeugen zu vernehmen, indem es ihn zur mündlichen Verhandlung geladen und die Beteiligten hiervon in Kenntnis gesetzt hat. In der mündlichen Verhandlung vom 25. Februar 2015 wurde der anwesende Zeuge jedoch nicht gehört. Da für die Kläger zu dieser Verhandlung niemand erschienen war, erlangten sie von einem ggf. erteilten, aber jedenfalls nicht protokollierten Hinweis, dass es nicht zur Vernehmung des Zeugen komme, nicht rechtzeitig Kenntnis. Somit wurde ein zur Vermeidung einer Überraschungsentscheidung gebotener rechtlicher Hinweis jedenfalls den Klägern nicht erteilt.

cc) Ein solcher Hinweis kann entbehrlich sein. Hierfür genügt jedoch nicht, dass die Beteiligten allgemein in Betracht ziehen müssen, das [X.] werde von der Beweisaufnahme absehen. Denn das [X.] hat durch den Beweisbeschluss eine Verfahrenslage geschaffen, auf welche die Beteiligten ihre Prozessführung einrichten dürfen. Sie können daher grundsätzlich davon ausgehen, dass das Urteil nicht eher ergehen wird, bis der Beweisbeschluss vollständig ausgeführt ist ([X.]-Beschluss vom 27. August 2010 III B 113/09, [X.]/NV 2010, 2292). Abweichendes kann nur gelten, wenn das Gericht zu Recht davon ausgehen kann, es sei auch aus der Sicht der Beteiligten zweifelsfrei, dass sich eine angeordnete Beweisaufnahme erledigt habe, ohne dass es eines entsprechenden gerichtlichen Hinweises bedürfe. Von einer solchen Erledigung durfte das [X.] im Streitfall nicht ausgehen. Der Beweisbeschluss ist auch nicht "vorsorglich" erlassen worden – einen solchen Zusatz erhält er nicht.

dd) Der vorherige Hinweis an die Kläger ist auch nicht deshalb entbehrlich, weil diese der anberaumten mündlichen Verhandlung ferngeblieben sind. Hierdurch haben sie ihr Recht zur Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht verloren.

(1) Denn es liegt ein Fall einer wesentlichen Änderung der maßgeblichen Prozesssituation vor, die das rechtliche Gehör nicht entfallen lässt (weiterführend: Senatsbeschluss in [X.]/NV 2012, 958, unter [X.], m.w.N.). Vielmehr hat das [X.] durch den erlassenen Beweisbeschluss einen Vertrauenstatbestand des Inhalts geschaffen, es werde die Beweisaufnahme auf alle Fälle wie angeordnet durchführen.

(2) Ihr Rügerecht i.S. des § 295 der Zivilprozessordnung i.V.m. § 155 [X.]O haben die Kläger nicht verloren. Die Nichtteilnahme des Antragstellers an der mündlichen Verhandlung bewirkt dies nicht (vgl. weiterführend Senatsbeschluss in [X.]/NV 2012, 958, unter [X.], m.w.N.).

2. Weil das Urteil bereits aufgrund dieses [X.] keinen Bestand haben kann, bedarf es keines [X.] auf das weitere Vorbringen der Kläger.

3. Der Senat hält es für geboten, gemäß § 116 Abs. 6 [X.]O zu verfahren.

4. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das [X.] beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

5. Von einer weiteren Darstellung des Sachverhalts sowie einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 [X.]O ab, der auch für den Beschluss nach § 116 Abs. 6 [X.]O gilt (vgl. [X.]-Beschluss vom 26. Januar 2001 VI B 156/00, [X.]/NV 2001, 808).

Meta

X B 55/15

29.10.2015

Bundesfinanzhof 10. Senat

Beschluss

vorgehend FG Düsseldorf, 25. Februar 2015, Az: 15 K 27/13 E,G,F, Urteil

§ 119 Nr 3 FGO, Art 103 Abs 1 GG, § 116 Abs 6 FGO, § 116 Abs 5 S 2 FGO, § 155 FGO, § 295 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 29.10.2015, Az. X B 55/15 (REWIS RS 2015, 3068)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 3068

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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