Bundesgerichtshof, Beschluss vom 24.06.2020, Az. XIII ZB 39/19

13. Zivilsenat | REWIS RS 2020, 1094

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Gegenstand

Sicherungshaft: Notwendigkeit näherer Erläuterungen zum Zeitaufwand für Buchung eines Fluges bei Antrag auf Anordnung der Sicherungshaft; zuständiges Gericht nach wirksamer Verfahrensabgabe


Leitsatz

1. In einem Antrag auf Anordnung von Sicherungshaft ist eine nähere Erläuterung des für die Buchung eines Fluges mit Sicherheitsbegleitung erforderlichen Zeitaufwandes in aller Regel auch dann nicht geboten, wenn die beteiligte Behörde lediglich mitteilt, dass die Abschiebung in Absprache mit der für die Organisation sicherheitsbegleiteter Rückführungen zuständigen Stelle innerhalb eines bis zu sechs Wochen betragenden Zeitraums durchgeführt werden könne (im Anschluss an BGH, Beschlüsse vom 20. September 2018 - V ZB 4/17, InfAuslR 2019, 23, und vom 12. Februar 2020 - XIII ZB 26/19).

2. Eine wirksame Verfahrensabgabe nach § 106 Abs. 2 Satz 2 AufenthG begründet eine umfassende Zuständigkeit des aufnehmenden Gerichts für alle weiteren erforderlichen Entscheidungen in diesem Verfahren. Das dem aufnehmenden Gericht übergeordnete Beschwerdegericht ist auch für die Entscheidung über eine vor der Abgabe erhobene Beschwerde gegen die Haftanordnung des abgebenden Gerichts zuständig (im Anschluss an BGH, Beschluss vom 2. März 2017 - V ZB 122/15, InfAuslR 2017, 293).

Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 8. Zivilkammer des [X.] vom 22. August 2018 wird auf Kosten des Betroffenen mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass [X.] nicht erhoben werden.

Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 5.000 €.

Gründe

1

I. Der Betroffene, ein [X.] Staatsangehöriger, reiste am 7. Dezember 2016 in das [X.] ein und stellte am 23. Dezember 2016 einen Asylantrag. Am 4. Januar 2017 richtete das zuständige [X.] an den Mitgliedstaat [X.] ein Übernahmeersuchen nach der Verordnung ([X.]) Nr. 604/2013 ([X.]). Die [X.] Behörden erklärten mit Schreiben vom 11. Januar 2017 die Bereitschaft zur Übernahme des Betroffenen. Mit Bescheid vom 23. Januar 2017 lehnte das [X.] den Asylantrag des Betroffenen als unzulässig ab und ordnete seine Überstellung nach [X.] an. Die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage wurde mit seit dem 7. März 2017 rechtskräftiger Entscheidung des [X.] abgewiesen. Ein für den 8. Juni 2017 geplanter Überstellungstermin fand nicht statt, da der Betroffene in der ihm zugewiesenen Gemeinschaftsunterkunft nicht anzutreffen war. Nach Rückkehr des Betroffenen in die Gemeinschaftsunterkunft am 12. Juni 2017 wurde für den 21. August 2017 ein neuer Überstellungstermin anberaumt, der an der Weigerung des Betroffenen scheiterte, den Flug anzutreten.

2

Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das [X.] mit Beschluss vom 21. August 2017 gegen den Betroffenen [X.] bis zum 2. Oktober 2017 angeordnet und "weitere erforderliche Entscheidungen über die Fortdauer der Abschiebungshaft dem [X.] übertragen". Auf die am 29. August 2017 beim [X.] eingegangene Beschwerde des Betroffenen, der zwischenzeitlich in die [X.], Abteilung [X.], verbracht worden war, hat das [X.] die Akten unter Hinweise auf den Beschluss vom 21. August 2017 an das [X.] übersandt, welches das Verfahren durch richterliche Verfügung übernommen hat. Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das [X.] mit Beschluss vom 25. September 2017 den Beschluss des [X.] aufgehoben und die sofortige Entlassung des Betroffenen aus der Haft angeordnet. Daraufhin hat der Betroffene die Feststellung beantragt, dass der Beschluss des [X.] ihn in seinen Rechten verletzt hat. Der Beschwerde hat das [X.] nicht abgeholfen; das [X.] hat sie zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, deren Zurückweisung die beteiligte Behörde beantragt.

3

II. Die Rechtsbeschwerde hat mit Ausnahme der Klarstellung bezüglich der [X.], die zwingend von der Kostentragungspflicht des Betroffenen auszunehmen sind (vgl. [X.], Beschluss vom 4. März 2010 - [X.], [X.] 2010, 154 Rn. 21), keinen Erfolg.

4

1. Nach Ansicht des [X.] lagen die Voraussetzungen für die Anordnung der Haft vor. Der Haftantrag genüge den Anforderungen des § 417 FamFG. Er enthalte insbesondere hinreichende Angaben zum Haftgrund, zur Durchführung der Überstellung sowie zur Erforderlichkeit und Dauer der Freiheitsentziehung. Zum Zeitpunkt der Antragstellung habe es keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass die geplante Rückführung innerhalb der beantragten [X.] nicht durchführbar gewesen wäre. Zudem sei das [X.] für die Nichtabhilfeentscheidung zuständig gewesen.

5

2. Dies hält rechtlicher Überprüfung stand.

6

a) Der Haftantrag der beteiligten Behörde war zulässig.

7

aa) Das Vorliegen eines zulässigen [X.] ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag der beteiligten Behörde nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zu der zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Überstellungsvoraussetzungen, zu der Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Überstellung und zu der notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Zwar dürfen die Ausführungen zur Begründung des [X.] knapp gehalten sein; sie müssen aber die für die richterliche Prüfung des Falls wesentlichen Punkte ansprechen. Fehlt es daran, darf die beantragte [X.] nicht angeordnet werden ([X.], Beschluss vom 13. September 2018 - [X.]/18, juris Rn. 5 mwN).

8

[X.]) Diesen Anforderungen wird der Haftantrag gerecht.

9

(1) In einem Antrag auf Anordnung von [X.] ist eine nähere Erläuterung des für die Buchung eines Fluges mit Sicherheitsbegleitung erforderlichen Zeitaufwands nach ständiger Rechtsprechung in aller Regel dann nicht geboten, wenn sich die Behörde auf eine Auskunft der zuständigen Stelle beruft, wonach dieser Zeitraum bis zu sechs Wochen beträgt. Nur wenn die Behörde einen längeren Zeitraum für die [X.] des Betroffenen für erforderlich hält, bedarf es einer auf den konkreten Fall bezogenen Begründung, die dies unter Ausführungen etwa zu der Art des Fluges, Buchungslage der in Betracht kommenden Luftverkehrsunternehmen, Anzahl der Begleitpersonen, Personalsituation und gegebenenfalls weiterer maßgeblicher Umstände nachvollziehbar erklärt ([X.], Beschlüsse vom 20. September 2018 - [X.], [X.] 2019, 23 Rn. 11, und vom 12. Februar 2020 - [X.], juris Rn. 9).

(2) Es kann dahinstehen, ob die Angaben im [X.] vom 21. August 2017, in dem die beteiligte Behörde lediglich mitgeteilt hat, dass nach Absprache mit dem Referat Zentrales Rückkehrmanagement des [X.] bereits eine erneute Flugbuchung für den Betroffenen vorgenommen worden sei, ausreichten, den beantragten Haftzeitraum von sechs Wochen als für die Überstellung des Betroffenen innerhalb dieses Zeitraums erforderlich hinreichend zu erklären. Denn die Angaben im Haftantrag sind im Anhörungstermin in ausreichender Weise ergänzt worden, indem der Vertreter der beteiligten Behörde mitgeteilt hat, die geplante Rückführung könne bis zum 2. Oktober 2017 realisiert werden. Die beteiligte Behörde hat dadurch zum Ausdruck gebracht, dass die Überstellung des Betroffenen nach [X.], für die sie eine Sicherheitsbegleitung für erforderlich hielt, innerhalb des beantragten Haftzeitraums von sechs Wochen gelingen könne, diesen Zeitraum aber auch erfordere.

Dass die beteiligte Behörde sich nicht (erneut) auf eine konkrete oder repräsentative Auskunft der für die [X.] mit Sicherheitsbegleitung zuständigen Stelle - hier dem Referat Zentrales Rückkehrmanagement des [X.] - berufen hat, steht dieser Beurteilung nicht entgegen. Auf eine Absprache mit dieser Stelle hat schon der Haftantrag Bezug genommen. Eine nähere Erläuterung des für die Buchung eines Fluges mit Sicherheitsbegleitung erforderlichen Zeitaufwandes durch die Behörde ist in aller Regel auch bei Benennung eines konkreten, innerhalb von sechs Wochen liegenden Datums nicht geboten, da sich auch in einem solchen Fall grundsätzlich ohne weiteres erschließt, dass der organisatorische Aufwand einen entsprechenden Zeitraum in Anspruch nimmt (vgl. [X.], Beschlüsse vom 20. September 2018 - [X.], [X.] 2019, 23 Rn. 11, und vom 24. Juni 2020 - [X.], zur Veröffentlichung bestimmt).

b) Nicht zum Erfolg verhilft der Rechtsbeschwerde auch der Einwand, das Amtsgericht und das [X.] seien für die im Beschwerdeverfahren gegen die Haftanordnung des [X.] getroffenen Entscheidungen nicht zuständig gewesen.

aa) Nach § 65 Abs. 4 FamFG kann die Beschwerde grundsätzlich nicht darauf gestützt werden, dass das Gericht des ersten Rechtszugs seine Zuständigkeit zu Unrecht angenommen hat. Dasselbe gilt gemäß § 72 Abs. 2 FamFG für die Rechtsbeschwerde. Anderes gilt nur dann, wenn das Haftgericht seine Zuständigkeit willkürlich bejaht hat ([X.], Beschluss vom 24. Juni 2020 - [X.] 44/19, zur Veröffentlichung bestimmt).

[X.]) Im Streitfall scheidet eine willkürliche Annahme der Zuständigkeit durch das Amtsgericht und das [X.] bereits deshalb aus, weil diese Gerichte für die Entscheidungen im Beschwerdeverfahren örtlich zuständig waren. Die Zuständigkeit des [X.] für die Nichtabhilfeentscheidung und daran anknüpfend die Zuständigkeit des [X.] für die Beschwerdeentscheidung beruhen auf der in dem Beschluss des [X.] vom 21. August 2017 erfolgten Verfahrensabgabe.

(1) Gemäß § 106 Abs. 2 Satz 2 [X.] kann das Amtsgericht das Verfahren durch unanfechtbaren Beschluss an das Gericht abgeben, in dessen Bezirk die [X.] oder Abschiebungshaft jeweils vollzogen wird, wenn über die Fortdauer der [X.] oder der Abschiebungshaft zu entscheiden ist. Diese Voraussetzungen liegen vor.

(a) Das [X.] hat im Beschluss vom 21. August 2017 die weiteren erforderlichen Entscheidungen über die Fortdauer der Haft dem [X.] übertragen. Trotz der vom Gesetzeswortlaut abweichenden Formulierung war, wie der weitere [X.] bestätigt, die Entscheidung des [X.] erkennbar auf die Abgabe des gesamten Verfahrens gerichtet. Nach Eingang der Beschwerde des Betroffenen hat das [X.] dementsprechend mit Verfügung vom 30. August 2017 die Gerichtsakten unter Bezugnahme auf den Beschluss vom 21. August 2017, die Mitteilung über die Aufnahme des Betroffenen in der [X.] und die Beschwerdeschrift an das [X.] übersandt.

(b) Der Wirksamkeit der Verfahrensabgabe steht nicht entgegen, dass im Zeitpunkt der Abgabeentscheidung noch kein Antrag der beteiligten Behörde vorgelegen hat, über die Fortdauer der angeordneten Haft zu entscheiden. Die Abgabe des Verfahrens hängt nach § 106 Abs. 2 Satz 2 [X.] allein von [X.] ab (vgl. [X.], [X.] 2009, 249, 250). Diesen hat die Verfahrensabgabe an das [X.] entsprochen, da im Zeitpunkt der Abgabe bereits feststand, dass die angeordnete [X.] in der [X.] vollzogen werden sollte, und nicht auszuschließen war, dass eine Entscheidung über die Fortdauer der Haft erforderlich werden könnte, die eine erneute persönliche Anhörung des Betroffenen erfordern würde. Dadurch hat zugleich auch ein wichtiger Grund für eine Verfahrensabgabe i.S.v. § 4 FamFG vorgelegen (vgl. [X.], FamFG, 20. Aufl., § 4 Rn. 28b).

(c) Ohne Erfolg rügt die Rechtsbeschwerde, der Betroffene sei zu der Verfahrensabgabe nicht wirksam angehört worden. Zwar setzt eine bindende Entscheidung nach § 106 Abs. 2 Satz 2 [X.] die Gewährung rechtlichen Gehörs voraus. Denn eine sachgerechte Entscheidung über eine Verfahrensabgabe erfordert die Kenntnis der durch sie berührten Interessen des Betroffenen (vgl. [X.], [X.] 2009, 249, 250; BeckOK [X.]/[X.] [1.8.2019], § 106 [X.] Rn. 9; [X.]/[X.]/[X.], Ausländerrecht, 13. Aufl., § 106 [X.] Rn. 10). Auch lässt sich dem Protokoll über die gerichtliche Anhörung des Betroffenen vom 21. August 2017 seine Anhörung zur Frage einer Verfahrensabgabe nicht entnehmen. Der Betroffene hat jedoch nicht dargelegt, dass die ohne seine vorherige Anhörung getroffene Abgabeentscheidung konkrete Auswirkungen auf seine berechtigten Interessen gehabt hat, etwa in Gestalt einer nachteiligen Beeinflussung seiner Rechtsverteidigung, mithin sich die unterbliebene Anhörung auf die Abgabeentscheidung ausgewirkt hat.

(2) Die wirksame Verfahrensabgabe gemäß § 106 Abs. 2 Satz 2 [X.] hat eine umfassende Zuständigkeit des [X.] für alle weiteren erforderlichen Entscheidungen in diesem Verfahren begründet. Das übergeordnete [X.] ist daher für die Entscheidung über die vor der Abgabe erhobene Beschwerde gegen die Haftanordnung des [X.] zuständig gewesen.

(a) Der [X.] hat die Frage, welche Wirkung eine Verfahrensabgabe nach § 106 Abs. 2 Satz 2 [X.] hat, bislang noch nicht entschieden. Aus dem vom Beschwerdegericht in Bezug genommenen Beschluss vom 2. März 2017 ([X.], [X.] 2017, 293 Rn. 9) folgt zwar, dass für eine Entscheidung über die Verlängerung der Abschiebungs- (oder Überstellungs-) Haft das Gericht am [X.] nach § 416 Satz 2, § 425 Abs. 3 FamFG originär zuständig ist, ohne dass es einer Abgabe nach § 106 Abs. 2 Satz 2 [X.] bedarf. Eine solche ist nur erforderlich, sofern - wie hier - auch die Entscheidungen über die Aussetzung oder Aufhebung der Haft gemäß §§ 424, 426 FamFG übertragen werden sollen. Über den Umfang einer Verfahrensabgabe nach § 106 Abs. 2 Satz 2 [X.] verhält sich die Entscheidung jedoch nicht.

(b) In der Literatur ist diese Frage umstritten.

(aa) Nach einer Auffassung umfasst eine solche Verfahrensabgabe nur Entscheidungen, die zeitlich nach einer erstinstanzlich abschließend angeordneten Freiheitsentziehungsmaßnahme zu treffen sind ([X.]/[X.]/[X.], Ausländerrecht, 12. Aufl., § 106 [X.] Rn. 5 unter Verweis auf [X.], Beschluss vom 18. Juni 2014 - 23 XIV 43/14 [nicht veröffentlicht]; HK-[X.]/[X.], 2. Aufl., § 106 [X.] Rn. 18).

([X.]) Nach der in der Instanzrechtsprechung und der Literatur vorherrschenden Ansicht begründet eine wirksame Verfahrensabgabe gemäß § 106 Abs. 2 Satz 2 [X.] hingegen eine umfassende Zuständigkeit des aufnehmenden Gerichts für alle künftig erforderlich werdenden Entscheidungen, sodass auch anhängige Beschwerdeverfahren gegen eine frühere Entscheidung des abgebenden Gerichts mit der Abgabe an das dem aufnehmenden Gericht übergeordnete Beschwerdegericht übergehen ([X.], [X.] 2009, 397, 398; [X.], [X.] 2019, 24, 25 f.; BeckOK [X.]/[X.] [1.8.2019], § 106 [X.] Rn. 12; Funke-Kaiser in GK-[X.] [Mai 2010], § 106 Rn. 6).

(c) Der Senat tritt der letztgenannten Auffassung bei.

(aa) Dem Wortlaut der Vorschrift lässt sich eine Beschränkung des Umfangs der Verfahrensabgabe nicht entnehmen. § 106 Abs. 2 Satz 2 [X.] normiert im ersten Halbsatz die Voraussetzungen einer Abgabe (erforderliche Entscheidungen über die Fortdauer der [X.] oder Abschiebungshaft). Liegen diese vor, ermöglicht der zweite Halbsatz als Rechtsfolge eine in das Ermessen des Erstgerichts gestellte Abgabe des Verfahrens. Der Wortlaut des zweiten Halbsatzes enthält weder Vorgaben zu dem Zeitpunkt einer Verfahrensabgabe, sodass eine solche grundsätzlich auch bereits nach dem Erlass einer einstweiligen Anordnung vor einer beantragten Entscheidung in der Hauptsache in Betracht kommt (vgl. HK-[X.]/[X.], 2. Aufl., § 106 [X.] Rn. 20; [X.], [X.] 2012, 278), noch schränkt er den Umfang der Verfahrensabgabe ein (vgl. [X.], [X.] 2019, 24, 26).

([X.]) Derartige Einschränkungen lassen sich auch nicht mit den maßgeblichen Gesetzgebungsmaterialien begründen. Die Regelung des § 106 Abs. 2 Satz 2 [X.] geht zurück auf § 103 Abs. 2 Satz 2 des durch das [X.] abgelösten Ausländergesetzes (vgl. Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung, BT-Drucks. 15/420 S. 101). Diese Vorschrift wurde durch das Gesetz zur Änderung asylverfahrens-, ausländer- und staatsangehörigkeitsrechtlicher Vorschriften vom 30. Juni 1993 ([X.] 1062) eingeführt, um - wie sich aus der Beschlussempfehlung des Innenausschusses ergibt - bei der Behandlung von Anträgen auf Verlängerung der Abschiebungshaft zu einer Vereinfachung des gerichtlichen Verfahrens beizutragen (vgl. BT-Drucks. 12/4984 S. 37 f.). Ausführungen zum Umfang einer Verfahrensabgabe nach § 103 Abs. 2 Satz 2 [X.] enthält die Begründung der Beschlussempfehlung allerdings nicht.

([X.]) Es entspricht schließlich auch dem Sinn und Zweck der Regelung in § 106 Abs. 2 Satz 2 [X.] und den Interessen der Verfahrensbeteiligten, dass eine Verfahrensabgabe nach § 106 Abs. 2 Satz 2 [X.] nicht zu einer Aufspaltung der gerichtlichen Zuständigkeit zwischen dem abgebenden und dem aufnehmenden Gericht führt. Denn nur eine umfassende Zuständigkeit des aufnehmenden Gerichts verhindert, dass es bei unveränderter Sachlage im weiteren [X.] zu unterschiedlichen Bewertungen der Rechtmäßigkeit der Haftanordnung kommt (vgl. [X.], [X.] 2019, 24, 26).

c) Auch die Nichteinhaltung der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 und Abs. 2 [X.] rügt die Rechtsbeschwerde erfolglos.

aa) Ihr ist zwar einzuräumen, dass die einmal entstandene Aufnahme- oder Wiederaufnahmeverpflichtung nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 [X.] entfällt, wenn die Überstellung nicht innerhalb von sechs Monaten durchgeführt wird. Diese Frist kann nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 [X.] i.V.m. Art. 9 Abs. 1a DurchführungsVO unter Verwendung des in [X.] abgedruckten Formulars höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung auf Grund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist ([X.], Beschluss vom 7. April 2020 - [X.] 53/19, juris Rn. 11). Doch obliegt die Prüfung, ob eine Aufnahme- oder Wiederaufnahmeverpflichtung des [X.] unter Einhaltung dieser Regelungen entstanden und nicht wieder entfallen ist, grundsätzlich den Verwaltungsgerichten. Der Haftrichter ist an die Verwaltungsakte gebunden, die der Überstellung zugrunde liegen. Ob die Ausländerbehörde die Überstellung zu Recht betreibt, hat er grundsätzlich nicht in Frage zu stellen, da er damit in unzulässiger Weise in den Zuständigkeitsbereich der [X.]barkeit eingriffe ([X.], Beschluss vom 7. April 2020 - [X.] 53/19, juris Rn. 12 mwN).

Vom Haftrichter sind Bedenken gegen das von der Ausländerbehörde gewählte Verfahren erst dann zu berücksichtigen, wenn ihm bekannt wird, dass der Betroffene deswegen um Rechtsschutz durch die Verwaltungsgerichte nachgesucht hat und sich daraus ein der Überstellung entgegenstehendes Hindernis ergeben kann. In einem solchen Fall muss der Haftrichter den Stand und voraussichtlichen Fortgang des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens aufklären ([X.], Beschlüsse vom 7. April 2020 - [X.] 53/19, juris Rn. 14, und [X.] 64/19, juris Rn. 6). Dass dem Beschwerdegericht bekannt gewesen wäre, dass der Betroffene im Hinblick auf die Einhaltung der Überstellungsfrist um verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz nachgesucht hätte, wird jedoch von der Rechtsbeschwerde nicht geltend gemacht und ist auch nicht ersichtlich.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen.

[X.]     

      

Schmidt-Räntsch     

      

Kirchhoff

      

Picker     

      

Rombach     

      

Meta

XIII ZB 39/19

24.06.2020

Bundesgerichtshof 13. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Hannover, 22. August 2018, Az: 8 T 67/17

§ 417 Abs 2 S 2 Nr 4 FamFG, § 106 Abs 2 S 2 AufenthG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 24.06.2020, Az. XIII ZB 39/19 (REWIS RS 2020, 1094)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2020, 1094

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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