Bundesverfassungsgericht, Einstweilige Anordnung vom 24.06.2019, Az. 2 BvR 894/19

2. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2019, 6169

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Erlass einer einstweiligen Anordnung bzgl der Auslieferung des Beschwerdeführers zur Strafverfolgung an die Russische Föderation: Unzureichende fachgerichtliche Berücksichtigung einer Flüchtlingsanerkennung in einem anderen Mitgliedsstaat der EU sowie fehlende Begründung des Absehens von einer Vorlage an den EuGH bzgl der Bindungswirkung jener Entscheidung


Tenor

Die Übergabe des Beschwerdeführers an die Behörden der [X.] wird bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen untersagt.

Der [X.] wird mit der Durchführung der einstweiligen Anordnung beauftragt.

Gründe

I.

1

Die mit einem Eilantrag verbundene Verfassungsbeschwerde betrifft die Auslieferung des Beschwerdeführers, eines [X.] Staatsangehörigen tsche-tschenischer Herkunft, zur Strafverfolgung nach [X.]. Der Beschwerdeführer rügt unter anderem, das [X.] habe in der Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung die Bedeutung des Umstandes verkannt, dass er in [X.] als Flüchtling anerkannt worden sei. Dies begründe im Auslieferungsverfahren jedenfalls die Vermutung, dass der Beschwerdeführer in [X.] politisch verfolgt werde. [X.] und verfassungsrechtlich sei aber darüber hinaus davon auszugehen, dass die Flüchtlingsanerkennung durch den kraft Unionsrecht zuständigen [X.] [X.] für das [X.] Auslieferungsverfahren verbindlich sei, so dass die Auslieferung des Beschwerdeführers bereits daran scheitern müsse. Den entsprechenden Vortrag habe das [X.] nicht gewürdigt, sondern sich lediglich darauf gestützt, dass die Anerkennung des Beschwerdeführers als Flüchtling in [X.] nicht zwangsläufig auf eine politische Verfolgung des Beschwerdeführers zurückzuführen sein müsse. Dies wiederum verkenne, dass der Begriff des Flüchtlingsstatus im Europarecht einheitlich definiert und mit dem Auslieferungshindernis der politischen Verfolgung materiell deckungsgleich sei. Zudem habe das [X.] die bislang ungeklärte Frage nach der Verbindlichkeit einer Flüchtlingsanerkennung in einem [X.] für das Auslieferungsverfahren in einem anderen Mitgliedstaat ohne jegliche Begründung nicht dem [X.] vorgelegt und dadurch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt. Sollte die Anerkennung des Beschwerdeführers als Flüchtling in [X.] für das [X.] Auslieferungsverfahren nicht bindend sein, hätte das [X.] jedenfalls weitergehenden Vortrag zu den Hintergründen der politischen Verfolgung ermöglichen und die Akten aus dem Asylverfahren beiziehen müssen. Darüber hinaus genügten die zu erwartenden Haftbedingungen nicht den Mindestanforderungen, zumal interne Beschwerdemechanismen ineffektiv seien.

II.

2

Zur [X.] wird die Übergabe des Beschwerdeführers an die [X.] Behörden gemäß § 32 Abs. 1 [X.] bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, längstens für die Dauer von sechs Monaten, einstweilen untersagt.

3

1. Gemäß § 32 Abs. 1 [X.] kann das [X.] im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 [X.] gegeben sind, ist wegen der weittragenden Folgen einer einstweiligen Anordnung regelmäßig ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. [X.] 55, 1 <3>; 82, 310 <312>; 94, 166 <216 f.>; 104, 23 <27>; 106, 51 <58>).

4

Als Mittel des vorläufigen Rechtsschutzes hat die einstweilige Anordnung auch im verfassungsgerichtlichen Verfahren die Aufgabe, die Schaffung vollendeter Tatsachen zu verhindern; sie soll auf diese Weise dazu beitragen, Wirkung und Bedeutung einer erst noch zu erwartenden Entscheidung in der Hauptsache zu sichern und zu erhalten (vgl. [X.] 42, 103 <119>). Deshalb bleiben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht, es sei denn, die Hauptsache erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. [X.] 89, 38 <44>; 103, 41 <42>; 118, 111 <122>; stRspr). Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, so hat das [X.] grundsätzlich lediglich im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. [X.] 105, 365 <371>; 106, 351 <355>; 108, 238 <246>; 125, 385 <393>; 132, 195 <232 f. Rn. 87>; stRspr).

5

2. Nach diesen Maßstäben ist eine einstweilige Anordnung zu erlassen.

6

a) Die Verfassungsbeschwerde ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Es erscheint auf der Grundlage des Vortrags des Beschwerdeführers vielmehr möglich, dass die angegriffene Entscheidung des [X.]s, mit der die Auslieferung des Beschwerdeführers für zulässig erklärt wurde, den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt. Zum einen hat sich das [X.] trotz gewichtiger Anhaltspunkte nicht vertieft mit dem Auslieferungshindernis der politischen Verfolgung und den Auswirkungen der Flüchtlingsanerkennung in [X.] auf das [X.] Auslieferungsverfahren befasst. Zum anderen hat es trotz der Darlegungen des Beschwerdeführers zu einer aus dem Unionsrecht abzuleitenden Bindungswirkung der [X.] Entscheidung für das erkennende Gericht eine Vorlage an den [X.] ohne Begründung nicht erwogen. Ob auch weitere [X.] des Beschwerdeführers Aussichten auf Erfolg haben, kann daher dahinstehen.

7

b) Die daher gemäß § 32 Abs. 1 [X.] erforderliche Folgenabwägung geht zugunsten des Beschwerdeführers aus. Die Folgen, die einträten, wenn der Beschwerdeführer ausgeliefert werden würde, sich später aber herausstellte, dass die Auslieferung des Beschwerdeführers rechtswidrig war, wiegen erheblich schwerer als die Folgen, die entstünden, wenn die Auslieferung einstweilen untersagt bliebe, sich später aber herausstellte, dass sie ohne Rechtsverstoß hätte durchgeführt werden können. Denn im erstgenannten Fall wäre dem Beschwerdeführer eine Geltendmachung seiner Einwände gegen die Auslieferung nicht mehr möglich. Demgegenüber könnte der Beschwerdeführer, sollte sich die geplante Auslieferung als rechtmäßig erweisen, ohne Weiteres zu einem späteren Zeitpunkt an die [X.] Behörden übergeben werden. Sein Aufenthalt in [X.] würde sich lediglich bis zu einem solchen späteren Termin verlängern.

8

3. Fragen der Auslieferungshaft bleiben von der einstweiligen Anordnung unberührt.

Meta

2 BvR 894/19

24.06.2019

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 2. Kammer

Einstweilige Anordnung

Sachgebiet: BvR

vorgehend Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, 10. Mai 2019, Az: 1 Ausl (A) 4/19 (2/19), Beschluss

Art 19 Abs 4 GG, Art 101 Abs 1 S 2 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 12 IRG, § 32 IRG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Einstweilige Anordnung vom 24.06.2019, Az. 2 BvR 894/19 (REWIS RS 2019, 6169)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2019, 6169

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

2 BvR 517/19 (Bundesverfassungsgericht)

Erlass einer einstweiligen Anordnung: Einstweilige Aussetzung der Auslieferung eines Russen an die Behörden der Russischen …


2 BvR 1661/19 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 GG) durch Zulässigerklärung …


2 BvR 1381/17 (Bundesverfassungsgericht)

Erlass einer einstweiligen Anordnung: Aussetzung der Abschiebung eines russischen Staatsangehörigen tschetschenischer Herkunft nach Polen - …


2 BvR 1282/21 (Bundesverfassungsgericht)

Erlass einer einstweiligen Anordnung im Verfassungsbeschwerdeverfahren: Einstweilige Untersagung des Vollzugs einer Auslieferung an die Russische …


2 BvR 517/19 (Bundesverfassungsgericht)

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 GG) durch Zulässigerklärung …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

2 BvR 1661/19

2 BvR 2767/17

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.