Bundessozialgericht, Beschluss vom 15.12.2016, Az. B 5 RE 7/16 B

5. Senat | REWIS RS 2016, 620

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Gegenstand

Nichtzulassungsbeschwerde - sozialgerichtliches Verfahren - Verfahrensmangel - rechtliches Gehör - Fristeinhaltung


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 18. Mai 2016 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten, ob der Kläger als Selbstständiger der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung unterliegt.

2

Der Kläger ist seit 1993 als Versicherungsvermittler für die [X.] in [X.] tätig. Nach Betriebsprüfung am 12.9.2011 stellte die Beklagte gegenüber dem Kläger den Eintritt der Versicherungspflicht als selbstständig tätiger Handelsvertreter (§ 2 S 1 [X.]) und die Verpflichtung zur Zahlung des [X.] ab 28.6.2011 fest (Bescheid vom 5.3.2012). Mit weiterem Beitragsbescheid vom 17.4.2012 setzte sie Säumniszuschläge für die [X.] vom 26.6.2011 bis 31.3.2012 fest. Mit Bescheid vom 5.6.2012 hob die Beklagte "die Forderungsbescheide vom 17. April 2012" sowie die darauffolgenden Mahnungen auf.

3

Mit Bescheid vom 12.9.2012 stellte die Beklagte das Vorliegen von Versicherungspflicht ab [X.] gemäß § 2 S 1 [X.] fest, der [X.] sei ab 1.1.2009 zu zahlen. Weiter werde ein rückständiger Beitrag in Höhe von 28 785,30 Euro (1.1.2008 bis 30.9.2012) und ein laufender Beitrag von 514,50 Euro ab 1.10.2012 gefordert. Den Antrag vom Januar 2013, ihn von der Versicherungspflicht zu befreien, lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom [X.]). Die Versicherungspflicht sei bereits am [X.] eingetreten, der Antrag hätte gemäß § 231 Abs 5 [X.] bis zum 31.3.1999 gestellt werden müssen. Mit Widerspruchsbescheid vom 24.5.2013 hat die Beklagte die Widersprüche gegen die Bescheide vom 12.9.2012 und [X.] zurückgewiesen. Ein früherer Befreiungsantrag liege nicht vor, der Kläger sei versicherungspflichtig.

4

Mit weiterem Bescheid vom [X.] setzte die Beklagte Säumniszuschläge für die [X.] vom 1.1.2008 bis 30.4.2013 fest. Mit Bescheid vom [X.] nahm die Beklagte den Bescheid vom [X.] hinsichtlich der geforderten Säumniszuschläge zurück. Das Verfahren werde bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens ausgesetzt.

5

Mit Urteil vom 7.10.2014 hat das [X.] den Bescheid vom 12.9.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.5.2013 insoweit aufgehoben, als eine Beitragspflicht des [X.] von Januar bis Mai 2008 festgestellt worden sei und im Übrigen die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des [X.] hat das [X.] das SG-Urteil insoweit aufgehoben, als damit der Bescheid vom 12.9.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.5.2013 aufgehoben werde. Im Übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 18.5.2016).

6

Mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger Verfahrensmängel. Das [X.] habe gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verstoßen. Es habe ihm - dem Kläger - eine Frist zur Stellungnahme zum Schriftsatz der Beklagten vom 19.4.2016 bis zum [X.] gesetzt. Gleichwohl habe das [X.] ohne mündliche Verhandlung durch Urteil vom 18.5.2016 - und damit vor Fristablauf - über die Berufung entschieden. Auf diesem Verfahrensmangel könne die Entscheidung beruhen. Er - der Kläger - hätte darauf hinweisen können, dass die Beteiligten in der Sitzung am [X.] ihr Einverständnis mit dem Ruhen des Verfahrens erklärt hätten, bis die Beklagte über seinen Antrag entschieden habe, "ob die ausstehenden Beitragszahlungen über Ratenzahlungen zu zahlen sind bzw. gestundet oder sogar niedergeschlagen werden" können. Zwar habe die Beklagte im Schreiben vom 19.4.2016 behauptet, ihr "diesbezügliches Schreiben vom [X.] ("Information zur Ratenzahlung von selbständig Tätigen" mit [X.])" sei unbeantwortet geblieben, was sich aber weder auf die Überprüfung der Möglichkeit der Stundung noch der Niederschlagung der streitgegenständlichen Forderung bezogen habe. Unabhängig davon sei in der Sitzung vom [X.] keine Rede davon gewesen, dass der Kläger noch einen gesonderten Antrag stellen müsse. Damit sei für ihn noch keine Entscheidungsreife eingetreten, vielmehr hätte die Beklagte eine entsprechende Prüfung durchführen müssen.

7

Des Weiteren habe das [X.] gegen die Berücksichtigungs- und Erwägungspflicht als Teil des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs verstoßen. Insbesondere habe das [X.] zur Rüge, der Widerspruchsbescheid sei infolge fehlender Unterzeichnung (§ 85 Abs 3 S 1 SGG) nichtig, nicht Stellung genommen. Die unrichtige Anwendung des § 153 Abs 2 SGG führe dazu, dass die Entscheidungsgründe iS von § 136 Abs 1 [X.] SGG fehlten, was einen absoluten Revisionsgrund nach § 202 S 1 SGG iVm § 547 [X.] ZPO begründe. Das Gericht habe auch sein Recht auf Akteneinsicht verletzt, weil es den Antrag auf Einsicht in die vollständigen Behördenakten hinsichtlich der Betriebsprüfung bei der [X.] übergangen habe, selbst wenn das [X.] seiner Tätigkeit bei dieser Firma keine Bedeutung beigemessen habe. Schließlich weise das Urteil des [X.] nicht die gesetzliche Form auf. Die ihm übersandte Urteilsabschrift enthalte weder den Namen noch die Unterzeichnung durch den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle.

8

II. Auf die Beschwerde des [X.] war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen.

9

Der Kläger hat formgerecht (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG) und auch in der Sache zutreffend die Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) gerügt (§ 160 Abs 2 [X.] 3 SGG).

Das [X.] hat § 62 SGG verletzt, wonach den Beteiligten vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren ist. Der Verstoß des Berufungsgerichts gegen diese Verfahrensvorschrift liegt darin begründet, dass es dem Kläger mit Schreiben vom [X.] eine Frist zur Stellungnahme (bis zum [X.]) zum Schreiben der Beklagten vom 19.4.2016 eingeräumt und diese selbst nicht beachtet hat. In diesem Fall setzt sich das Gericht in Widerspruch zu seinem eigenen Verhalten und verletzt das aus Art 2 Abs 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende allgemeine verfassungsrechtliche Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren (vgl [X.] Beschluss vom 15.4.2004 - 1 BvR 622/98 - Juris Rd[X.] 11 im Rahmen prozessualer Hinweispflichten; [X.] Beschluss vom 15.8.1996 - 2 BvR 2600/95 - Juris Rd[X.] 21 mwN). Aus diesem ergibt sich des Weiteren, dass das Gericht verpflichtet ist, die selbst gesetzte Frist einzuhalten (vgl [X.] Beschluss vom 24.10.1991 - 1 BvR 604/90 - Juris Rd[X.] 16, 22 mwN).

Die Entscheidung des [X.] kann auf der Verletzung von § 62 SGG beruhen. Hierzu hat der Kläger in der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde vorgetragen, er hätte darauf hingewiesen, dass die Beteiligten in der Sitzung am [X.] ihr Einverständnis mit dem Ruhen des Verfahrens erklärt hätten, bis die Beklagte über seinen Antrag entschieden habe, "ob die ausstehenden Beitragszahlungen über Ratenzahlungen zu zahlen sind bzw. gestundet oder sogar niedergeschlagen werden" können. Zwar habe die Beklagte im Schreiben vom 19.4.2016 behauptet, ihr "diesbezügliches Schreiben vom [X.] ("Information zur Ratenzahlung von selbständig Tätigen" mit [X.])" sei unbeantwortet geblieben, was sich aber weder auf die Überprüfung der Möglichkeit der Stundung noch der Niederschlagung der streitgegenständlichen Forderung bezogen habe. Unabhängig davon sei in der Sitzung vom [X.] keine Rede davon gewesen, dass der Kläger noch einen gesonderten Antrag stellen müsse. Damit sei für ihn noch keine Entscheidungsreife eingetreten, vielmehr hätte die Beklagte eine entsprechende Prüfung durchführen müssen. Dieser Vortrag ist ausreichend im Rahmen des § 160 Abs 2 [X.] 3 SGG, wonach die Revision nur dann zuzulassen ist, wenn die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensmangel beruhen kann. Denn es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das [X.] ein weiteres Ruhen des Verfahrens bis zu einer Entscheidung der Beklagten angeordnet hätte.

Da die Beschwerde bereits aus den oben dargelegten Gründen erfolgreich ist, bedarf es keiner Entscheidung des Senats zu den übrigen Verfahrensrügen.

Gemäß § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] 3 SGG vorliegen. Zur Vermeidung weiterer Verfahrensverzögerungen macht der Senat von dieser ihm eingeräumten Möglichkeit Gebrauch.

Das [X.] wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 5 RE 7/16 B

15.12.2016

Bundessozialgericht 5. Senat

Beschluss

Sachgebiet: RE

vorgehend SG Gießen, 7. Oktober 2014, Az: S 17 R 224/13

§ 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 15.12.2016, Az. B 5 RE 7/16 B (REWIS RS 2016, 620)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2016, 620

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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