Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 15.05.2018, Az. VI ZR 231/17

VI. Zivilsenat | REWIS RS 2018, 9162

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[X.]:[X.]:[X.]:2018:150518UVIZR231.17.0

BUN[X.]SGERICHTSHOF

IM NAMEN [X.]S VOLKES

URTEIL
VI [X.]
Verkündet am:

15. Mai 2018

Olovcic

Justizangestellte

als Urkundsbeamtin

der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit

Nachschlagewerk:
ja
[X.]Z:
nein
[X.]R:
ja

StVG § 17; [X.] § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1
"Anderer Verkehrsteilnehmer" im Sinne der § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 [X.] ist jede Person, die sich selbst verkehrserheblich verhält, d.h. körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirkt. Darunter fällt nicht nur der fließende Durchgangsverkehr auf der Straße, sondern [X.] auch derjenige, der auf der anderen Straßenseite vom Fahrbahnrand anfährt.
[X.], Urteil vom 15. Mai 2018 -
VI [X.] -
LG [X.]

[X.]

-

2

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Der VI.
Zivilsenat des [X.] hat auf die mündliche Verhandlung vom
15. Mai 2018
durch den Vorsitzenden [X.],
die Richterinnen von [X.] und [X.] sowie [X.] [X.] und Dr. Allgayer
für Recht erkannt:
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil der 6. Zivilkammer des [X.] vom 18. Mai 2017 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Von Rechts wegen

Tatbestand:
Die Klägerin nimmt die [X.] auf Ersatz weiteren Sachschadens nach einem Verkehrsunfall
in Anspruch.
Die Klägerin hatte ihr Fahrzeug vorwärts auf einem rechtwinklig zur Fahrbahn angeordneten Parkplatz
geparkt. Der Beklagte zu 2 hatte sein von dem
[X.] zu
1 gehaltenes und bei der [X.] zu 3 haftpflichtversicher-tes Fahrzeug am gegenüberliegenden Fahrbahnrand entgegen der Fahrtrich-tung
abgestellt;
vor seinem
Fahrzeug stand ein weiteres Fahrzeug. Die Klägerin parkte rückwärts in einem Linksbogen mit der Absicht aus, sodann auf der [X.] in Fahrtrichtung weiterzufahren. Dabei kollidierte sie mit dem [X.] zu 2, der ebenfalls rückwärts fuhr, um ausparken zu können.
Zum Zeit-punkt des Zusammenstoßes befand sich das Fahrzeug des [X.] zu 2 noch in Rückwärtsbewegung.
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Vorgerichtlich regulierte die Beklagte zu 3 die der Höhe nach nicht mehr in Streit stehenden
Schadenspositionen der Klägerin auf der Grundlage einer Haftungsquote von einem Drittel zu deren Lasten. Mit ihrer Klage macht die Klägerin -
soweit im Revisionsverfahren noch von Interesse -
die restlichen zwei Drittel geltend.
Das Amtsgericht hat der Klage auf der Grundlage einer Haftungsquote von 50 % teilweise stattgegeben.
Die Berufung der Klägerin hat das [X.] zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Ansprüche Zinsen und Freistellung von Anwaltskosten) weiter.

Entscheidungsgründe:
I.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts steht der Klägerin über den vom Amtsgericht auf der Grundlage einer Haftungsquote von 50 % zugesprochenen Betrag kein weitergehender Schadensersatzanspruch zu.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hätten sowohl die Klägerin als auch der Beklagte zu 2 gegen ihre Sorgfaltspflichten aus § 9 Abs.
5, § 10 Satz
1 [X.] verstoßen.
Die Klägerin habe rückwärts über beide Fahrbahnen [X.], obwohl sie zuvor erkannt gehabt habe, dass der Beklagte zu 2 zu seinem Auto gegangen und eingestiegen sei und vor einer Weiterfahrt zunächst würde zurückstoßen müssen. Der Beklagte zu 2 sei
aus
seiner Parkposition heraus über eine Strecke von ca. zehn Metern rückwärts gefahren, ohne den rückwärtigen Verkehrsraum mit der erforderlichen besonders hohen Sorgfalt zu 3
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beobachten. Dabei habe er seine Rückwärtsfahrt begonnen, als die Klägerin ihren Rückwärtsfahrvorgang etwa zur Hälfte abgeschlossen gehabt habe.
Die gesteigerten Sorgfaltspflichten der § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 [X.] gäl-ten nicht nur gegenüber dem fließenden Durchgangsverkehr auf der Straße, sondern gegenüber allen anderen Verkehrsteilnehmern und damit auch für die vorliegende Konstellation einer Kollision zwischen einem aus einem Parkplatz
rückwärts auf die Straße einfahrenden Fahrzeug und einem am [X.] Fahrbahnrand rückwärts ausparkenden weiteren Fahrzeug. Dagegen fände die Rechtsprechung des [X.] zu den sog. Parkplatz-Unfällen hier keine Anwendung. Selbst wenn man der Auffassung folgen wolle, dass § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 [X.] allein den fließenden Verkehr schützten, [X.] dies zu keinem anderen Ergebnis, da sich
beide Verkehrsteilnehmer dann am Maßstab des § 1 Abs. 2 [X.] (Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme) messen lassen müssten.
Unter Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge sei eine [X.] von 50:50 angemessen (§ 17 Abs. 1 StVG).

II.
Die Revision ist unbegründet.
1. Die Entscheidung über die Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG ist -
wie im Rahmen des § 254 BGB -
Sache des Tatrichters und im [X.] nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Um-stände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zuläs-sige Erwägungen zugrunde gelegt worden sind (Senatsurteile vom
11. Oktober 2016 -
VI [X.], [X.], 1175 Rn. 7; vom 26. Januar 2016 -
VI ZR 7
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179/15, NJW 2016, 1100 Rn. 10; vom 27. Mai
2014 -
VI [X.], NJW 2014, 3097 Rn. 18). Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten, das heißt unstrei-tigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzel-falls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. In erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben. Ein Faktor bei der Abwägung ist [X.] das beiderseitige Verschulden (Senatsurteile vom 11. Oktober 2016 -
VI [X.], aaO; vom 26. Januar 2016 -
VI
ZR 179/15, aaO; vom 27. Mai 2014
-
VI
[X.], aaO).
2. Nach diesen Grundsätzen sind die Erwägungen des Berufungsge-richts nicht zu beanstanden.
a) [X.] hat das Berufungsgericht auch der Klägerin im Verhältnis zum [X.] zu 2 einen Verstoß gegen §
9 Abs. 5,
§ 10 Satz 1 [X.] zur Last gelegt. Nach § 9 Abs.
5 [X.] hat sich der Führer eines Fahr-zeugs beim Rückwärtsfahren, nach § 10 Satz 1 [X.] derjenige, der von einem Straßenteil
-
hier einem Parkplatz -
auf die Fahrbahn einfährt, so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. "Ande-rer
Verkehrsteilnehmer"
ist
jede Person, die sich selbst verkehrserheblich ver-hält, d.h. körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirkt
(vgl. [X.], Beschluss vom 25.
November 1959 -
4 [X.], [X.]St
14, 24, 27
zu § 1 [X.]; [X.] in [X.]/[X.]/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl., § 1 [X.] Rn. 17 mwN). Darunter fällt zwar "primär"
(Senatsurteil vom 15. Dezember 2015 -
VI [X.], NJW 2016, 1098 Rn. 11) und "insbesondere"
([X.], Urteil vom 25.
April 1985 -
III ZR 53/84, NJW-RR 1986, 189, 190), aber nicht nur der fließende Durchgangsverkehr auf der Straße, sondern jedenfalls auch derjenige, der -
wie hier der Beklagte zu 2
-
auf der anderen Straßenseite selbst ein Fahrmanöver durchführt, um vom Fahrbahnrand anzufahren
(vgl. 11
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OLG Karlsruhe, NJW-RR 2016, 352 Rn.
15;
LG [X.], NJW-RR 2016, 1431, 1432; [X.], aaO, § 10
[X.] Rn.
4, 10; [X.] in Freymann/[X.], jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 2016, § 10 [X.] Rn.
50).
Soweit ein Teil der instanzgerichtlichen Rechtsprechung ([X.], [X.], 461; [X.], [X.], 249 [zu § 17 [X.] aF]; [X.], Urteil vom 17. November 2017 -
306 [X.], juris Rn. 12; [X.],
Urteil vom 10.
Dezember 2010 -
13 [X.]/10, juris Rn. 7 f.) sowie der Lite-
ratur (Burmann in Burmann/[X.]/[X.]/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 25.
Aufl., § 10 [X.] Rn. 2) das Bestehen der besonderen Sorgfaltspflichten aus § 9 Abs. 5, § 10 Satz
1 [X.] allein gegenüber dem fließenden Verkehr [X.], weil allein im
Verhältnis zu diesem wegen der dort typischerweise be-stehenden höheren Geschwindigkeiten eine besondere Gefahrensituation be-stehe, ist diese Auffassung mit dem Wortlaut der genannten Normen nicht
ver-einbar, nach dem unterschiedslos die Gefährdung "anderer [X.]"
auszuschließen ist.
Entsprechend ist in Rechtsprechung und Literatur im Grundsatz anerkannt, dass die besonderen Sorgfaltspflichten der §
9 Abs. 5, §
10 Satz 1 [X.] auch gegenüber Fußgängern Platz greifen
([X.], [X.], 298; KG, VM
1986, 86; [X.], aaO, § 10 [X.] Rn. 4; Burmann, aaO, §
10 [X.] Rn. 2; [X.], aaO, §
10 [X.] Rn.
46; [X.] in MüKoStVR, § 10 [X.] Rn. 6; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], Verkehrsrecht,
Stand August 2015, § 10 [X.] Rn. 4;
Greger in [X.], Haftungsrecht des [X.], 5.
Aufl., § 14 Rn. 220; einschränkend gegenüber dem in der Fahr-zeugtür des parkenden Autos stehenden oder
am Fahrbahnrand wartenden [X.], [X.], 96;
[X.], [X.], 72, 73). Nichts anderes kann im Verhältnis zu -
wenngleich gegebenenfalls langsam -
anderen auf die Straße einfahrenden oder am Straßenrand anfahrenden Kraftfahrzeugen gel-ten.
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b) Der danach der Klägerin zur Last fallende Verstoß gegen die beson-deren Sorgfaltspflichten der § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 [X.] entfällt auch nicht ausnahmsweise deshalb, weil diese mit dem atypischen groben Verkehrsver-stoß des [X.] zu 2 (Rückwärtsfahren des gegen die Fahrtrichtung [X.] über zehn Meter) nicht hätte rechnen müssen (vgl. hierzu KG, [X.], 382; [X.], [X.], 487, 488). Nach den [X.] hatte die Klägerin den [X.] zu 2 nämlich beim Einsteigen in sein Fahrzeug ebenso wahrgenommen wie den
Umstand, dass dieser vor einer Weiterfahrt zunächst werde rückwärtsfahren müssen. Gleichwohl ist sie selbst rückwärts in dessen Fahrbahn eingekreuzt, wobei sie ihre Rückwärtsfahrt erst zur Hälfte beendet hatte, als der Beklagte zu 2 seiner-seits rückwärts anfuhr.
c) Nichts anderes ergibt sich entgegen der Auffassung der Revision aus dem Umstand, dass die Klägerin ihre Rückwärtsfahrt zum Zeitpunkt der [X.] bereits beendet hatte und stand, als der Beklagte zu 2 rückwärts in sie [X.]. Dabei kann offen bleiben, ob dies schon deshalb gilt, weil der am Fahr-bahnrand anfahrende Beklagte zu 2 -
anders als in der Situation auf einem Parkplatz -
im Streitfall grundsätzlich darauf vertrauen
durfte, dass sein Ver-kehrsfluss nicht durch ein rückwärtsfahrendes
Fahrzeug gestört würde
(vgl. hierzu Senatsurteile
vom 11.
Oktober 2016 -
VI
[X.], aaO Rn. 10; vom 15.
Dezember 2015 -
VI [X.], aaO
Rn.
15). Jedenfalls aber scheidet die Annahme eines
allein auf das noch nicht beendete Rückwärtsfahren des [X.] zu 2 gestützten
Anscheinsbeweises
aus, weil die vorgenannten Beson-derheiten des festgestellten gesamten Unfallgeschehens gegen eine Typizität zu Lasten des [X.] zu 2 sprechen (vgl. Senatsurteil vom 15.
Dezember 2015
-
VI [X.], aaO Rn.
14).
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15
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d) Etwas anderes ergäbe sich, worauf das Berufungsgericht zu Recht hinweist, im Streitfall im Übrigen auch nicht nach dem subsidiär anwendbaren allgemeinen Rücksichtnahmegebot aus § 1 Abs. 2 [X.]. Wären § 9 Abs. 5, §
10 Satz 1 [X.] auf die vorliegende Sachverhaltskonstellation nicht anwend-bar, entfielen die daraus abzuleitenden besonderen Sorgfaltspflichten nämlich nicht nur für die Klägerin, sondern auch für den [X.] zu 2. Die vom [X.] angenommene Gleichwertigkeit der Verursachungsbeiträge der beiden Unfallbeteiligten ergäbe sich somit lediglich in Anwendung eines ande-ren, für beide Seiten jedoch erneut gleichen Sorgfaltsmaßstabes.
e) Die Abwägung der festgestellten Verursachungsbeiträge sowie die [X.] beruhende Festsetzung der konkreten Haftungsquote als solche ist Tatfra-ge und revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Galke
von [X.]
Roloff

[X.]
Allgayer

Vorinstanzen:
[X.], Entscheidung vom 27.10.2016 -
10 C 1932/16 -

LG [X.], Entscheidung vom 18.05.2017 -
Bm 6 S 45/16 -

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Meta

VI ZR 231/17

15.05.2018

Bundesgerichtshof VI. Zivilsenat

Sachgebiet: ZR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 15.05.2018, Az. VI ZR 231/17 (REWIS RS 2018, 9162)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2018, 9162

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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