Bundesfinanzhof, Urteil vom 11.07.2013, Az. VI R 68/11

6. Senat | REWIS RS 2013, 4178

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Gegenstand

Kürzung des Kindergeldanspruchs eines Wanderarbeitnehmers um die nach niederländischen Rechtsvorschriften zu gewährenden Familienleistungen


Leitsatz

Ein nach §§ 62 ff. EStG bestehender Kindergeldanspruch ist entgegen § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nicht ausgeschlossen, wenn ein Wanderarbeitnehmer in einem nach den gemeinschaftsrechtlichen Verordnungen zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit für die Gewährung von Familienleistungen zuständigen Beschäftigungsmitgliedstaat dem Kindergeld vergleichbare Familienleistungen erhält. Solche Leistungen sind auf den Kindergeldanspruch anzurechnen.

Tatbestand

1

I. Streitig ist, ob und in welcher Höhe zugunsten eines Wanderarbeitnehmers ein Anspruch auf Gewährung von Kindergeld besteht, wenn diesem zugleich nach [X.] Recht Familienleistungen zu gewähren sind.

2

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) besitzt die [X.] Staatsangehörigkeit. Er ist Vater zweier minderjähriger Kinder, die im Streitzeitraum Januar bis Mai 2010 mit ihm zusammen in seinem im Inland belegenen Haushalt lebten. Der Kläger ist in den Niederlanden nichtselbständig tätig. Er hat nach [X.] Recht einen Anspruch auf Gewährung von Familienleistungen.

3

Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte den Antrag auf Gewährung von Kindergeld für den Streitzeitraum Januar bis Mai 2010 ab. Der Kindergeldanspruch sei ausgeschlossen, da der Kläger in das [X.] Sicherungssystem [X.] eingegliedert sei und nach den dortigen Vorschriften einen Anspruch auf dem [X.]n Kindergeld vergleichbare Familienleistungen habe.

4

Die im [X.] an das erfolglos durchgeführte Einspruchsverfahren erhobene Klage hat das Finanzgericht ([X.]) abgewiesen. Der nach [X.]m Recht bestehende Kindergeldanspruch des Klägers werde zwar nicht durch vorrangige Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts, aber aufgrund des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ausgeschlossen. Denn die nach [X.] Recht zu gewährenden Familienleistungen seien mit dem Anspruch auf Kindergeld nach [X.]n Rechtsvorschriften vergleichbar.

5

Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.

6

Er beantragt sinngemäß,
das Urteil des [X.] sowie den Bescheid der Familienkasse vom 10. Februar 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 21. Mai 2010 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, nach Maßgabe der [X.]n Vorschriften unter Anrechnung von Ansprüchen auf Familienleistungen nach [X.] Recht zugunsten des Klägers Kindergeld für die Monate Januar bis Mai 2010 festzusetzen.

7

Die Familienkasse beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

8

I[X.] Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--). Zu Unrecht hat das [X.] angenommen, dass die nach dem [X.] Recht zu gewährenden Familienleistungen zu einem Ausschluss des [X.] führen; diese werden lediglich angerechnet. Der [X.] kann jedoch auf der Grundlage der vom [X.] getroffenen Feststellungen nicht abschließend prüfen, in welcher Höhe eine solche Anrechnung zu erfolgen hat.

9

1. Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Denn er hatte nach den den [X.] bindenden (§ 118 Abs. 2 [X.]O) Feststellungen des [X.] einen Wohnsitz im Inland und die beiden minderjährigen Kinder, für die er Kindergeld beantragt hat, waren i.S. des § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG i.V.m. § 32 Abs. 1 EStG, § 63 Abs. 1 Satz 2, § 32 Abs. 3 EStG bei der Festsetzung von Kindergeld zu berücksichtigen.

2. Abweichend von der Vorentscheidung steht diesem Kindergeldanspruch § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nicht entgegen.

a) Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung ist der Kindergeldanspruch ausgeschlossen, wenn für ein Kind Leistungen im Ausland zu zahlen sind oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wären und diese Leistungen dem Kindergeld oder einer der in § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG genannten Leistungen vergleichbar sind.

b) Dieser Ausschluss gilt indes nicht, wenn ein [X.] in einem nach den gemeinschaftsrechtlichen Verordnungen zur Koordinierung der Systeme der [X.] Sicherheit für die Gewährung von Familienleistungen zuständigen Beschäftigungsmitgliedstaat dem Kindergeld vergleichbare Familienleistungen erhält. Solche Leistungen sind entgegen dem Regelungswortlaut des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG lediglich anzurechnen. Dies folgt aus dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber nationalem Recht, der gilt, soweit der Kompetenzverstoß des Gerichtshofs der [X.] ([X.]) --wie möglicherweise hier-- noch nicht hinreichend qualifiziert erscheint. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts ist naturgemäß nicht umfassend. Insoweit gilt vielmehr unverändert das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und das [X.] durch das [X.] ([X.]) zur [X.] des Handelns [X.] Organe und Einrichtungen, das unter Umständen auch die Unanwendbarkeit kompetenzüberschreitender Handlungen für die [X.] Rechtsordnung festzustellen hat (Beschluss des [X.] vom 6. Juli 2010  2 BvR 2661/06, [X.]E 126, 286). Danach ist die Grenze der zulässigen Rechtsfortbildung erst überschritten, wenn der [X.] ausdrückliche (vertrags-)gesetzliche Entscheidungen abändert und ohne ausreichende gesetzliche Rückbindung neue Regelungen schafft (dazu im Einzelnen [X.]-Beschluss in [X.]E 126, 286, 302 ff.). Für den hier vorliegenden Streitfall ist die Spruchpraxis des [X.] einschlägig aus dessen Urteilen vom 20. Mai 2008 [X.]/06, [X.] ([X.]. 2008, [X.]), vom 12. Juni 2012 [X.]/10, [X.] und [X.]/10, [X.] ([X.]Entscheidungsdienst --DStRE-- 2012, 999).

c) Nach diesen Grundsätzen sind auf den zugunsten des [X.] bestehenden Kindergeldanspruch die nach [X.] Rechtsvorschriften zu gewährenden Familienleistungen anzurechnen.

Denn in dem Streitzeitraum Januar bis April 2010 unterlag der in [X.] als Arbeitnehmer sozialversicherte Kläger aufgrund seiner dortigen Beschäftigung den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaates (Art. 2 Abs. 1, Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung ([X.]) Nr. 1408/71 --[X.] Nr. 1408/71-- des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der [X.] Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der [X.] zu- und abwandern). In derartigen Fällen ist die nationale Antikumulierungsregel des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG unter Beachtung der vom [X.] in seinen Urteilen in [X.]. 2008, [X.] und in [X.], 999 aufgestellten Grundsätze dahingehend auszulegen, dass die nach dem Recht des [X.] zu gewährenden, mit dem Kindergeld vergleichbaren Familienleistungen zu einer entsprechenden Kürzung des [X.] führen.

Gleiches gilt für den Streitzeitraum Mai 2010, für den die Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 des [X.] und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der [X.] Sicherheit ([X.] Nr. 883/2004) Anwendung findet (vgl. zur zeitlichen Anwendbarkeit der [X.] Nr. 883/2004 näher Urteil des [X.] vom 27. September 2012 III R 40/09, [X.], 102). Denn die Grundsätze der [X.]-Urteile in [X.]. 2008, [X.] und in [X.], 999 greifen auch für die [X.] Nr. 883/2004 ([X.]/[X.], [X.], Kommentar, Fach D, [X.] Kommentierung, Stand 6/10, Art. 68 der [X.] Nr. 883/2004 Rz 10; [X.] in [X.], Europäisches Sozialrecht, 6. Aufl. 2013, Art. 11 Rz 5; im Ergebnis ebenso bereits Devetzi in [X.], 50 Jahre nach ihrem Beginn - Neue Regeln für die Koordinierung sozialer Sicherheit, S. 291, 300). Da die [X.] für den Streitzeitraum Mai 2010 aufgrund der dortigen Beschäftigung des [X.] gemäß Art. 2 Abs. 1, Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der [X.] Nr. 883/2004 der für die Gewährung von Familienleistungen zuständige Mitgliedstaat ist und der Kläger weiterhin [X.] war, ist der Kindergeldanspruch folglich auch in diesem Streitzeitraum um die nach dem [X.] Recht gewährten Familienleistungen zu kürzen.

d) Das [X.] ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Die Vorentscheidung ist daher aufzuheben.

Die Sache ist nicht spruchreif. Das [X.] hat bislang keine Feststellungen zu der Höhe der nach den [X.] Rechtsvorschriften zu gewährenden und auf den Kindergeldanspruch anzurechnenden Familienleistungen getroffen. Diese Feststellungen wird es im zweiten Rechtsgang nachzuholen haben.

Meta

VI R 68/11

11.07.2013

Bundesfinanzhof 6. Senat

Urteil

vorgehend FG Düsseldorf, 13. Juli 2011, Az: 15 K 1899/10 Kg, Urteil

§ 32 Abs 1 EStG 2009, § 32 Abs 3 EStG 2009, § 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2009, § 63 Abs 1 S 1 Nr 1 EStG 2009, § 63 Abs 1 S 2 EStG 2009, § 65 Abs 1 S 1 Nr 1 EStG 2009, § 65 Abs 1 S 1 Nr 2 EStG 2009, Art 2 Abs 1 EWGV 1408/71, Art 13 Abs 2 Buchst a EWGV 1408/71, Art 2 Abs 1 EGV 883/2004, Art 11 Abs 3 Buchst a EGV 883/2004, Art 2 Abs 1 EGV 883/2004, Art 11 Abs 3 Buchst a EGV 883/2004, EStG VZ 2010

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 11.07.2013, Az. VI R 68/11 (REWIS RS 2013, 4178)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 4178

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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