Bundesfinanzhof, Beschluss vom 22.07.2010, Az. V S 8/10

5. Senat | REWIS RS 2010, 4504

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Gegenstand

Vertretungszwang bei Erhebung der Anhörungsrüge - Keine verfassungsrechtlichen Bedenken - Kein Verstoß gegen EU-Grundrechte-Charta - Folgen einer Verletzung des Zitiergebots


Leitsatz

1. NV: Gegen den Vertretungszwang des § 62 Abs. 4 FGO bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken, insbesondere liegt darin kein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör .

2. NV: § 62 Abs. 4 FGO stellt keinen Verstoß gegen Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dar .

Tatbestand

1

I. Mit Beschluss vom 1. April 2010 ([X.]/10) hat der [X.] ([X.]) die Beschwerde des [X.], Beschwerdeführers und [X.] (Kläger) gegen die Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des [X.] ([X.]) vom 26. Januar 2010  6 K 1859/09 als unzulässig verworfen, weil der Kläger nicht durch eine zur Vertretung vor dem [X.] berechtigte Person oder Gesellschaft vertreten war.

2

Gegen diesen Beschluss wendet sich der Kläger. Er macht geltend, alle [X.] Rechtsnormen, die einen Vertretungszwang vorsähen, seien seit dem Inkrafttreten des [X.] unwirksam. Der Kläger beruft sich insoweit auf Art. 47 der [X.], der in Abs. 2 bestimmt, dass sich vor Gericht jede Person beraten, verteidigen und vertreten lassen kann. Aus der Formulierung "kann" leitet der Kläger her, dass keine Verpflichtung zu einer Vertretung bestehe.

3

Er beantragt außerdem, das Verfahren an das zuständige Amtsgericht abzugeben.

Entscheidungsgründe

4

II. Die Einwendungen des [X.] sind als Anhörungsrüge (§ 133a der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--) auszulegen; diese ist unzulässig.

5

1. Vor dem [X.] muss sich jeder Beteiligte --sofern es sich nicht um eine juristische Person des öffentlichen Rechts oder um eine Behörde handelt-- durch einen Rechtsanwalt, Steuerberater, Steuerbevollmächtigten, Wirtschaftsprüfer oder vereidigten Buchprüfer als Bevollmächtigten bzw. durch Gesellschaften i.S. des § 3 Nrn. 2 und 3 des [X.], die durch solche Personen handeln, vertreten lassen (§ 62 Abs. 4 [X.]O). Gegen diesen [X.] bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken, insbesondere liegt darin kein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör (Beschluss des [X.] vom 20. August 1992  2 BvR 1000/92, [X.] 1992, 729 zur [X.]. 1 Nr. 1 des [X.] des [X.]; [X.]-Beschluss vom 12. November 2008 [X.]/08, Zeitschrift für Steuern und Recht 2009, R 44).

6

a) Der [X.] gilt auch für die Erhebung der Anhörungsrüge, wenn für die beanstandete Entscheidung ihrerseits [X.] galt (vgl. z.B. [X.]-Beschlüsse vom 27. Mai 2009 [X.], nicht veröffentlicht, juris; vom 29. Juni 2005 [X.], [X.]/NV 2005, 1848). Diese Voraussetzung ist im Streitfall gegeben.

7

Der beanstandete Beschluss vom 1. April 2010 betraf die Beschwerde des [X.] gegen die Nichtzulassung der Revision durch das [X.]. In einem solchen Verfahren gilt nach § 62 Abs. 4 [X.]O der [X.].

8

b) § 62 Abs. 4 [X.]O stellt keinen Verstoß gegen Art. 47 Abs. 2 der [X.] dar. Danach kann sich jede Person beraten, verteidigen und vertreten lassen. Mit dieser Bestimmung wird dem Einzelnen das Recht eingeräumt, sich vor Gericht vertreten zu lassen. Das ergibt sich schon daraus, dass Art. 47 der [X.] in Titel VI "Justizielle Rechte" geregelt ist. Das Recht, sich beraten, verteidigen und vertreten zu lassen (vgl. hierzu [X.], [X.], 2. Aufl., [X.] 2006, Art. 47 Rz 37) nimmt den Mitgliedstaaten aber nicht die Möglichkeit, aus verfahrensökonomischen Gründen vor bestimmten Gerichten einen [X.] vorzusehen (vgl. [X.] in Tettinger/[X.], [X.], [X.], 2006, Art. 47 Rz 72).

9

2. Eine Verweisung an "das zuständige Amtsgericht" kommt nicht in Betracht. Im Urteil des Hessischen [X.] vom 26. Januar 2010  6 K 1859/09 ging es um die Umsatzsteuer 2006. Gemäß § 33 Abs. 1 Nr. 1 [X.]O ist in öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten über Abgabenangelegenheiten der [X.] gegeben. Abgabenangelegenheiten sind gemäß § 33 Abs. 2 [X.]O alle mit der Verwaltung der Abgaben einschließlich der Abgabenvergütungen oder sonst mit der Anwendung der abgabenrechtlichen Vorschriften durch die Finanzbehörden zusammenhängenden Angelegenheiten einschließlich der Maßnahmen der [X.] zur Beachtung der Verbote und Beschränkungen für den Warenverkehr über die Grenze; den Abgabenangelegenheiten stehen die Angelegenheiten der Verwaltung der [X.] gleich. Beim Streit über Umsatzsteuerbescheide handelt es sich um Abgabenangelegenheiten in diesem Sinn.

Hieran ändert die Auffassung des [X.], die [X.]O sei wegen Verstoßes gegen das Zitiergebot nichtig, nichts. Selbst wenn einzelne Vorschriften der [X.]O gegen das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes verstoßen würden, ergäbe sich hieraus nur eine Teilnichtigkeit der [X.]O im Hinblick auf die in Grundrechte eingreifenden Vorschriften, nicht aber eine weiter gehende Nichtigkeit anderer Vorschriften der [X.]O, die nicht dem Zitiergebot unterliegen. Denn die Verletzung des [X.] durch eine einzelne Vorschrift eines Gesetzes begründet nur die Nichtigkeit dieser Vorschrift des Gesetzes (vgl. [X.] in [X.]/[X.], [X.], 5. Aufl. 2005, Art. 19 Rz 103; Dreier, [X.], 2. Aufl. 2004, Art. 1 Rz 28; [X.] in [X.]/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band V, 2. Aufl. 2000, § 122 Rz 42: [X.]-Beschluss vom 9. Januar 2009 [X.], [X.]/NV 2009, 801). Eine Nichtigkeit des gesamten Gesetzes kommt nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen nur in Betracht, wenn der ungültige Gesetzesteil mit dem Gesetz im Übrigen derart verflochten ist, dass beide eine untrennbare Einheit bilden (vgl. allgemein Urteil des [X.] vom 19. März 2003  2 [X.], 2 [X.], 2 [X.], 2 BvL 12/98, [X.] 108, 1). Es gibt keinen Anhaltspunkt, dass die [X.] des § 33 [X.]O in Grundrechte eingreifen oder mit in Grundrechte eingreifenden Vorschriften im o.g. Sinne verflochten sind.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf Nr. 6400 des [X.] zum Gerichtskostengesetz --GKG-- (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG - Kostenverzeichnis).

Meta

V S 8/10

22.07.2010

Bundesfinanzhof 5. Senat

Beschluss

vorgehend BFH, 1. April 2010, Az: V B 16/10, Beschluss

Art 47 Abs 2 EUGrdRCh, § 62 Abs 4 FGO vom 12.12.2007, § 133a FGO, Art 103 Abs 1 GG, Art 19 Abs 1 S 2 GG

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 22.07.2010, Az. V S 8/10 (REWIS RS 2010, 4504)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 4504

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Anhörungsrüge und Gegenvorstellung


Referenzen
Wird zitiert von

B 5 R 378/14 B

B 5 R 66/11 B

20 CE 16.1096

4 CS 16.217

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