Bundesfinanzhof, Urteil vom 06.02.2013, Az. X K 11/12

10. Senat | REWIS RS 2013, 8398

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Vertretungszwang auch bei Entschädigungsklagen - Vereinbarkeit des Vertretungszwangs mit höherrangigem Recht


Leitsatz

1. Der Vertretungszwang gemäß § 62 Abs. 4 FGO gilt auch bei Entschädigungsklagen wegen überlanger Verfahrensdauer nach § 198 GVG, für die in Bezug auf finanzgerichtliche Verfahren ausschließlich der BFH zuständig ist (§ 155 Satz 2 FGO) .

2. Der Vertretungszwang verstößt nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere nicht gegen Art. 6 EMRK .

Tatbestand

1

I. Mit Schreiben vom 16. Oktober 2012 hat der Kläger, der nicht zu den in § 62 Abs. 2 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung ([X.]) bezeichneten Personen gehört, beantragt, das [X.] zu verurteilen, ihm wegen der unangemessenen Dauer des von ihm geführten finanzgerichtlichen Verfahrens 4 K 4012/11 eine Entschädigung zu gewähren. Er wurde durch das Schreiben der Geschäftsstelle des für Entschädigungsklagen zuständigen Senats des [X.] ([X.]) vom 29. Oktober 2012 darauf hingewiesen, dass wegen des beim [X.] bestehenden Vertretungszwangs bereits die Klageschrift von einer vertretungsberechtigten Person oder Gesellschaft verfasst sein müsse, da die Klage ansonsten unzulässig sei.

2

Der Kläger ist demgegenüber der Auffassung, wegen der nicht besonders komplizierten Materie bestehe kein Grund für einen Vertretungszwang. Der [X.] habe zudem gemäß § 155 Satz 2 [X.] in den Entschädigungsklagen gemäß §§ 198 ff. des Gerichtsverfassungsgesetzes (--GVG--; eingefügt durch Art. 1 des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren --ÜberlVfRSchG-- vom 24. November 2011, [X.], 2302) die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug anzuwenden. Da nach der [X.] grundsätzlich kein Vertretungszwang in Verfahren der ersten Instanz bestehe, könne kein Vertretungszwang gelten. Dieser verstoße ohnehin gegen Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ([X.]).

Entscheidungsgründe

3

II. [X.]ie [X.] ist unzulässig.

4

1. Sie wurde nicht von einer postulationsfähigen Person oder Gesellschaft erhoben.

5

a) Vor dem [X.] muss sich jeder Beteiligte, sofern es sich nicht um eine juristische Person des öffentlichen Rechts oder um eine Behörde handelt, durch einen Rechtsanwalt, Steuerberater, Steuerbevollmächtigten, Wirtschaftsprüfer oder vereidigten Buchprüfer als Bevollmächtigten vertreten lassen; zur Vertretung berechtigt sind auch Gesellschaften i.S. des § 3 Nr. 2 und 3 des [X.], die durch solche Personen handeln (§ 62 Abs. 4 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 FGO).

6

b) [X.]ieser [X.] gilt auch bei [X.]n wegen überlanger Verfahrensdauer gemäß §§ 198 ff. [X.], für die in Bezug auf die finanzgerichtlichen Verfahren ausschließlich der [X.] zuständig ist (§ 155 Satz 2 FGO). Auch bei den [X.]n sind die allgemeinen Verfahrensvorschriften des [X.], zu denen der in § 62 Abs. 4 FGO geregelte [X.] gehört, anzuwenden (allgemeine Meinung, vgl. [X.]/[X.], Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, Teil 2 E. § 155 Rz 9; [X.] in Tipke/ [X.], Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 155 FGO Rz 17; Schwarz in [X.]/[X.]/[X.], § 155 FGO Rz 129; [X.]/ [X.], Steuerberatung 2012, 7; [X.], juris [X.] Steuerrecht 48/2012, [X.]. 4, [X.]; siehe ausdrücklich zum [X.] bei [X.] vor den [X.] und dem [X.] Gesetzentwurf des ÜberlVfRSchG, BT[X.]rucks 17/3802, 25). [X.]ie in § 155 Satz 2 Halbsatz 2 FGO angeordnete entsprechende Anwendung der Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug bezieht sich nur auf die §§ 63 bis 94a FGO. [X.]iese explizite Anordnung war notwendig geworden, weil der [X.] bislang erstinstanzlich nicht zuständig war.

7

2. Entgegen der Auffassung des [X.] verstößt der in § 62 Abs. 4 FGO normierte [X.] nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere nicht gegen Art. 6 [X.].

8

a) Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 [X.] hat jede Person ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen von einem unabhängigen Gericht in einem fairen Verfahren in angemessener Frist verhandelt wird. [X.]urch den [X.] des § 62 Abs. 4 FGO wird Art. 6 Abs. 1 [X.] --unbeschadet der Frage, ob diese Regelung auf [X.]n gemäß §§ 198 ff. [X.] überhaupt anwendbar ist-- nicht verletzt.

9

aa) Es ist anerkannt, dass der Zugang zum Gericht durch Art. 6 Abs. 1 [X.] nicht absolut gewährleistet wird (so Urteil des [X.] --[X.]-- vom 21. Februar 1975  4451/70 --Golder/[X.], [X.] Grundrechte Zeitschrift --EuGRZ-- 1975, 91), sondern inhärenten Beschränkungen unterliegt ([X.] in [X.]/ [X.], [X.]-Kommentar, 3. Aufl., Art. 6 Rz 64). [X.]abei darf jedoch die in Art. 6 [X.] gegebene Garantie nicht in ihrem Wesensgehalt angetastet werden ([X.] vom 28. Mai 1985  8225/78 --Ashingdane/[X.], [X.], 8, Rz 57, und vom 10. Mai 2001  29392/95 --Z u.a./[X.], Zentralblatt für Jugendrecht 2005, 154, Rz 93). [X.]ie Beschränkungen müssen im Interesse einer geordneten Rechtspflege erforderlich sein, ein berechtigtes Ziel verfolgen und verhältnismäßig sein ([X.] vom 18. Februar 1999  26083/94 --Waite u. [X.]/[X.]eutschland--, [X.] 1999, 1173, Rz 59; [X.], [X.], Handkommentar, 3. Aufl., Art. 6 Rz 37).

bb) [X.]er vor dem [X.] bestehende [X.] dient zum einen dem Schutz des Gerichts vor einer Belastung mit Rechtsmitteln, deren Erfolgsaussichten die Beteiligten nach ihrer Vorbildung nicht richtig einzuschätzen in der Lage sind und folglich auch nicht richtig und fachkundig zu führen wissen; zum anderen kommt er aber auch dem Schutz der Rechtssuchenden zugute, die sich durch einen Angehörigen der in § 62 Abs. 2 Satz 1 FGO genannten Berufsgruppen vertreten lassen müssen ([X.]-Beschluss vom 19. Januar 2012 VI B 98/11, [X.]/NV 2012, 759, m.w.N.). [X.]ie Einschränkung des Zugangs zum Gericht durch den [X.] wird zudem dadurch gemildert, dass ein Steuerpflichtiger bei Bedürftigkeit Anspruch auf Prozesskostenhilfe gemäß § 142 FGO i.V.m. § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO) hat und ihm für den Fall, dass er keinen zur Vertretung bereiten Prozessbevollmächtigten findet, ein Notanwalt gemäß § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 78b ZPO beizuordnen ist.

[X.]er Anwaltszwang für bestimmte Verfahren bzw. bei bestimmten Gerichten ist auch vom [X.] als unbedenklich angesehen worden (vgl. Urteile vom 24. November 1986  9063/80 --Gillow/ [X.], Entscheidungen des [X.] 3, 306, Rz 69, und vom 10. Mai 2007  76680/01 --A.S./[X.]eutschland--, juris, Rz 107 ff.). [X.]as gilt nicht nur für Berufungs- oder Revisionsverfahren, sondern auch für den [X.] in einem --wie im Streitfall gegebenen-- erstinstanzlichen Verfahren (vgl. die bei [X.]/ [X.], a.a.O., Art. 6 Rz 65 in Fußnote 191 zitierte [X.]-Rechtsprechung).

b) [X.]er [X.] ist verfassungsgemäß. Er verstößt nicht gegen die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG), da die Anrufung des [X.] dadurch weder unzumutbar noch in sachlich nicht zu rechtfertigender Weise erschwert wird (vgl. jüngst [X.]-Beschluss in [X.]/NV 2012, 759, m.w.N., sowie Beschluss des [X.] vom 11. Oktober 1976  1 BvR 373/76, [X.] --[X.]-- 1977, 33). Auch wird der Kläger durch § 62 Abs. 4 FGO nicht in unzulässiger Weise in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG eingeschränkt, da der [X.] der Funktionsfähigkeit des [X.] sowie dem Schutz des Steuerpflichtigen dient (ständige [X.]-Rechtsprechung, vgl. u.a. [X.]-Beschluss in [X.]/NV 2012, 759, m.w.N.; siehe auch oben unter [X.]). § 62 Abs. 4 FGO verletzt ebenfalls nicht den Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG), denn der [X.] erweist sich aufgrund des mit ihm verbundenen [X.] "als nicht sachlich ungerechtfertigt" (BVerfG-Beschluss vom 20. August 1992  2 BvR 1000/92, [X.] 1992, 729 zur [X.]. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Entlastung des [X.]; [X.]-Beschlüsse in [X.]/NV 2012, 759, und vom 12. November 2008 [X.], Zeitschrift für Steuern und Recht 2009, R44).

c) Nach ständiger Rechtsprechung des [X.] führt § 62 Abs. 4 FGO auch zu keinem Verstoß gegen Art. 47 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der [X.]n Union. [X.]anach kann sich jede Person beraten, verteidigen und vertreten lassen. Mit dieser Bestimmung wird dem Einzelnen das Recht eingeräumt, sich vor Gericht vertreten zu lassen. [X.]as Recht, sich beraten, verteidigen und vertreten zu lassen, nimmt den Mitgliedstaaten jedoch nicht die Möglichkeit, aus verfahrensökonomischen Gründen vor bestimmten Gerichten einen [X.] vorzusehen (siehe [X.]-Beschlüsse vom 22. Juli 2010 V S 8/10, [X.]/NV 2010, 2095, und in [X.]/NV 2012, 759).

Meta

X K 11/12

06.02.2013

Bundesfinanzhof 10. Senat

Urteil

§ 62 Abs 2 S 1 FGO, § 62 Abs 4 FGO, § 155 S 2 FGO, § 198 GVG, Art 6 MRK, Art 2 GG, Art 19 Abs 4 GG, Art 103 Abs 1 GG, Art 47 Abs 2 EUGrdRCh

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 06.02.2013, Az. X K 11/12 (REWIS RS 2013, 8398)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 8398

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

X K 13/12 (Bundesfinanzhof)

Unangemessene Dauer eines finanzgerichtlichen Klageverfahrens


X R 1/15 (Bundesfinanzhof)

(Keine Verwirkung des Anspruchs auf Aussetzungszinsen trotz überlanger Dauer eines Einspruchs- oder Klageverfahrens - Anwendungsbereich …


X K 3/12 (Bundesfinanzhof)

Entschädigungsklage: Unangemessene Dauer eines finanzgerichtlichen Verfahrens - Beschränkung des Rechtsfolgenausspruchs auf die Feststellung der Verzögerung …


B 10 ÜG 2/14 R (Bundessozialgericht)

Überlanges Gerichtsverfahren - unverzügliche Verzögerungsrüge in Altfällen - Dreimonatsfrist - Entschädigungsklage - Nichteinhaltung der sechsmonatigen …


X K 9/13 (Bundesfinanzhof)

Unangemessene Verfahrensdauer bei 77-monatiger Dauer des finanzgerichtlichen Klageverfahrens; Präklusionswirkung der nicht "unverzüglich" erhobenen Verzögerungsrüge bei …


Referenzen
Wird zitiert von

5 PKH 15/17 D

5 PKH 13/17 D

23 A 17.80

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.