Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 01.04.2011, Az. 2 B 84/10

2. Senat | REWIS RS 2011, 7995

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Gegenstand

Anspruch auf rechtliches Gehör; Behandlung eines Beweisantrags; Sachverständigengutachten aus anderem Verfahren


Gründe

1

Die Nichtzulassungsbeschwerde des [X.] kann keinen Erfolg haben. Der [X.]eklagte hat nicht dargelegt, dass der geltend gemachte Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i.[X.]m. § 69 [X.], § 41 [X.] Disziplinargesetz - [X.] - vorliegt.

2

Das Oberverwaltungsgericht hat die vom Verwaltungsgericht ausgesprochene Entfernung des [X.] aus dem [X.]eamtenverhältnis nach Aufhebung des ersten [X.]erufungsurteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung erneut bestätigt (vgl. [X.]eschluss vom 29. Mai 2009 - [X.]VerwG 2 [X.] - [X.] 235.1 § 58 Nr. 5 = NJW 2009, 2614). Es hat festgestellt, der [X.]eklagte habe seine Dienstpflichten als Amtsvormund der Zeugin [X.] schwerwiegend verletzt, weil er über längere [X.] eine sexuelle [X.]eziehung zu seinem Mündel unterhalten habe. Das Oberverwaltungsgericht hat die Angaben der [X.]elastungszeugin [X.] erneut als erwiesen angesehen. Es hat seine Überzeugung, die Zeugin sei glaubwürdig, vor allem auf die Ergebnisse des aussagepsychologischen Gutachtens der Sachverständigen [X.] gestützt, das diese in der ersten [X.]erufungsverhandlung erstattet hatte. Da die Zeugin [X.] nicht bereit war, sich von der Sachverständigen [X.] untersuchen zu lassen, hat diese für ihr Gutachten auf Feststellungen und Wertungen des jugendpsychiatrischen Gutachtens vom 13. August 2003 zurückgegriffen. Dieses Gutachten wurde in einem Jugendstrafverfahren gegen die Zeugin [X.] erstellt. Die Sachverständige S. hat das vom Oberverwaltungsgericht in das [X.]erufungsverfahren eingeführte Gutachten vom 13. August 2003 am 21. Juni 2010 schriftlich ergänzt und ihre Ausführungen in der zweiten [X.]erufungsverhandlung erläutert.

3

Der [X.]eklagte hat in der zweiten [X.]erufungsverhandlung erneut beantragt, ein psychiatrisches Sachverständigengutachten zum [X.]eweis der Tatsache einzuholen, dass es sich bei der Zeugin [X.] um eine krankhafte Persönlichkeit handele, die durchaus in der Lage sei, eine komplexe unwahre Schilderung zu erfinden und zu kontrollieren. Diesen [X.]eweisantrag hat das Oberverwaltungsgericht in der Verhandlung durch [X.]eschluss mit der [X.]egründung abgelehnt, es verfüge aufgrund des Gutachtens vom 13. August 2003 und der Anhörung der Sachverständigen S. über eigene hinreichende Sachkunde. Umstände, die eine darüber hinausgehende Aufklärung des Sachverhalts erforderlich machen könnten, seien weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich.

4

Mit der [X.]eschwerde rügt der [X.]eklagte, das Oberverwaltungsgericht habe durch die Ablehnung des [X.]eweisantrags seinen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt. Das Oberverwaltungsgericht habe den [X.]eweisantrag nicht ablehnen dürfen, weil es selbst noch kein [X.] Gutachten eingeholt habe. Das Gutachten vom 13. August 2003 stamme aus einem Jugendstrafverfahren. Das Oberverwaltungsgericht habe es ohne förmliches [X.]eweisverfahren im Wege des [X.] verwertet. Auch sei es in dem Gutachten vom 13. August 2003 nicht um die [X.]eurteilung der Glaubwürdigkeit der Zeugin [X.] in [X.]ezug auf die Vorwürfe gegen den [X.] gegangen. Es sei ernsthaft möglich, dass ein weiteres Gutachten die Überzeugung des [X.] von der Glaubwürdigkeit der Zeugin [X.] erschüttert hätte.

5

Der [X.] hat in dem [X.]eschluss vom 29. Mai 2009 a.a.[X.] zu der Frage der [X.]ehandlung eines [X.]eweisantrags auf Einholung eines jugendpsychiatrischen Gutachtens ausgeführt:

"Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO verpflichtet das Gericht, einem [X.]eweisangebot nachzugehen, wenn die unter [X.]eweis gestellte Tatsache nach seinem Rechtsstandpunkt erheblich ist und die Nichtberücksichtigung des [X.]eweisangebots im Prozessrecht keine Stütze findet ([X.]eschluss vom 14. Juni 2005 - [X.]VerwG 2 [X.] 108.04 - [X.] 235.1 § 58 [X.] Nr. 1; stRspr). Danach hat das Oberverwaltungsgericht den in der mündlichen [X.]erufungsverhandlung gestellten [X.]eweisantrag nicht übergehen dürfen:

Dem [X.]eweisthema kommt auf der Grundlage der Rechtsauffassung des [X.] entscheidungserhebliche [X.]edeutung zu. Es hat die [X.]eweisfrage für erheblich, aber aufgrund des jugendpsychiatrischen Gutachtens vom 13. August 2003 für hinreichend geklärt gehalten.

Diese Vorgehensweise findet im Prozessrecht keine Stütze, weil das Oberverwaltungsgericht dieses Gutachten nicht prozessordnungsgemäß zum Gegenstand des [X.] gemacht hat. Gemäß § 41 [X.], § 58 Abs. 1 [X.] erhebt das Gericht die erforderlichen [X.]eweise. Demnach hat es grundsätzlich selbst diejenigen Tatsachen festzustellen, die für den Nachweis des Dienstvergehens und die [X.]emessung der Disziplinarmaßnahme von [X.]edeutung sind. Dies gilt gemäß § 41 [X.], § 65 Abs. 1 Satz 1 [X.] auch für die [X.]erufungsinstanz. Danach darf das [X.] ein [X.]eweisangebot zu einer entscheidungserheblichen Tatsache nur unberücksichtigt lassen, wenn sich ausschließen lässt, dass die [X.]eweiserhebung zu neuen Erkenntnissen führen kann, die geeignet sind, die bisherige Überzeugung des Gericht zu erschüttern. Dies ist der Fall, wenn die unter [X.]eweis gestellte Tatsachenbehauptung ohne jeden greifbaren Anhaltspunkt "ins [X.]laue hinein" aufgestellt wird oder das [X.]eweismittel offensichtlich untauglich ist. Das Gericht darf ein [X.]eweisangebot nicht schon deshalb übergehen, weil es die Wahrscheinlichkeit als gering einschätzt, dass durch die [X.]eweiserhebung neue Erkenntnisse gewonnen werden ([X.], [X.] vom 18. Juli 1994 - 1 [X.]vR 1177/93 - NJW-RR 1995, 441 und vom 22. Januar 2001 - 1 [X.]vR 2075/98 - NJW-RR 2001, 1006; [X.]VerwG, [X.]eschluss vom 14. Juni 2005 a.a.[X.]; stRspr).

Hat das Gericht zur Feststellung oder [X.]ewertung einer beweiserheblichen [X.] bereits [X.] erhoben, so hat es über den [X.]eweisantrag, zu dieser Frage ein weiteres Gutachten einzuholen, nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden. Das Gericht muss sich darüber klar werden, ob ihm das vorliegende Gutachten die zur [X.]eantwortung der [X.]eweisfrage erforderliche Sachkunde vermittelt (§ 98 VwGO, § 412 Abs. 1 ZPO, § 3 [X.]). Seine Weigerung, ein weiteres Gutachten einzuholen, findet im Prozessrecht nur dann keine Stütze, wenn das bereits vorliegende Gutachten nicht geeignet ist, dem Gericht die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen zu vermitteln. Dies ist etwa der Fall, wenn das Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht, unlösbare inhaltliche Widersprüche enthält oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde oder Unparteilichkeit des Gutachters besteht ([X.]eschluss vom 26. Februar 2008 - [X.]VerwG 2 [X.] 122.07 - [X.] 2008, 257 <259>; stRspr).

Das Ermessen, zu einer beweiserheblichen [X.] ein weiteres Sachverständigengutachten einzuholen, ist nicht notwendigerweise nur dann eröffnet, wenn das Gericht bereits selbst ein Gutachten eingeholt hat. Vielmehr kann dieses Ermessen auch dann gegeben sein, wenn das Gericht in zulässiger Weise auf ein Gutachten zu der [X.]eweisfrage zurückgreift, das in einem anderen Verfahren erstellt wurde. Jedoch muss es dieses Gutachten nach den Regeln des [X.]es gemäß §§ 402 ff. ZPO in das gerichtliche Verfahren einführen ([X.], [X.] vom 30. November 1993 - 2 [X.]vR 594/93 - [X.]ayV[X.]l 1994, 143). Hierfür ist zumindest die rechtzeitige Mitteilung an die Verfahrensbeteiligten erforderlich, dass es die [X.]eweisfrage aufgrund des anderweitig erstellten Gutachtens beantworten will. Denn nur durch eine solche Mitteilung werden die Verfahrensbeteiligten in die Lage versetzt, ihre prozessualen Rechte und damit ihren Anspruch auf rechtliches Gehör wahrzunehmen, nämlich gemäß § 411 Abs. 4 Satz 1 ZPO ihre Einwendungen gegen das Gutachten sowie darauf bezogene Anträge und Ergänzungsfragen vorzubringen und gemäß §§ 402, 397 ZPO die Anhörung des Gutachters in der mündlichen Verhandlung zu beantragen. Das Gericht ist in der Regel verpflichtet, einem darauf gerichteten [X.]eweisantrag stattzugeben (Urteil vom 9. März 1984 - [X.]VerwG 8 [X.] 97.83 - [X.]VerwGE 69, 70 <77> = [X.] 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 158; [X.]eschlüsse vom 21. September 1994 - [X.]VerwG 1 [X.] 131.93 - [X.] 310 § 98 VwGO Nr. 46 und vom 16. Juli 2007 - [X.]VerwG 2 [X.] 55.07 - [X.] 310 § 98 VwGO Nr. 95 Rn. 7).

Danach durfte das Oberverwaltungsgericht den [X.]eweisantrag des [X.] nicht mit der [X.]egründung ablehnen, es könne die [X.]eweisfrage aufgrund des jugendpsychiatrischen Sachverständigengutachtens vom 13. August 2003 sachkundig beurteilen. Denn es hat den [X.] nicht darauf hingewiesen, dass es sich für die zentrale Frage der Glaubwürdigkeit der Zeugin [X.] auf dieses Gutachten stützen werde und im Hinblick darauf einen weiteren [X.] für entbehrlich halte. Durch seine Vorgehensweise hat das Oberverwaltungsgericht dem [X.] die - im Gebot des rechtlichen Gehörs verankerte - Möglichkeit genommen, Einwendungen gegen dieses Gutachten zu erheben und die Sachverständige in der mündlichen Verhandlung zu befragen. Daran ändert nichts, dass der [X.]eklagte den [X.]eweisantrag nur hilfsweise gestellt hat."

6

Danach hat es der [X.] ausdrücklich für zulässig gehalten, dass sich das [X.] auf ein Sachverständigengutachten stützt, das es nicht selbst in Auftrag gegeben, sondern aus einem anderen Verfahren übernommen hat. Ein derartiges Gutachten kann in gleicher Weise wie ein vom Gericht eingeholtes Gutachten verwertet werden, wenn es nach den Regeln des [X.]es unter Wahrung der prozessualen Rechte der [X.]eteiligten in das Verfahren eingeführt wird. Diese Voraussetzungen sind in [X.]ezug auf das jugendpsychiatrische Gutachten vom 13. August 2003 nunmehr erfüllt; die Vorgehensweise des [X.] hat den Anforderungen entsprochen, die der [X.] in dem [X.]eschluss vom 29. Mai 2009 a.a.[X.] aufgestellt hat:

7

Das Oberverwaltungsgericht hat den [X.]eteiligten das Gutachten vom 13. August 2003 übersandt, ihnen rechtzeitig mitgeteilt, dass es beabsichtigt, dieses Gutachten zu verwerten und ihnen Gelegenheit gegeben, Einwendungen gegen das Gutachten und darauf bezogene Anträge und Ergänzungsfragen vorzubringen (vgl. gerichtliches Schreiben vom 27. April 2010). Aufgrund der Einwendungen und Fragen des [X.] hat die Sachverständige S. das Gutachten am 21. Juni 2010 schriftlich ergänzt. Sie ist in der zweiten [X.]erufungsverhandlung als Sachverständige aufgrund eines [X.]eweisbeschlusses zu demjenigen [X.]eweisthema vernommen worden, das Gegenstand des danach gestellten und abgelehnten [X.]eweisantrags des [X.] gewesen ist. Dabei hat die Sachverständige S. das schriftliche Gutachten und dessen Ergänzung erläutert. Der [X.]eklagte hat die Sachkunde der Sachverständigen im [X.]ereich der Jugendpsychiatrie und ihre gutachterlichen Angaben weder im [X.]erufungsverfahren noch in der [X.]eschwerdebegründung in Zweifel gezogen.

8

Das Vorbringen des [X.], die Sachverständige S. habe kein "[X.]" erstattet, ist angesichts des Inhalts seines [X.]eweisantrags unerheblich. Der [X.]eklagte hat nicht die Einholung eines weiteren aussagepsychologischen Gutachtens, sondern eines psychiatrischen Gutachtens beantragt. Das Oberverwaltungsgericht hat seine Überzeugung, die Zeugin [X.] sei glaubwürdig, hauptsächlich auf das aussagepsychologische Gutachten der Sachverständigen [X.] gestützt und die jugendpsychiatrische [X.]eurteilung ersichtlich nur ergänzend herangezogen. Diese [X.]eweiswürdigung hat der [X.]eklagte nicht angegriffen.

9

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO i.[X.]m. § 41 [X.], § 77 Abs. 1 und 4 [X.]. Ein Streitwert für das [X.]eschwerdeverfahren muss nicht festgesetzt werden, weil die Gerichtskosten gesetzlich [X.] festgelegt sind (§ 41 [X.], § 85 Abs. 11, § 78 Satz 1 [X.], Nr. 10 und 62 des Gebührenverzeichnisses zum [X.]).

Meta

2 B 84/10

01.04.2011

Bundesverwaltungsgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, 24. September 2010, Az: 80 D 1.09, Urteil

Art 103 Abs 1 GG, § 108 Abs 2 VwGO, § 58 Abs 1 BDG, § 98 VwGO, § 402 ZPO, §§ 402ff ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 01.04.2011, Az. 2 B 84/10 (REWIS RS 2011, 7995)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 7995

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