Bundesfinanzhof, Urteil vom 30.01.2014, Az. V R 38/11

5. Senat | REWIS RS 2014, 8251

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Gegenstand

Kindergeldanspruch einer Grenzgängerin


Leitsatz

NV: Der inländische Kindergeldanspruch wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass Deutschland als Wohnsitzstaat im Hinblick auf die Gewährung von Familienleistungen nach der VO Nr. 1408/71 der an sich unzuständige Mitgliedstaat ist (Anschluss an BFH-Urteil vom 16. Mai 2013 III R 8/11, unter II.2.).

Tatbestand

1

I. Streitig ist die Rechtmäßigkeit der Aufhebung einer Festsetzung von sog. Differenzkindergeld und die hierauf gestützte Rückforderung des Kindergeldes.

2

Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine [X.] Staatsangehörige, hatte im [X.]raum von April 2005 bis Juni 2007 (Streitzeitraum) zusammen mit ihrem Ehemann und ihrem gemeinsamen minderjährigen Kind L (Kind) einen Wohnsitz im Inland. In dieser [X.] übte die Klägerin sowohl in der [X.] --Deutschland-- (Inland) als auch in den [X.] eine selbständige Tätigkeit aus. Zudem ging sie in den [X.] aufgrund eines Arbeitsvertrags vom 31. März 2005 einer nicht selbständigen Tätigkeit nach. Der Vater erhielt im streitigen [X.]raum aufgrund seiner in den [X.] ausgeübten nichtselbständigen Tätigkeit für das Kind vierteljährlich eine [X.] Familienleistung ("[X.]") in Höhe von 285,01 € (monatlich 95 €). Zudem bezog die Klägerin in diesem [X.]raum im Inland für das Kind monatlich Kindergeld als Unterschiedsbetrag zum Kindergeld nach [X.]m Recht in Höhe von monatlich 59 €.

3

Mit Bescheid vom 1. September 2008 hob die frühere Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) die Kindergeldfestsetzung u.a. für das Kind für den Streitzeitraum auf und forderte das gezahlte Kindergeld in Höhe von 1.593 € (59 € für 27 Monate) zurück. Nach erfolglosem Einspruchsverfahren gab das Finanzgericht ([X.]) der dagegen gerichteten Klage durch Urteil aus den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 1004 veröffentlichten Gründen statt und hob den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 1. September 2008 sowie die Einspruchsentscheidung vom 26. September 2008 auf. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass die Voraussetzungen für einen inländischen Kindergeldanspruch nach § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 des Einkommensteuergesetzes (EStG) vorlägen. Dieser Anspruch werde nicht verdrängt durch die ausschließliche [X.] der [X.] für Familienleistungen nach der Verordnung ([X.]) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der [X.] zu- und abwandern (Amtsblatt der Europäischen [X.]en --ABl[X.]-- 1997 Nr. L 149, S. 2) in ihrer durch die Verordnung ([X.]) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl[X.] 1997 Nr. L 28, S. 1) geänderten und konsolidierten Fassung (VO Nr. 1408/71). Die Klägerin unterliege dem persönlichen Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71, weil sie in den [X.] sozialversichert gewesen sei. Wegen ihrer dort ausgeübten Erwerbstätigkeit seien nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der [X.] 1408/71 ausschließlich die Rechtsvorschriften des [X.] anwendbar, sodass der Anspruch auf Familienleistungen nach dem Recht der [X.] bestehe. Da der inländische Kindergeldanspruch trotz der [X.] der [X.] nicht verdrängt werde (Urteil des Gerichtshofs der [X.] --[X.]-- vom 20. Mai 2008 [X.]/06, [X.], [X.]. 2008, [X.]), müsse die Vervielfachung der Ansprüche nach der gemeinschaftsrechtlichen Antikumulierungsregelung des Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung ([X.]) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der VO Nr. 1408/71 --ABl[X.] 1997 Nr. L 28, S. 1-- ([X.] 574/72) vermieden werden. Danach ruhe der Kindergeldanspruch im Wohnsitzstaat bis zur Höhe der im Beschäftigungsstaat geschuldeten Familienleistung. Soweit dem Ehemann der Klägerin in den [X.] Kindergeld im Streitzeitraum (monatlich 95 €) gewährt worden sei, habe die Klägerin demnach einen inländischen ([X.] von monatlich 59 €.

4

Mit der Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts. Die Eröffnung des Anwendungsbereichs der [X.] 1408/71 führe im [X.] als vom [X.] angenommen-- zum Ausschluss des inländischen [X.]. Zwar habe der [X.] durch das Urteil [X.] in [X.]. 2008, [X.] entschieden, dass dem Bezug von Familienleistungen im Wohnsitzstaat die Eingliederung eines Wanderarbeitnehmers in das System der sozialen Sicherheit des [X.] nicht entgegenstehe. Dies komme aber nur dann in Betracht, wenn trotz der [X.] des [X.] in diesem keine Familienleistungen gewährt würden (z.B. wegen Überschreitung einer Alters- oder Einkommensgrenze) und zugleich aber im Wohnsitzstaat ein Anspruch auf Kindergeld bestehe ([X.] vom 6. Mai 2009 [X.] 2-[X.] 2020-13/08, [X.], 541). Im Streitfall habe jedoch ein Anspruch auf Familienleistungen im [X.] ([X.]) bestanden und sei auch gewährt worden, so dass der inländische Kindergeldanspruch (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG) ausgeschlossen sei.

5

Die Familienkasse beantragt,
das Urteil des Niedersächsischen [X.] vom 21. Dezember 2011 12 K 414/08 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

6

Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

7

II. Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--).

8

1. Der während des Revisionsverfahrens durch den Beschluss des [X.] vom 18. April 2013 Nr. 21/2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes (Amtliche Nachrichten der [X.], Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff.) eingetretene [X.] auf die Beklagte führt zu einem gesetzlichen Beteiligtenwechsel (vgl. z.B. Urteil des [X.] --[X.]-- vom 22. August 2007 [X.], [X.], 533, [X.], 109, m.w.N.). Das Rubrum des Verfahrens ist deshalb zu ändern.

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2. Das [X.] hat den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid für die Kindergeldfestsetzung April 2005 bis Juni 2007 vom 1. September 2008 sowie die Einspruchsentscheidung vom 26. September 2008 zu Recht aufgehoben. Die Klägerin hat für diesen Zeitraum einen Anspruch auf inländisches Differenzkindergeld in Höhe von monatlich 59 €.

a) Die im Inland wohnhafte Klägerin erfüllt, was zwischen den Beteiligten unstrittig ist, die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Kindergeld für ihr gleichfalls im Inland wohnendes und daher nach § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG i.V.m. § 32 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2, § 32 Abs. 3 EStG zu berücksichtigendes Kind. Darüber hinaus ist die Eröffnung des Anwendungsbereichs der [X.] 1408/71 sowie eine daraus resultierende Rechtszuständigkeit des Beschäftigungsmitgliedstaats ([X.]) für Familienleistungen nicht im Streit.

b) Der inländische Kindergeldanspruch wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass [X.] als Wohnsitzstaat im Hinblick auf die Gewährung der Familienleistungen der an sich unzuständige Mitgliedstaat ist (Art. 13 Abs. 2 Buchst. a, Art. 73 der [X.] 1408/71). Denn die ausschließliche Rechtszuständigkeit der [X.] nach der [X.] 1408/71 entfaltet keine Sperrwirkung für die Anwendung des Rechts des nicht zuständigen Mitgliedstaats ([X.]). Der [X.] hat seine gegenteilige Ansicht aufgegeben ([X.]-Urteil vom 16. Mai 2013 III R 8/11, [X.], 511, [X.], 1040, unter II.2.; zustimmend [X.]-Urteile vom 11. Juli 2013 VI R 68/11, [X.], 206, und vom 5. September 2013 XI R 52/10, [X.], 33, unter Rz 29). Der erkennende Senat schließt sich --im Hinblick auf die [X.] in [X.]. 2008, [X.], Rdnr. 33 und vom 12. Juni 2012 [X.]/10, [X.]/10, [X.] und [X.] ([X.]Entscheidungsdienst --DStRE-- 2012, 999, [X.]. 56 f.)-- der geänderten Auffassung aus den im Urteil des [X.] in [X.], 511, [X.], 1040, unter II.2. genannten Gründen an.

c) Entgegen der Ansicht der Familienkasse ist der inländische Kindergeldanspruch auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil im Streitfall ein Anspruch auf Familienleistungen im zuständigen Mitgliedstaat ([X.]) bestanden hat. Unter Berücksichtigung des EuGH-Urteils [X.] und [X.] in [X.], 999, Rdnr. 68 ist das EuGH-Urteil [X.] in [X.]. 2008, [X.], Rdnr. 33 nicht in dem Sinne zu verstehen, dass der nicht zuständige Mitgliedstaat (hier: [X.]) nur dann Familienleistungen zu erbringen hat, wenn im zuständigen Mitgliedstaat (hier: [X.]) der Anspruch auf Familienleistungen ausgeschlossen ist (z.B. wegen Überschreitung einer Alters- oder Einkommensgrenze). Dem hat sich zwischenzeitlich auch die Verwaltung angeschlossen (vgl. Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes, Abschn. 65.2 Abs. 2 Satz 4 --Stand 2013--).

d) Allerdings beschränkt sich der Anspruch auf Kindergeld für das Kind im Streitzeitraum auf monatlich 59 €. Das [X.] geht zu Recht davon aus, dass die Konkurrenz zwischen der [X.] und der inländischen Familienleistung nicht nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, sondern nach der vorrangig anzuwendenden gemeinschaftsrechtlichen Antikumulierungsregelung des Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der [X.] 574/72 aufzulösen ist (vgl. dazu EuGH-Urteil [X.] und [X.] in [X.], 999, [X.]. 73 f.; [X.]-Urteil vom 18. Juli 2013 III R 51/09, [X.]/NV 2013, 1973, Rz 19 f.). Danach ruht der inländische Kindergeldanspruch der Klägerin, dessen Gewährung im Inland nicht von einer Versicherung, Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit abhängig ist, nur bis zur Höhe der in den [X.]n für denselben Zeitraum (April 2005 bis Juni 2007) und für dasselbe Kind geschuldeten Familienleistungen. Daher ruht im Streitzeitraum der inländische Kindergeldanspruch (monatlich 154 €) in Höhe der vierteljährlich dem Ehemann der Klägerin gewährten [X.] Familienleistung ("[X.]") von 285,01 € (monatlich 95 €).

3. Sollte das Begehren der Klägerin im Revisionsverfahren darauf gerichtet sei, einen Anspruch über das Differenzkindergeld hinaus auf volles Kindergeld in Höhe von monatlich 154 € zu haben, könnte der erkennende Senat darüber aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht entscheiden. Aus dem Zweck des Revisionsverfahrens folgt nämlich, dass das Revisionsbegehren nicht über das Klagebegehren hinausgehen darf (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl. 2010, § 120 Rz 56). Im Klageverfahren hatte sich die Klägerin mit ihrer Anfechtungsklage aber ausschließlich gegen die Höhe des aufgehobenen [X.] (monatlich 59 €) gewandt, ohne darüber hinaus zugleich volles Kindergeld zu begehren.

Meta

V R 38/11

30.01.2014

Bundesfinanzhof 5. Senat

Urteil

vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht, 21. Dezember 2010, Az: 12 K 414/08, Urteil

§ 32 Abs 1 EStG 2002, § 32 Abs 3 EStG 2002, § 63 Abs 1 S 1 Nr 1 EStG 2002, § 63 Abs 1 S 2 EStG 2002, § 65 Abs 1 S 1 Nr 2 EStG 2002, Art 13 Abs 2 Buchst a EWGV 1408/71, Art 73 EWGV 1408/71, Art 10 Abs 1 Buchst a EWGV 574/72, EStG VZ 2005

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 30.01.2014, Az. V R 38/11 (REWIS RS 2014, 8251)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 8251

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