Bundessozialgericht, Urteil vom 11.08.2015, Az. B 9 SB 2/14 R

9. Senat | REWIS RS 2015, 6839

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Gegenstand

Schwerbehindertenrecht - Merkzeichen aG - Gleichstellung mit den in Abschn 2 Nr 1 zu § 46 Nr 11 StVOVwV genannten Personen - einseitig Oberschenkelamputierter - Kunstbein - dauernde Unzumutbarkeit der Nutzung einer Prothese - Regelbeispiel - Vermutungswirkung - individuelle Gleichstellungsprüfung - tatsachengerichtliche Würdigung - Gesamtbetrachtung - Gleichheitssatz - Versorgungsmedizinische Grundsätze - Verordnungsermächtigung - Übergangsregelung


Leitsatz

Bei schwerbehinderten Menschen mit einer einseitigen Oberschenkelamputation werden die Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "aG" nur vermutet, wenn sie nicht prothetisch versorgt werden können. Sie müssen ständig (immer) außerstande sein, ein Kunstbein zu tragen (Weiterführung von BSG vom 17.12.1997 - 9 RVs 16/96 = SozR 3-3870 § 4 Nr 22). Andernfalls hat auch bei dieser Gruppe eine individuelle Gleichstellungsprüfung unter Einbeziehung sämtlicher Gesundheitsstörungen zu erfolgen.

Tenor

Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 20. Mai 2014 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger außergewöhnlich gehbehindert ist.

2

Bei dem 1959 geborenen Kläger sind seit 1997 eine Schwerbehinderung (Grad der Behinderung von 80) sowie eine "erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr" (Merkzeichen "G") festgestellt. Beim Kläger liegt ein wechselndes Beschwerdebild am Oberschenkelstumpf vor, das dem Kläger die Benutzung seiner Prothese lediglich an [X.] der Tage ermöglicht. Das Versorgungsamt des beklagten [X.] anerkannte auf Antrag vom Januar 2011 beim Kläger einen GdB von 90 unter Berücksichtigung von Funktionsbeeinträchtigungen infolge eines Verlustes des Beines im rechten Oberschenkel mit einem Einzel-GdB von 80 sowie von Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule und Nervenwurzelreizerscheinungen mit einem Einzel-GdB von 20, verneinte aber das Vorliegen der Voraussetzungen der Merkzeichen "B" und "[X.]" (außergewöhnliche Gehbehinderung). Widerspruch, Klage und Berufung des [X.] blieben ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom [X.], Urteil des [X.] vom 8.11.2013; Urteil des L[X.] vom 20.5.2014). Zur Begründung hat das L[X.] ausgeführt, beim Kläger liege keine so weitgehende Einschränkung der Gehfähigkeit vor, wie sie für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "[X.]" erforderlich sei. Eine Gleichstellung mit behinderten Menschen, die ein Regelbeispiel erfüllen, komme nicht in Betracht, weil hierdurch eine zeitliche Reduzierung der Dauerhaftigkeit der Einschränkung der Fortbewegungsfähigkeit unter Umgehung der Annahme eines Regelbeispiels nicht erreicht werden könne.

3

Mit seiner Revision rügt der Kläger, er sei "dauernd außerstande" eine Prothese zu tragen und mit der Gruppe der außergewöhnlich Gehbehinderten in Ziff 129 f Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO) zu § 46 StVO gleichzustellen.

4

Der Kläger beantragt,
das Urteil des [X.] vom 20. Mai 2014 und das Urteil des [X.] vom 8. November 2013 aufzuheben sowie den Bescheid des Beklagten vom 25. Juli 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Januar 2012 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, bei dem Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "[X.]" festzustellen.

5

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

6

Der Beklagte hält das Urteil des L[X.] für zutreffend.

Entscheidungsgründe

7

Die zulässige Revision des [X.] ist im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das [X.] (§ 170 Abs 2 S 2 [X.][X.]) begründet. Der Kläger begehrt die Verpflichtung des beklagten [X.] [X.], unter Abänderung des Bescheids vom 25.7.2011 in der [X.]estalt des Widerspruchsbescheids vom [X.] (§ 95 [X.][X.]), mit Wirkung ab 8.1.2011 (Antragstellung) bei ihm die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "[X.]" festzustellen. Seine Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 1 S 1 [X.][X.]; siehe zur statthaften [X.] zuletzt [X.] vom 17.4.2013 - [X.] SB 3/12 R - Juris Rd[X.] 24 mwN) ist zulässig. Die bisherigen Tatsachenfeststellungen des [X.] lassen jedoch keine abschließende Entscheidung darüber zu, ob die Klage auch begründet und der Kläger außergewöhnlich gehbehindert ist. Beim Kläger liegt kein zur Zuerkennung des Merkzeichens "[X.]" führendes Regelbeispiel vor (dazu 1.). Ob der Kläger behinderten Menschen, bei denen dies der Fall ist, im Hinblick auf seinen [X.]esamtzustand gleichzustellen ist, kann mangels ausreichender Tatsachenfeststellungen nicht abschließend beurteilt werden (dazu 2.). Über das Vorliegen der Voraussetzungen des Merkzeichens "B" ist nicht mehr zu entscheiden, da der Kläger diesen Anspruch bereits vor dem [X.] nicht weiterverfolgt hat.

8

1. Beim Kläger liegt kein zur Zuerkennung des Merkzeichens "[X.]" führendes Regelbeispiel vor.

9

a) Rechtsgrundlage für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "[X.]" ist § 69 Abs 4 [X.]B IX idF des [X.] ([X.]). Danach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch weitere gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von [X.] für schwerbehinderte Menschen sind (siehe zur Zuständigkeit der Versorgungsverwaltung für die Feststellung der gesundheitlichen Merkmale: [X.] vom 6.10.1981 - 9 RVs 4/81 - Juris Rd[X.] 22 ff). Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche [X.]ehbehinderung iS des § 6 Abs 1 [X.] [X.] idF vom [X.] ([X.]) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "[X.]" einzutragen ist (§ 3 Abs 1 [X.]). Diese Feststellung zieht straßenverkehrsrechtlich die [X.]ewährung von [X.] iS von § 46 Abs 1 S 1 [X.] 1 StVO nach sich, insbesondere die Nutzung von gesondert ausgewiesenen "Behindertenparkplätzen" (die Kennzeichnung dieser Parkplätze erfolgt in der Regel durch die Zeichen 314 oder 315 mit den Zusatzzeichen "Rollstuhlfahrersymbol") und die Befreiung von verschiedenen Parkbeschränkungen (zB vom eingeschränkten Haltverbot für die [X.]er von drei Stunden; siehe zu weiteren Vergünstigungen [X.] vom [X.] - [X.]/9a S[X.]/06 R - Juris Rd[X.] 12 und Urteil vom 29.3.2007 - [X.]a SB 1/06 R - Juris Rd[X.] 15).

Ausgangspunkt für die Feststellung der außergewöhnlichen [X.]ehbehinderung ist Abschnitt [X.] zu § 46 Abs 1 [X.] in der ab dem [X.] gültigen Fassung vom 17.7.2009 (BAnz 2009, Beilage [X.] vom [X.]), die in der ab dem 18.11.2014 gültigen Fassung vom 17.11.2014 ([X.].BAnz [X.] 17.11.2014 [X.]) eine erneute Erweiterung insbesondere unter [X.] erfahren hat (siehe zu den Erweiterungen in Rd[X.] 136 bis 139 zu § 46 Abs 1 [X.] auch [X.], [X.] 21/2011 [X.]). Die [X.] selbst ist als allgemeine Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung nach Art 84 Abs 2 [X.][X.] wirksam erlassen worden (vgl B[X.]E 90, 180, 182 = [X.]-3250 § 69 [X.]). Danach ist außergewöhnlich gehbehindert iS des § 6 Abs 1 [X.] [X.], wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines [X.]fahrzeuges bewegen kann. Hierzu zählen

(1.)   

Querschnittsgelähmte, [X.], [X.], Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind - sog Regelbeispiele -, sowie

(2.)   

andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind - (vgl dazu [X.] vom [X.] - [X.]/9a S[X.]/06 R - Juris Rd[X.] 13 mwN) - sog [X.]leichstellungsfälle (zu deren Voraussetzung unter 2.).

Nach § 69 Abs 4 iVm § 69 Abs 1 S 5 [X.]B IX in der bis zum 14.1.2015 gültigen alten Fassung (aF) ist seit dem 21.12.2007 zusätzlich auf die aufgrund des § 30 Abs 17 (bzw Abs 16) [X.] erlassene Rechtsverordnung zur Durchführung des § 1 Abs 1 und 3, des § 30 Abs 1 und des § 35 Abs 1 [X.] ([X.] ) Bezug genommen, sodass seit dem 1.1.2009 die [X.] ([X.] 2412), zuletzt geändert durch die Fünfte Verordnung zur Änderung der VersMedV vom 11.10.2012 ([X.] 2122), auch für das Verfahren der Feststellung der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von [X.] heranzuziehen ist. Sie bindet als Rechtsverordnung Verwaltung und [X.]erichte ([X.] vom [X.] - [X.] SB 3/08 R - Juris Rd[X.] 27). Zwischenzeitlichen Bedenken an dieser Ermächtigung des Verordnungsgebers insbesondere zum Erlass von Vorgaben für die Beurteilung von [X.] (vgl [X.], [X.] 4/2009 [X.] 4) hat der [X.]esetzgeber mit dem [X.] ([X.]I 15) Rechnung getragen und in § 70 Abs 2 [X.]B IX eine eigenständige Ermächtigungsgrundlage geschaffen. Diese erlaubt es dem [X.] seit 15.1.2015 durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die [X.]rundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des [X.]dB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung verbleibt es insoweit bei der bisherigen Rechtslage (vgl § 159 Abs 7 [X.]B IX; hierzu BT-Drucks 18/2953 und 18/3190 S 5).

Die [X.]rundsätze für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche werden in den "Versorgungsmedizinischen [X.]rundsätzen" der Anlage zu § 2 VersMedV ([X.]) näher konkretisiert. Trotz der Bedenken an der Ermächtigung des Verordnungsgebers auf der [X.]rundlage des § 69 Abs 1 S 5 [X.]B IX aF (hierzu [X.], [X.] 4/2009 [X.] 4) sind diese Konkretisierungen verbindlich, zumal die zum 1.1.2009 in [X.] getretene [X.] ebenso wie die insoweit inhaltlich übereinstimmenden Anhaltspunkte für die ärztliche [X.]utachtertätigkeit im [X.] Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz antizipierte Sachverständigengutachten darstellen, die wegen ihrer normähnlichen Wirkungen wie untergesetzliche Normen anzuwenden sind (stRspr, zuletzt [X.] vom 16.12.2014 - [X.] SB 2/13 R - Rd[X.] 10 mwN; ebenso Loytved, [X.] 12/2015 [X.] 3). Im Übrigen übernimmt die [X.] in Teil D [X.] Buchst b) vollständig die Vorgaben der [X.] zum Merkzeichen "[X.]" und verweist in [X.] Buchst a) insoweit ausdrücklich auf das [X.], welches als Ermächtigungsgrundlage für die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens "[X.]" weiterhin bestehen bleibt. Zusätzlich ist in der [X.] unter Teil D [X.] Buchst c) folgende Ergänzung erfolgt:

        

"Die Annahme einer außergewöhnlichen [X.]ehbehinderung darf nur auf eine Einschränkung der [X.]ehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden. Bei der Frage der [X.]leichstellung von behinderten Menschen mit Schäden an den unteren [X.]liedmaßen ist zu beachten, dass das [X.]ehvermögen auf das schwerste eingeschränkt sein muss und deshalb als Vergleichsmaßstab am ehesten das [X.]ehvermögen eines [X.]n heranzuziehen ist. Dies gilt auch, wenn [X.]ehbehinderte einen Rollstuhl benutzen: Es genügt nicht, dass ein solcher verordnet wurde; die Betroffenen müssen vielmehr ständig auf den Rollstuhl angewiesen sein, weil sie sich sonst nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen können. Als Erkrankungen der inneren Organe, die eine solche [X.]leichstellung rechtfertigen, sind beispielsweise Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz sowie Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkung der Lungenfunktion schweren [X.]rades anzusehen."

b) Das B[X.] hat die Regelung über die Anerkennung der Voraussetzungen für das Merkzeichen "[X.]" ihrem Zweck entsprechend schon immer eng ausgelegt. [X.]rundlage für die Einrichtung dieses Merkzeichens war und ist der Umstand, dass Parkraum für diejenigen Schwerbehinderten geschaffen werden sollte, denen es unzumutbar ist, längere Wege zurückzulegen (vgl BT-Drucks 8/3150 [X.] in der Begründung zu § 6 [X.]; siehe auch umfassende Darstellung in [X.] vom 17.12.1997 - 9 RVs 16/96 - [X.]-3870 § 4 [X.]). Das Merkzeichen "[X.]" soll die stark eingeschränkte [X.]ehfähigkeit durch Verkürzung der Wege infolge der gewährten [X.] ausgleichen (B[X.] [X.]870 § 3 [X.]). Wegen der begrenzten städtebaulichen Möglichkeiten, Raum für [X.] zu schaffen, sind hohe Anforderungen zu stellen, um den Kreis der Begünstigten klein zu halten ([X.] vom 29.3.2007 - [X.]a SB 1/06 R - Juris Rd[X.] 17; B[X.]E 82, 37, 39 = [X.]-3870 § 4 [X.]). Dies gilt erst recht, weil nach Abschnitt [X.] zu § 46 Abs 1 [X.] noch weitere umfangreiche [X.], wie zB die Ausnahme vom eingeschränkten Haltverbot, gewährt werden und sich der Kreis der berechtigten Personengruppen über das Merkzeichen "[X.]" hinaus zunehmend auf andere Personengruppen erweitert (siehe unter Abschnitt [X.] und 3 Buchst a) bis f); zB BR-Drucks vom [X.], 636/08 zu A und B).

c) Nach den für den Senat bindenden Feststellungen des [X.] (§ 163 [X.][X.]) liegen bei dem Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Feststellung eines der genannten Regelbeispiele in Abschnitt [X.] S 2 [X.] 1 zu § 46 Abs 1 [X.] nicht vor. Dem Kläger ist eine Benutzung seiner Beinprothese noch an "knapp über 10 v.H. der Tage" möglich. Er gehört damit nicht zu den einseitig oberschenkelamputierten Menschen, die "dauernd" außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen und sich deshalb wegen der Schwere ihres Leidens "dauernd" nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres [X.]fahrzeuges bewegen können.

Unter Abschnitt [X.] S 2 [X.] 1 zu § 46 Abs 1 [X.] sind bestimmte Regelbeispiele abschließend aufgeführt. Bei deren Vorliegen wird vermutet, dass sich die dort aufgeführten schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres [X.]fahrzeuges bewegen können. Nach dem Wortlaut und Zweck der Regelung kommt es dabei im Interesse einer leichten Handhabung in der Praxis nicht auf die individuelle prothetische Versorgung an (vgl zB [X.] vom 17.12.1997 - 9 RVs 16/96 - [X.]-3870 § 4 [X.]; B[X.]E 82, 37 = [X.]-3870 § 4 [X.] 23; [X.] vom [X.] - [X.]/9a S[X.]/06 R - Juris Rd[X.]), selbst wenn aufgrund eines hervorragenden gesundheitlichen [X.] und hoher körperlicher Leistungsfähigkeit bei optimaler prothetischer Versorgung eine gute [X.]ehfähigkeit besteht (vgl Bayerisches [X.] Urteil vom [X.] - L 15 SB 113/11 - Juris Rd[X.] 46 f).

Der [X.]rundsatz erfährt eine Ausnahme für die einseitig Oberschenkelamputierten, denen der Nachteilsausgleich "[X.]" nur zuerkannt werden kann, wenn sie nicht prothetisch versorgt werden können (vgl [X.] vom 17.12.1997 - 9 RVs 16/96 - [X.]-3870 § 4 [X.]). Anders als bei den übrigen Regelbeispielen gehören die einseitig Oberschenkelamputierten nur dann zu dem eng begrenzten Kreis der schwerbehinderten Menschen iS von Abschnitt [X.] S 1 zu § 46 Abs 1 [X.], wenn sie "dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen". Im Umkehrschluss gilt bei den einseitig oberschenkelamputierten Menschen, die noch ein Kunstbein tragen können, nicht die Vermutung von Satz 1, dass sie zu den Personen gehören, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres [X.]fahrzeuges bewegen können. Diese Behindertengruppe unterliegt bereits bei der Prüfung des Vorliegens eines Regelbeispiels einer pauschalen [X.]leichstellungsprüfung mit den anderen [X.]ruppen, die sich durch Doppelamputationen oder weitergehende erhebliche körperliche Einschränkungen abgrenzen. Dabei gilt für die [X.]erhaftigkeit des außerstande seins ein Kunstbein zu tragen ein anderer Maßstab als für den geforderten [X.]erzustand nach Satz 1. Dem liegt allerdings ebenfalls kein individueller zeitlicher Maßstab zugrunde.

"[X.]ernd außerstande" sein, ein Kunstbein zu tragen, bedeutet in diesem Zusammenhang prothetisch nicht versorgbar zu sein (vgl B[X.] aaO). Es darf keine prothetische Versorgung möglich sein, der betroffene behinderte Mensch muss ständig bzw immer außerstande sein, ein Kunstbein zu tragen. Zu dieser Personengruppe gehört der Kläger nach den Feststellungen des [X.] noch nicht; er ist prothetisch versorgt, kann grundsätzlich eine Prothese tragen und ist nicht auf die Nutzung eines Rollstuhls angewiesen.

2. Die Feststellungen des [X.] lassen keine abschließende Beurteilung zu, ob die Schwere der beim Kläger vorliegenden Beeinträchtigung dem Vorliegen eines Regelbeispiels gleichgestellt werden kann.

Eine [X.]leichstellung setzt gemäß Abschnitt [X.] S 2 [X.] zu § 46 Abs 1 [X.] voraus, dass der betroffene Schwerbehinderte sich nur unter ebenso großen körperlichen Anstrengungen fortbewegen kann, wie die in Abschnitt [X.] S 2 [X.] 1 zu § 46 Abs 1 [X.] genannten Personen, in deren Person ein Regelbeispiel erfüllt ist. Das ist der Fall, wenn ihre [X.]ehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und sie sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die erstgenannten [X.]ruppen von Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen können (B[X.]E 82, 37, 38 f = [X.]-3870 § 4 [X.] 23 = Behindertenrecht 1998, 141, 142).

Zwar bereitet der Vergleichsmaßstab naturgemäß Schwierigkeiten, weil die verschiedenen, im 1. [X.] aufgezählten Behindertengruppen in ihrer Wegefähigkeit nicht homogen sind und einzelne Vertreter dieser [X.]ruppen - bei gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung - ausnahmsweise nahezu das [X.] eines nicht Behinderten erreichen können (B[X.] [X.]-3870 § 4 [X.]; B[X.]E 90, 180, 182 = [X.]-3250 § 69 [X.]). Auf die individuelle prothetische Versorgung der aufgeführten zu vergleichenden Behindertengruppen kommt es jedoch nicht an (B[X.] [X.]-3870 § 4 [X.] 22; B[X.]E 82, 37 = [X.]-3870 § 4 [X.] 23), zumal solche Besonderheiten angesichts des mit der Zuerkennung von "[X.]" bezweckten Nachteilsausgleichs nicht als Maßstab für die Bestimmung der [X.]leichstellung herangezogen werden können. Vielmehr muss sich dieser strikt an dem der einschlägigen Regelung vorangestellten Obersatz orientieren, dh an Satz 1 Abschnitt [X.] zu § 46 Abs 1 [X.] bzw § 6 Abs 1 [X.] [X.] (B[X.]E 90, 180, 183 = [X.]-3250 § 69 [X.] 1 S 4).

Auf der anderen Seite ist für die [X.]leichstellung am individuellen [X.] des Betroffenen anzusetzen. Hierzu zählen auch die einseitig Oberschenkelamputierten, die - wie der Kläger - grundsätzlich prothetisch versorgt werden können. Diese Personengruppe ist nicht von [X.] ausgenommen, nur weil die beim Vorliegen der Voraussetzungen von [X.] 1 eintretende Vermutungswirkung nicht gegeben ist. Denn diese ersetzt lediglich die individuelle Prüfung der Voraussetzungen von Satz 1, die jedoch im Rahmen der [X.]leichstellungsprüfung nach [X.] durchzuführen ist. Dabei lässt sich ein anspruchsausschließendes [X.] griffig weder quantifizieren noch qualifizieren ([X.] vom 10.12.2002 - [X.] SB 7/01 R - B[X.]E 90, 180 = [X.]-3250 § 69 [X.] 1). [X.]rundsätzlich sind hierzu weder ein gesteigerter Energieaufwand noch eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke ([X.] vom 29.3.2007 - [X.]a SB 1/06 R - Juris Rd[X.] 18) oder prozentuale Zeitwerte - wie vom [X.] errechnet - geeignet. Denn die maßgeblichen Vorschriften stellen nicht darauf ab, über welche Wegstrecke sich ein schwerbehinderter Mensch außerhalb seines [X.]fahrzeuges wie oft und in welcher Zeit zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich "nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung". Wer diese Voraussetzungen praktisch vom ersten Schritt an außerhalb seines [X.]fahrzeuges erfüllt, qualifiziert sich für den Nachteilsausgleich "[X.]" auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt. Dabei kann ua Art und Umfang schmerz- oder erschöpfungsbedingter Pausen von Bedeutung sein (vgl insgesamt B[X.], aaO, Rd[X.] 18 f). Denn schwerbehinderte Menschen, die in ihrer [X.]ehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt sind, müssen sich beim [X.]ehen regelmäßig körperlich besonders anstrengen. Die für "[X.]" geforderte große körperliche Anstrengung kann zB erst dann angenommen werden, wenn selbst bei einer Wegstreckenlimitierung von 30 Metern, diese darauf beruht, dass der Betroffene bereits nach dieser kurzen Strecke erschöpft ist und er neue Kräfte sammeln muss, bevor er weiter gehen kann (B[X.], aaO, Rd[X.] 24; B[X.]E 90, 180, 184 f = [X.]-3250 § 69 [X.] 1).

Ob die danach erforderlichen großen körperlichen Anstrengungen beim [X.]ehen dauerhaft vorliegen, ist [X.]egenstand tatrichterlicher Würdigung, die sich auf alle verfügbaren Beweismittel, wie Befundberichte der behandelnden Ärzte, Sachverständigengutachten oder einen dem [X.]ericht persönlich vermittelten Eindruck, stützen kann. Dabei stellt das alleinige Abstellen auf ein einzelnes, starres Kriterium vor dem Hintergrund des [X.]leichheitssatzes in Art 3 Abs 1 [X.][X.] in der Regel keine sachgerechte Beurteilung dar, weil es eine [X.]esamtschau aller relevanten Umstände eher verhindert (vgl [X.] vom [X.] - [X.]/9a S[X.]/06 R - Juris Rd[X.] 17).

Ein an einer bestimmten Wegstrecke und einem Zeitmaß orientierter Maßstab liegt auch nicht wegen der Methode nahe, mit der die medizinischen Voraussetzungen des Merkzeichens "[X.]" festgestellt werden. Denn für das Merkzeichen "[X.]" gelten gegenüber "[X.]" nicht gesteigerte, sondern andere Voraussetzungen ([X.] vom 29.3.2007 - [X.]a SB 1/06 R - Juris Rd[X.] 21 f; B[X.] [X.]-3870 § 4 [X.] S 45 = [X.] 1995, 623). An dieser oben dargestellten Rechtslage für die Zuerkennung der Voraussetzungen für das Merkzeichen "[X.]" hat sich auch durch das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention <[X.]> vom 13.12.2006; in [X.] getreten am [X.], [X.]esetz vom [X.], [X.]I 1419; Bekanntmachung vom [X.], [X.]I 812) nichts geändert (vgl dazu [X.], Finale Betrachtungsweise bei Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen "[X.]" in [X.], [X.] [X.] 9/2011 vom 29.11.2011). Allerdings kann die [X.] als Auslegungshilfe orientierend herangezogen werden (vgl dazu allgemein BVerf[X.] Beschluss vom 23.3.2011 - 2 BvR 882/09 - BVerf[X.]E 128, 282, 306; B[X.]E 111, 79 = [X.] 4-3520 § 7 [X.] 1, Rd[X.]6). Insoweit ist entsprechend Art 1 der [X.], wie bereits in § 2 Abs 1 [X.]B IX vorgesehen, die individuelle Beeinträchtigung des behinderten Menschen an der Teilhabe am Leben in der [X.]esellschaft zu berücksichtigen (siehe hierzu insgesamt auch: [X.], Einfluss internationaler Menschenrechtsübereinkommen auf die [X.] Sozialrechtspraxis, [X.] 2015, 337 bis 343).

Aus den Feststellungen des [X.] ergibt sich nur, dass eine [X.]leichstellung in den Zeiten nicht gegeben sei, in denen der Kläger die Prothese zumutbar benutzen könne. Trotz mehrerer Narben liege am [X.] ein [X.]eschwürsleiden nicht vor und sei dieses ausreichend weichteilgedeckt. Auch aus der Hepatitiserkrankung folgten keine wesentlichen Einschränkungen, sodass sich der Kläger ohne fremde Hilfe und ohne große Anstrengung außerhalb seines [X.]fahrzeuges bewegen könne. Für die Zeiten der [X.] der Prothese wegen [X.]beschwerden hat das [X.] jedoch lediglich das Vorliegen eines Regelbeispiels nach [X.] 1 geprüft und nach dessen Verneinung keine [X.]leichstellungsprüfung nach [X.] mehr durchgeführt. Damit fehlt es insgesamt an der Feststellung und [X.]esamtwürdigung durch das [X.], ob sich der Kläger iS von Satz 1 wegen der Schwere seines Leidens (insgesamt) dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines [X.]fahrzeuges bewegen kann. Hierzu fehlen Feststellungen zu der Art und dem Ausmaß der [X.]beschwerden, den hieraus resultierenden Folgen (zB ausschließliche Benutzbarkeit von [X.]ehhilfen, [X.]angunsicherheiten, Schmerzen oder Pausen) sowie eine [X.]esamtwürdigung aufgrund versorgungsärztlicher Feststellung iS von [X.]. Dies ist nunmehr nachzuholen. Das [X.] hat nach Befragung des [X.] in der mündlichen Verhandlung sowie unter Berücksichtigung des orthopädischen Befundberichtes des Dr. [X.] vom 11.2.2014 eine Verschlechterung im Bereich des [X.]es angenommen mit der Folge, dass eine Benutzung der Prothese auf [X.]er lediglich noch an "knapp über 10 vom Hundert der Tage möglich" sei. Diese selbst errechnete zeitliche Komponente unter Berücksichtigung des bis zum 20.5.2014 abgelaufenen Teils des Jahres 2014 entspricht jedoch keinem der oben genannten Bewertungsmaßstäbe für die Zuerkennung des Merkzeichens "[X.]". Das [X.] hätte im Falle einer angenommenen Verschlechterung des [X.]esundheitszustandes beim Kläger im Jahre 2014 eine ergänzende versorgungsärztliche Stellungnahme hierzu entsprechend den Vorgaben in Abschnitt [X.] S 2 [X.] zu § 46 Abs 1 [X.] einholen müssen. Insoweit ist nunmehr auch nach der [X.] in Teil D [X.] Buchst c) bei der Frage der [X.]leichstellung von behinderten Menschen mit Schäden an den unteren [X.]liedmaßen zu beachten, dass das [X.] auf das schwerste eingeschränkt sein muss und deshalb als Vergleichsmaßstab am ehesten das [X.] eines [X.]n heranzuziehen ist.

Das [X.] wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 9 SB 2/14 R

11.08.2015

Bundessozialgericht 9. Senat

Urteil

Sachgebiet: SB

vorgehend SG München, 8. November 2013, Az: S 36 SB 127/12, Urteil

Anlage Teil D Nr 3 Buchst b S 2 VersMedV, Anlage Teil D Nr 3 Buchst c VersMedV, Anlage Teil D Nr 3 Buchst a VersMedV, § 2 VersMedV, § 46 Abs 1 Nr 11 Abschn 2 Nr 1 S 2 Halbs 1 StVOVwV, § 46 Abs 1 Nr 11 Abschn 2 Nr 1 S 2 Halbs 2 StVOVwV, § 46 Abs 1 Nr 11 Abschn 2 Nr 1 S 1 StVOVwV, § 46 Abs 1 S 1 Nr 11 StVO, § 6 Abs 1 Nr 14 StVG, § 2 Abs 1 S 1 SGB 9, § 69 Abs 4 SGB 9, § 69 Abs 5 SGB 9 vom 13.12.2007, § 69 Abs 5 SGB 9 vom 07.01.2015, § 70 Abs 2 SGB 9, § 159 Abs 7 SGB 9, § 30 Abs 16 BVG, § 3 Abs 1 Nr 1 SchwbAwV, Art 3 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 11.08.2015, Az. B 9 SB 2/14 R (REWIS RS 2015, 6839)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 6839

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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B 9 SB 90/12 B (Bundessozialgericht)

Schwerbehindertenrecht - Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonvention für die Zuerkennung des Merkzeichens aG zwecks Erhalts von Parkerleichterungen …


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2 BvR 882/09

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