Bundesgerichtshof, Urteil vom 15.05.2018, Az. VI ZR 231/17

6. Zivilsenat | REWIS RS 2018, 9195

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Gegenstand

Haftung bei Kfz-Unfall: Begriff des anderen Verkehrsteilnehmers im Zusammenhang mit den Sorgfaltspflichten beim Rückwärtsfahren


Leitsatz

"Anderer Verkehrsteilnehmer" im Sinne der § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 StVO ist jede Person, die sich selbst verkehrserheblich verhält, d.h. körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirkt. Darunter fällt nicht nur der fließende Durchgangsverkehr auf der Straße, sondern jedenfalls auch derjenige, der auf der anderen Straßenseite vom Fahrbahnrand anfährt.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil der 6. Zivilkammer des [X.] vom 18. Mai 2017 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Von Rechts wegen

Tatbestand

1

Die Klägerin nimmt die [X.] auf Ersatz weiteren Sachschadens nach einem Verkehrsunfall in Anspruch.

2

Die Klägerin hatte ihr Fahrzeug vorwärts auf einem rechtwinklig zur Fahrbahn angeordneten Parkplatz geparkt. Der Beklagte zu 2 hatte sein von dem [X.] zu 1 gehaltenes und bei der [X.] zu 3 haftpflichtversichertes Fahrzeug am gegenüberliegenden Fahrbahnrand entgegen der Fahrtrichtung abgestellt; vor seinem Fahrzeug stand ein weiteres Fahrzeug. Die Klägerin parkte rückwärts in einem Linksbogen mit der Absicht aus, sodann auf der Gegenfahrbahn in Fahrtrichtung weiterzufahren. Dabei kollidierte sie mit dem [X.] zu 2, der ebenfalls rückwärts fuhr, um ausparken zu können. Zum Zeitpunkt des Zusammenstoßes befand sich das Fahrzeug des [X.] zu 2 noch in Rückwärtsbewegung.

3

[X.] regulierte die Beklagte zu 3 die der Höhe nach nicht mehr in Streit stehenden Schadenspositionen der Klägerin auf der Grundlage einer Haftungsquote von einem Drittel zu deren Lasten. Mit ihrer Klage macht die Klägerin - soweit im Revisionsverfahren noch von Interesse - die restlichen zwei Drittel geltend.

4

Das Amtsgericht hat der Klage auf der Grundlage einer Haftungsquote von 50 % teilweise stattgegeben. Die Berufung der Klägerin hat das [X.] zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Ansprüche (Zahlung von weiteren 889,91 € zuzüglich Zinsen und Freistellung von Anwaltskosten) weiter.

Entscheidungsgründe

I.

5

Nach Auffassung des Berufungsgerichts steht der Klägerin über den vom Amtsgericht auf der Grundlage einer Haftungsquote von 50 % zugesprochenen Betrag kein weitergehender Schadensersatzanspruch zu.

6

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme hätten sowohl die Klägerin als auch der Beklagte zu 2 gegen ihre Sorgfaltspflichten aus § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 [X.] verstoßen. Die Klägerin habe rückwärts über beide Fahrbahnen [X.], obwohl sie zuvor erkannt gehabt habe, dass der Beklagte zu 2 zu seinem Auto gegangen und eingestiegen sei und vor einer Weiterfahrt zunächst würde zurückstoßen müssen. Der Beklagte zu 2 sei aus seiner Parkposition heraus über eine Strecke von ca. zehn Metern rückwärts gefahren, ohne den rückwärtigen Verkehrsraum mit der erforderlichen besonders hohen Sorgfalt zu beobachten. Dabei habe er seine Rückwärtsfahrt begonnen, als die Klägerin ihren Rückwärtsfahrvorgang etwa zur Hälfte abgeschlossen gehabt habe.

7

Die gesteigerten Sorgfaltspflichten der § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 [X.] gälten nicht nur gegenüber dem fließenden Durchgangsverkehr auf der [X.], sondern gegenüber allen anderen Verkehrsteilnehmern und damit auch für die vorliegende Konstellation einer Kollision zwischen einem aus einem Parkplatz rückwärts auf die [X.] einfahrenden Fahrzeug und einem am gegenüberliegenden Fahrbahnrand rückwärts ausparkenden weiteren Fahrzeug. Dagegen fände die Rechtsprechung des [X.] zu den sog. Parkplatz-Unfällen hier keine Anwendung. Selbst wenn man der Auffassung folgen wolle, dass § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 [X.] allein den fließenden Verkehr schützten, führe dies zu keinem anderen Ergebnis, da sich beide Verkehrsteilnehmer dann am Maßstab des § 1 Abs. 2 [X.] (Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme) messen lassen müssten.

8

Unter Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge sei eine Haftungsquote von 50:50 angemessen (§ 17 Abs. 1 StVG).

II.

9

Die Revision ist unbegründet.

1. Die Entscheidung über die Haftungsverteilung im Rahmen des § 17 StVG ist - wie im Rahmen des § 254 BGB - Sache des Tatrichters und im Revisionsverfahren nur darauf zu überprüfen, ob alle in Betracht kommenden Umstände vollständig und richtig berücksichtigt und der Abwägung rechtlich zulässige Erwägungen zugrunde gelegt worden sind (Senatsurteile vom 11. Oktober 2016 - [X.], [X.], 1175 Rn. 7; vom 26. Januar 2016 - [X.], NJW 2016, 1100 Rn. 10; vom 27. Mai 2014 - [X.], NJW 2014, 3097 Rn. 18). Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten, das heißt unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umstände des Einzelfalls vorzunehmen, die sich auf den Unfall ausgewirkt haben. In erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben. Ein Faktor bei der Abwägung ist dabei das beiderseitige Verschulden (Senatsurteile vom 11. Oktober 2016 - [X.], aaO; vom 26. Januar 2016 - [X.], aaO; vom 27. Mai 2014 - [X.], aaO).

2. Nach diesen Grundsätzen sind die Erwägungen des Berufungsgerichts nicht zu beanstanden.

a) [X.] hat das Berufungsgericht auch der Klägerin im Verhältnis zum Beklagten zu 2 einen Verstoß gegen § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 [X.] zur Last gelegt. Nach § 9 Abs. 5 [X.] hat sich der Führer eines Fahrzeugs beim Rückwärtsfahren, nach § 10 Satz 1 [X.] derjenige, der von einem [X.]nteil - hier einem Parkplatz - auf die Fahrbahn einfährt, so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. "Anderer Verkehrsteilnehmer" ist jede Person, die sich selbst verkehrserheblich verhält, d.h. körperlich und unmittelbar auf den Ablauf eines Verkehrsvorgangs einwirkt (vgl. [X.], Beschluss vom 25. November 1959 - 4 [X.], [X.]St 14, 24, 27 zu § 1 [X.]; [X.] in [X.]/[X.]/Dauer, [X.]nverkehrsrecht, 44. Aufl., § 1 [X.] Rn. 17 mwN). Darunter fällt zwar "primär" (Senatsurteil vom 15. Dezember 2015 - [X.], NJW 2016, 1098 Rn. 11) und "insbesondere" ([X.], Urteil vom 25. April 1985 - [X.], NJW-RR 1986, 189, 190), aber nicht nur der fließende Durchgangsverkehr auf der [X.], sondern jedenfalls auch derjenige, der - wie hier der Beklagte zu 2 - auf der anderen [X.]nseite selbst ein Fahrmanöver durchführt, um vom Fahrbahnrand anzufahren (vgl. [X.], NJW-RR 2016, 352 Rn. 15; [X.], NJW-RR 2016, 1431, 1432; [X.], aaO, § 10 [X.] Rn. 4, 10; [X.] in Freymann/[X.], jurisPK-[X.]nverkehrsrecht, 2016, § 10 [X.] Rn. 50).

Soweit ein Teil der instanzgerichtlichen Rechtsprechung ([X.], [X.], 461; [X.], [X.], 249 [zu § 17 [X.] aF]; [X.], Urteil vom 17. November 2017 - 306 S 1/17, juris Rn. 12; [X.], Urteil vom 10. Dezember 2010 - 13 S 80/10, juris Rn. 7 f.) sowie der Literatur (Burmann in Burmann/[X.]/[X.]/Jahnke, [X.]nverkehrsrecht, 25. Aufl., § 10 [X.] Rn. 2) das Bestehen der besonderen Sorgfaltspflichten aus § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 [X.] allein gegenüber dem fließenden Verkehr annimmt, weil allein im Verhältnis zu diesem wegen der dort typischerweise bestehenden höheren Geschwindigkeiten eine besondere Gefahrensituation bestehe, ist diese Auffassung mit dem Wortlaut der genannten Normen nicht vereinbar, nach dem unterschiedslos die Gefährdung "anderer Verkehrsteilnehmer" auszuschließen ist. Entsprechend ist in Rechtsprechung und Literatur im Grundsatz anerkannt, dass die besonderen Sorgfaltspflichten der § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 [X.] auch gegenüber Fußgängern Platz greifen ([X.], [X.], 298; KG, [X.] 1986, 86; [X.], aaO, § 10 [X.] Rn. 4; Burmann, aaO, § 10 [X.] Rn. 2; [X.], aaO, § 10 [X.] Rn. 46; [X.] in MüKoStVR, § 10 [X.] Rn. 6; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], Verkehrsrecht, Stand August 2015, § 10 [X.] Rn. 4; [X.] in [X.]/Zwickel, Haftungsrecht des [X.]nverkehrs, 5. Aufl., § 14 Rn. 220; einschränkend gegenüber dem in der Fahrzeugtür des parkenden Autos stehenden oder am Fahrbahnrand wartenden [X.], [X.], 96; [X.], [X.], 72, 73). Nichts anderes kann im Verhältnis zu - wenngleich gegebenenfalls langsam - anderen auf die [X.] einfahrenden oder am [X.]nrand anfahrenden Kraftfahrzeugen gelten.

b) Der danach der Klägerin zur Last fallende Verstoß gegen die besonderen Sorgfaltspflichten der § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 [X.] entfällt auch nicht ausnahmsweise deshalb, weil diese mit dem atypischen groben Verkehrsverstoß des Beklagten zu 2 (Rückwärtsfahren des gegen die Fahrtrichtung parkenden Fahrzeugs über zehn Meter) nicht hätte rechnen müssen (vgl. hierzu KG, [X.], 382; [X.], [X.], 487, 488). Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hatte die Klägerin den Beklagten zu 2 nämlich beim Einsteigen in sein Fahrzeug ebenso wahrgenommen wie den Umstand, dass dieser vor einer Weiterfahrt zunächst werde rückwärtsfahren müssen. Gleichwohl ist sie selbst rückwärts in dessen Fahrbahn eingekreuzt, wobei sie ihre Rückwärtsfahrt erst zur Hälfte beendet hatte, als der Beklagte zu 2 seinerseits rückwärts anfuhr.

c) Nichts anderes ergibt sich entgegen der Auffassung der Revision aus dem Umstand, dass die Klägerin ihre Rückwärtsfahrt zum Zeitpunkt der Kollision bereits beendet hatte und stand, als der Beklagte zu 2 rückwärts in sie hineinfuhr. Dabei kann offen bleiben, ob dies schon deshalb gilt, weil der am Fahrbahnrand anfahrende Beklagte zu 2 - anders als in der Situation auf einem Parkplatz - im Streitfall grundsätzlich darauf vertrauen durfte, dass sein Verkehrsfluss nicht durch ein rückwärtsfahrendes Fahrzeug gestört würde (vgl. hierzu Senatsurteile vom 11. Oktober 2016 - [X.], aaO Rn. 10; vom 15. Dezember 2015 - [X.], aaO Rn. 15). Jedenfalls aber scheidet die Annahme eines allein auf das noch nicht beendete Rückwärtsfahren des Beklagten zu 2 gestützten Anscheinsbeweises aus, weil die vorgenannten Besonderheiten des festgestellten gesamten Unfallgeschehens gegen eine Typizität zu Lasten des Beklagten zu 2 sprechen (vgl. Senatsurteil vom 15. Dezember 2015 - [X.], aaO Rn. 14).

d) Etwas anderes ergäbe sich, worauf das Berufungsgericht zu Recht hinweist, im Streitfall im Übrigen auch nicht nach dem subsidiär anwendbaren allgemeinen Rücksichtnahmegebot aus § 1 Abs. 2 [X.]. Wären § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 [X.] auf die vorliegende Sachverhaltskonstellation nicht anwendbar, entfielen die daraus abzuleitenden besonderen Sorgfaltspflichten nämlich nicht nur für die Klägerin, sondern auch für den Beklagten zu 2. Die vom Berufungsgericht angenommene Gleichwertigkeit der Verursachungsbeiträge der beiden Unfallbeteiligten ergäbe sich somit lediglich in Anwendung eines anderen, für beide Seiten jedoch erneut gleichen Sorgfaltsmaßstabes.

e) Die Abwägung der festgestellten Verursachungsbeiträge sowie die darauf beruhende Festsetzung der konkreten Haftungsquote als solche ist Tatfrage und revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

[X.]     

      

von [X.]     

      

[X.]

      

Klein     

      

Allgayer     

      

Meta

VI ZR 231/17

15.05.2018

Bundesgerichtshof 6. Zivilsenat

Urteil

Sachgebiet: ZR

vorgehend LG Heilbronn, 18. Mai 2017, Az: Bm 6 S 45/16

§ 17 StVG, § 9 Abs 5 StVO, § 10 S 1 StVO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 15.05.2018, Az. VI ZR 231/17 (REWIS RS 2018, 9195)

Papier­fundstellen: MDR 2018, 991-992 REWIS RS 2018, 9195

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