Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 21.11.2022, Az. 3 B 1/22

3. Senat | REWIS RS 2022, 8034

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Gegenstand

Abgrenzung von Arzneimittel und Nahrungsergänzungsmittel; bei der gerichtlichen Entscheidung zu berücksichtigende Erkenntnisse


Tenor

Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des [X.] für das [X.] vom 28. Oktober 2021 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 50 000 € festgesetzt.

Gründe

I

1

Die [X.]eteiligten streiten um die Frage, ob ein Erzeugnis der Klägerin als zulassungspflichtiges Arzneimittel oder als Nahrungsergänzungsmittel anzusehen ist.

2

Die Klägerin stellt das Produkt "... Kapseln" her und vertreibt es als Nahrungsergänzungsmittel. Eine Kapsel enthält 50 mg Melissenextrakt und 0,5 mg Melatonin. Nach der Verzehrempfehlung sollen einmal täglich zwei Kapseln eingenommen werden.

3

Auf Antrag des [X.] stellte die [X.]eklagte mit [X.]escheid vom 7. August 2013 fest, dass es sich bei dem Produkt um ein zulassungspflichtiges Arzneimittel handle. Die nach Durchführung des Widerspruchsverfahrens gegen diesen [X.]escheid erhobene Klage der Klägerin hat das Verwaltungsgericht abgewiesen.

4

Auf die [X.]erufung der Klägerin hat das Oberverwaltungsgericht mit Urteil vom 28. Oktober 2021 das erstinstanzliche Urteil geändert und den angegriffenen [X.]escheid aufgehoben. Zur [X.]egründung hat das Oberverwaltungsgericht im Wesentlichen ausgeführt: Als Rechtsgrundlage für die angefochtene Feststellung des [X.] ([X.]) komme allein § 21 Abs. 4 Satz 1 [X.] in [X.]etracht. Dessen Voraussetzungen lägen nicht vor. Maßgeblicher Zeitpunkt für die [X.]eurteilung der Sach- und Rechtslage sei der Abschluss des Verwaltungsverfahrens. Dies bedeute jedoch nicht, dass Studien, Gutachten und Reviews sowie gerichtliche Entscheidungen, die nach Erlass des Widerspruchsbescheids erstellt worden bzw. ergangen seien, bei der gerichtlichen Entscheidung nicht berücksichtigt werden könnten. Dabei handle es sich nicht um neue, nicht berücksichtigungsfähige Tatsachen; vielmehr stellten sie Wissen um die Sachlage in einem anhängigen Verfahren dar, wie sie bereits im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung vorgelegen habe. Neue Erkenntnisse, die etwa durch gerichtlich eingeholte Sachverständigengutachten gewonnen oder durch die [X.]eteiligten vorgelegt werden könnten, führten nicht zu einer Änderung der Sachlage. Hiervon ausgehend sei das Produkt der Klägerin weder ein Funktions- noch ein Präsentationsarzneimittel. Der für die Einstufung als Funktionsarzneimittel erforderliche wissenschaftliche Nachweis einer nennenswerten pharmakologischen Wirkung auf die physiologischen Funktionen sei nicht erbracht. Es stehe nach den vorliegenden Erkenntnissen weder positiv fest noch könne sicher ausgeschlossen werden, dass - wie die Annahme einer pharmakologischen Wirkung voraussetze - die Auswirkungen des Erzeugnisses der Klägerin auf die physiologischen Funktionen über die Wirkungen hinausgingen, die ein in angemessener Menge verzehrtes Lebensmittel auf diese Funktionen haben könne. Dies gehe zu Lasten der [X.]eklagten, die die materielle [X.]eweislast für die [X.] der Voraussetzungen der [X.] zu tragen habe. Die Klägerin habe zahlreiche Studien vorgelegt, nach denen bestimmte Lebensmittel einen verhältnismäßig hohen Melatoningehalt aufwiesen. Eine Würdigung der vorliegenden Erkenntnisse ergebe, dass die Frage, ob 1 mg Melatonin auch über Lebensmittel - insbesondere Pistazien, [X.]ranberries oder [X.] - aufgenommen werden könne, wissenschaftlich nicht eindeutig beantwortet werden könne. Weitere wissenschaftliche [X.] seien weder von den [X.]eteiligten aufgezeigt noch sonst ersichtlich. Das Produkt der Klägerin sei auch kein Präsentationsarzneimittel. Es werde auf der Vorderseite des Etiketts an prominenter Stelle als Nahrungsergänzungsmittel bezeichnet; der übrige Produktauftritt erwecke nicht derart den Eindruck einer heilenden, vorbeugenden oder Leiden lindernden Wirkung, dass ein Verbraucher ungeachtet der Produktbezeichnung als Nahrungsergänzungsmittel von der [X.] ausgehe.

5

Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelassen. Hiergegen wendet sich die [X.]eklagte mit ihrer [X.]eschwerde, zu deren [X.]egründung sie sich auf die Zulassungsgründe der Divergenz, der grundsätzlichen [X.]edeutung der Rechtssache und des Vorliegens eines Verfahrensfehlers beruft.

II

6

Die [X.]eschwerde hat keinen Erfolg.

7

1. Die Revision ist nicht gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wegen einer Abweichung des angegriffenen Urteils von einer Entscheidung des [X.] zuzulassen. Eine Divergenz im Sinne dieser Vorschrift setzt voraus, dass die Entscheidung des [X.] auf einem abstrakten Rechtssatz beruht, der im Widerspruch zu einem Rechtssatz steht, den das [X.] in Anwendung derselben Rechtsvorschrift oder desselben Rechtsgrundsatzes aufgestellt hat (stRspr, vgl. [X.], [X.]eschluss vom 28. Juli 2022 - 3 [X.] 8.21 - juris Rn. 19).

8

a) Die [X.]eklagte macht geltend, das angegriffene Urteil weiche von den [X.] des Senats vom 20. Mai 2021 - 3 [X.] 19.19 - und - 3 [X.] 9.20 - ab, wonach maßgeblicher Zeitpunkt für die [X.]eurteilung der Sach- und Rechtslage bei einem Feststellungsbescheid nach § 21 Abs. 4 Satz 1 [X.] der Abschluss des Verwaltungsverfahrens ist. Hiervon abweichend nehme das Oberverwaltungsgericht an, dass Studien, Gutachten und Reviews sowie gerichtliche Entscheidungen, die nach Erlass des Widerspruchsbescheids erstellt und veröffentlicht worden bzw. ergangen seien, bei der gerichtlichen Entscheidung zu berücksichtigen seien. Eine Divergenz im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zeigt dieses Vorbringen nicht auf. Das Oberverwaltungsgericht hat im angegriffenen Urteil unter [X.]ezugnahme auf die genannte Rechtsprechung des Senats auf den Abschluss des Verwaltungsverfahrens als maßgeblichen [X.]eurteilungszeitpunkt abgestellt und seine frühere entgegenstehende Ansicht ausdrücklich aufgegeben (S. 10 f. des Urteilsabdrucks). Die von der [X.]eklagten als Abweichung von dem Rechtssatz des Senats betrachtete Auffassung des [X.] zur [X.]erücksichtigungsfähigkeit von [X.]n, die erst nach Erlass des Widerspruchsbescheids erstellt bzw. vorgelegt werden, betrifft nicht den maßgeblichen Zeitpunkt für die Prüfung der Sach- und Rechtslage, sondern die Frage, was zur maßgeblichen Sachlage in diesem Sinne gehört bzw. auf welcher Grundlage sie festzustellen ist. Hierzu verhält sich der von der [X.]eklagten zitierte Rechtssatz in den genannten Entscheidungen des [X.] nicht. Soweit die [X.]eklagte in diesem Zusammenhang weiter geltend macht, die Gewinnung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse könne zu einer Änderung der Sachlage führen, sind die hierzu von ihr angeführten Entscheidungen des [X.] - unabhängig davon, ob sie den Rechtsstandpunkt der [X.]eklagten tatsächlich zu stützen vermögen - zu § 49 Abs. 2 bzw. § 51 Abs. 1 VwVfG, nicht zu § 21 Abs. 4 [X.] ergangen.

9

b) Im Weiteren macht die [X.]eklagte geltend, das Oberverwaltungsgericht sei mit der Annahme, es sei nicht am Unternehmer, verbleibende Unklarheiten durch Vorlage entsprechenden Datenmaterials zu beseitigen, falls ein Produkt erhebliche Anhaltspunkte für ein Funktionsarzneimittel bieten sollte, von der Rechtsprechung des [X.] zum Untersuchungsgrundsatz nach § 24 VwVfG abgewichen. Hiernach werde der Untersuchungsgrundsatz infolge von Umständen, die die Sphäre des [X.]eteiligten unmittelbar berührten, durch dessen verfahrensrechtliche Mitwirkungslast eingeschränkt bzw. begrenzt. Eine Divergenz im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO zeigt die [X.]eklagte damit bereits deshalb nicht auf, weil die Ausführungen des [X.] sich nicht auf dieselbe Norm beziehen. Die von der [X.]eklagten bemängelte Aussage des [X.] betrifft nicht die Reichweite des Untersuchungsgrundsatzes nach § 24 VwVfG, sondern die aus dem materiellen Recht folgende [X.]eweislasttragung im Rahmen des § 21 Abs. 4 Satz 1 [X.].

c) Soweit die [X.]eklagte in diesem Zusammenhang vorbringt, das Oberverwaltungsgericht gehe bei der [X.]etrachtung seiner eigenen Aufklärungspflichten nach § 86 Abs. 1 VwGO offenbar allein von Mitwirkungspflichten der [X.]eklagten aus und verkenne damit die Parallelen zu § 24 VwVfG, zeigt sie ebenfalls nicht auf, dass das Oberverwaltungsgericht mit einem abstrakten Rechtssatz von einem dieselbe Norm betreffenden abstrakten Rechtssatz des [X.] abgewichen ist. Vielmehr rügt sie allein eine vermeintlich fehlerhafte [X.]eurteilung von Mitwirkungspflichten der [X.]eteiligten. Gleiches gilt für die Ausführungen dazu, dass wissenschaftliche Erkenntnisse über das in Verkehr zu bringende Produkt der Sphäre des Unternehmers zuzuordnen seien.

d) Ohne Erfolg bleibt schließlich der Vortrag, das Oberverwaltungsgericht sei von dem in der Rechtsprechung des [X.] anerkannten Günstigkeitsgrundsatz abgewichen, weil es angenommen habe, die [X.]eklagte trage auch die [X.]eweislast für die Nichterweislichkeit der Tatsache, dass die Wirkungen des in Rede stehenden Präparats über die Wirkungen hinausgingen, die ein in angemessener Menge verzehrtes Lebensmittel auf die physiologischen Funktionen habe. Hiermit rügt die [X.]eklagte eine ihrer Ansicht nach falsche Anwendung allgemeiner Grundsätze bei der [X.]estimmung der [X.]eweislasttragung im Rahmen des § 21 Abs. 4 Satz 1 [X.], zeigt aber nicht auf, dass das Oberverwaltungsgericht von einem abstrakten, die [X.]eweislastverteilung im Rahmen dieser Vorschrift betreffenden Rechtssatz des [X.] abgewichen ist. Die [X.]ehauptung einer fehlerhaften Anwendung eines Rechtssatzes, den das [X.] in seiner Rechtsprechung aufgestellt hat, genügt aber nicht den Anforderungen einer [X.]. Das [X.] kennt - anders als die Vorschriften zur Zulassung der [X.]erufung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) - den Zulassungsgrund ernstlicher Richtigkeitszweifel nicht (stRspr, vgl. [X.], [X.]eschluss vom 18. Juli 2022 - 3 [X.] 37.21 - juris Rn. 9).

2. Die Revision ist auch nicht wegen grundsätzlicher [X.]edeutung der Rechtssache im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen. Eine Rechtssache hat grundsätzliche [X.]edeutung im Sinne dieser Vorschrift, wenn sie eine Frage des revisiblen Rechts von allgemeiner, über den Einzelfall hinausreichender [X.]edeutung aufwirft, die im konkreten Fall entscheidungserheblich ist. Ein derartiger Klärungsbedarf besteht nicht, wenn die Rechtsfrage bereits geklärt ist oder auf der Grundlage der bestehenden bundesgerichtlichen Rechtsprechung mit Hilfe der anerkannten Auslegungsregeln auch ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens eindeutig beantwortet werden kann ([X.], [X.]eschluss vom 18. Juli 2022 - 3 [X.] 37.21 - juris Rn. 14).

a) Im Hinblick auf die Frage

"Führen Erkenntnisse, welche nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens beispielsweise durch die gerichtliche Einholung von Sachverständigengutachten gewonnen oder durch die [X.]eteiligten vorgelegt werden, zu einer Änderung der Sachlage mit der Folge, dass sie bei der gerichtlichen Prüfung einer behördlichen Entscheidung nach § 21 Abs. 4 Satz 1 [X.] nicht berücksichtigt werden dürfen?",

zeigt das [X.]eschwerdevorbringen - unabhängig davon, dass es nicht konkret benennt, welche vom Oberverwaltungsgericht berücksichtigten Erkenntnisse von der Fragestellung überhaupt erfasst werden - keine grundsätzliche Klärungsbedürftigkeit auf. Die Frage lässt sich vielmehr auf Grundlage der bestehenden Rechtsprechung ohne Durchführung eines Revisionsverfahrens verneinen. Der [X.]egriff der Sachlage meint die tatsächlichen Umstände, die vom Gericht daraufhin überprüft werden, ob sie den Tatbestand eines Gesetzes erfüllen. Zu diesen tatsächlichen Umständen gehört bei einer Entscheidung nach § 21 Abs. 4 Satz 1 [X.] das Vorliegen einer pharmakologischen Wirkung des Präparats, insbesondere das Ausmaß der Auswirkungen des Erzeugnisses auf die physiologischen Funktionen (vgl. [X.], Urteil vom 7. November 2019 - 3 [X.] 19.18 - [X.]E 167, 66 Rn. 17 ff.). Diese Auswirkungen müssen im Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens gegeben sein (vgl. [X.], [X.]eschlüsse vom 20. Mai 2021 - 3 [X.] 19.19 - Rn. 9 und - 3 [X.] 9.20 - Rn. 8). Werden Erkenntnisse, die der [X.]ehörde zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt waren, erst im gerichtlichen Verfahren vorgelegt oder durch die Einholung gerichtlicher Sachverständigengutachten generiert, führt dies nicht zu einer Änderung von Art oder Umfang der Wirkungen des in Rede stehenden Erzeugnisses - und damit einer Änderung der entscheidungserheblichen tatsächlichen Umstände -, sondern dient vielmehr der Klärung, ob die erforderliche Wirkung im maßgeblichen Zeitpunkt vorgelegen hat. Zu einer solchen Aufklärung ist das Gericht auch grundsätzlich verpflichtet. Dass - bezogen auf einen in der Vergangenheit liegenden maßgeblichen Zeitpunkt - erst später [X.] zugänglich werden, ändert nichts an der Pflicht des Gerichts aus § 86 Abs. 1 VwGO zu deren Heranziehung (vgl. [X.], [X.]eschluss vom 2. Mai 2006 - 6 [X.] - [X.] 448.0 § 12 [X.] Nr. 206 Rn. 21; siehe auch [X.], [X.]eschluss vom 1. April 2009 - 4 [X.] - Rn. 19). Damit erlaubt und gebietet das [X.] Verwaltungsprozessrecht, der gerichtlichen Entscheidung auch solche Erkenntnisse zugrunde zu legen, die erst im verwaltungsgerichtlichen Verfahren aufgrund der gebotenen Ermittlung des Sachverhaltes von Amts wegen nach § 86 VwGO gewonnen wurden, die aber über die Sachlage zum maßgeblichen Zeitpunkt Auskunft geben ([X.], Urteil vom 25. Februar 2010 - 3 [X.] 15.09 - [X.]E 136, 149 Rn. 22). Die Auffassung der [X.]eklagten, es seien nur bereits im Verwaltungsverfahren existente und vorgelegte Erkenntnisse zu berücksichtigen, führte demgegenüber zu einer Präklusion der nicht im Verwaltungsverfahren vorgelegten Erkenntnisse im gerichtlichen Verfahren. Wie das Oberverwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, ist die für eine solche Präklusion erforderliche gesetzliche Grundlage (vgl. [X.], [X.]eschluss vom 14. Juni 2002 - 7 AV 1.02 - [X.] 310 § 124b VwGO Nr. 1 S. 3) nicht ersichtlich.

Zu keiner anderen [X.]ewertung führt die von der [X.]eklagten zitierte Entscheidung des [X.], wonach als Änderung der Sachlage im Sinne des § 51 VwVfG auch der "Erkenntnisfortschritt" gilt ([X.], Urteil vom 4. Dezember 2001 - 4 [X.] 2.00 - [X.]E 115, 274 <281>). Diesem Urteil kann nicht entnommen werden, dass neue Erkenntnisse unabhängig vom materiellen Recht stets zu einer Änderung der tatsächlichen Verhältnisse und damit der entscheidungserheblichen Sachlage führen. Vielmehr heißt es in der Entscheidung lediglich, eine Änderung der Sachlage könne auch durch Gewinnung neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse eintreten und es entspreche der Zielrichtung des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG, die objektive Erkennbarkeit von tatsächlichen Umständen der "wirklichen" Änderung der Sachlage gleichzusetzen ([X.], Urteil vom 4. Dezember 2001 - 4 [X.] 2.00 - [X.]E 115, 274 <281>). Eine über die Auslegung des § 51 Abs. 1 VwVfG in der konkreten Entscheidungssituation hinausgehende [X.]edeutung ist damit nicht erkennbar. Auch die von der [X.]eklagten angeführte Entscheidung des [X.] zu § 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwVfG, wonach nachträglich eingetretene Tatsachen im Sinne dieser Vorschrift vorliegen, wenn aufgrund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse bestimmte, schon bei Erlass des Verwaltungsakts vorhandene und berücksichtigte Tatsachen anders bewertet werden ([X.], [X.]eschluss vom 16. Juli 1982 - 7 [X.] 190.81 - NVwZ 1984, 102 <103>), ist ersichtlich auf die [X.]esonderheiten der Aufhebung eines bestandskräftigen Verwaltungsaktes durch die [X.]ehörde bezogen. Rückschlüsse darauf, welche Erkenntnisse im Anfechtungsprozess zu berücksichtigen sind, lassen sich hieraus nicht ziehen.

b) Auch die von der [X.]eklagten aufgeworfene Frage

"Führt die von der zuständigen [X.]undesoberbehörde im Rahmen des § 21 Abs. 4 [X.] aufzustellende [X.]ehauptung, dass es sich bei dem geprüften Produkt um ein Arzneimittel handelt, dazu, dass die [X.]ehörde die materielle [X.]eweislast hierfür trägt, ohne dass es auf Mitwirkungsobliegenheiten des Unternehmers, dessen Produkt geprüft wurde, ankommt?",

kann auf Grundlage der ergangenen Rechtsprechung des [X.] beantwortet werden. Das [X.] hat entschieden, dass die [X.]ehörde den plausiblen Nachweis einer pharmakologischen Wirkung schuldet, wenn sie die [X.]ehauptung eines (Funktions-)Arzneimittels aufstellt (vgl. [X.], Urteil vom 26. Mai 2009 - 3 [X.] 5.09 - [X.] 418.710 LFG[X.] Nr. 6 Rn. 17). Gegen die damit sie treffende [X.]eweislast wendet die [X.]eklagte sich nicht grundsätzlich, nimmt aber offenbar an, dass prozessuale Mitwirkungspflichten zu einer Einschränkung dieser [X.]eweislast führen müssten. Mit dieser Annahme verkennt die [X.]eklagte indes nicht nur, dass die [X.]eweislasttragung sich aus dem materiellen Recht, nicht dem Prozessrecht ergibt (vgl. [X.], [X.]eschluss vom 24. Juli 2020 - 4 [X.] 18.19 - Rn. 12), sondern auch, dass [X.]eweislastregeln und prozessuale Mitwirkungspflichten grundsätzlich verschiedene Schritte der gerichtlichen Entscheidungsfindung betreffen. Eine [X.]eweislastentscheidung kann ein Gericht erst treffen, wenn nach Durchführung aller gebotenen Aufklärungsmaßnahmen die maßgebliche Tatsachenfrage unaufklärbar bleibt. Eine Verletzung der Mitwirkungspflichten durch die [X.]eteiligten kann allerdings die Anforderungen an die Ermittlungspflicht des Gerichts herabsetzen (vgl. etwa [X.], Urteil vom 13. April 2005 - 10 [X.] 9.04 - juris Rn. 28). [X.] Mitwirkungspflichten der [X.]eteiligten haben damit [X.]edeutung für die Frage, in welchem Umfang das Gericht den entscheidungserheblichen Sachverhalt aufzuklären hat, nicht aber für die Frage, zu wessen Lasten es geht, wenn eine entscheidungserhebliche Tatsache auch bei der danach gebotenen Aufklärung unerweislich bleibt. Dementsprechend führt etwa ein Verstoß gegen die nach § 26 VwVfG bestehende Mitwirkungspflicht grundsätzlich nicht zu einer Umkehr der [X.]eweislastverteilung ([X.], [X.]eschluss vom 22. Mai 2000 - 1 D[X.] 8.00 - [X.] 235 § 92 [X.]DO Nr. 4 S. 4).

3. Schließlich ist die Revision auch nicht wegen eines [X.] im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zuzulassen.

a) Die [X.]eklagte macht geltend, ein Verfahrensfehler liege darin, dass das Oberverwaltungsgericht in seine [X.]eweiswürdigung Studien, Gutachten und Reviews sowie gerichtliche Entscheidungen einbezogen habe, die nach Erlass des Widerspruchsbescheids erstellt und veröffentlicht worden bzw. ergangen seien. Hierin sieht die [X.]eklagte sowohl einen Verstoß gegen § 86 Abs. 1 VwGO als auch gegen § 108 VwGO. Ein Fehler des [X.] scheidet insoweit unabhängig davon, ob es sich überhaupt um einen Verfahrensfehler handeln würde, jedenfalls deshalb aus, weil - wie dargelegt - dessen Auffassung, es könnten auch nach der Widerspruchsentscheidung entstandene bzw. vorgelegte Erkenntnisse berücksichtigt werden, keinen rechtlichen [X.]edenken begegnet.

b) Damit kann die [X.]eklagte auch mit der Rüge, das Oberverwaltungsgericht sei zudem unter Verstoß gegen § 108 VwGO widersprüchlich davon ausgegangen, die im Laufe des Gerichtsverfahrens vorgelegten Erkenntnisse seien bereits bei der behördlichen Entscheidung bekannt gewesen, keinen Verfahrensfehler aufzeigen, auf dem die Entscheidung beruhen kann. Abgesehen davon hat das Oberverwaltungsgericht eine derartige Feststellung in seinem Urteil auch nicht getroffen. Die von der [X.]eklagten herangezogene Aussage auf Seite 11 des Urteils, nachträglich gewonnene Erkenntnisse stellten "Wissen um die Sachlage in einem anhängigen Verfahren dar, wie sie bereits im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung vorlag", ist zum einen lediglich eine abstrakte, nicht fallbezogene Darstellung, zum anderen kann sie nur so verstanden werden, dass die Sachlage ("sie") - nicht hingegen das Wissen um diese - bereits im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung vorlag.

c) Auch soweit die [X.]eklagte im Übrigen zur Geltendmachung eines Verfahrensfehlers auf ihre zur [X.] vorgebrachten Ausführungen betreffend den Untersuchungsgrundsatz und das Günstigkeitsprinzip [X.]ezug nimmt, legt sie einen Verfahrensfehler nicht hinreichend dar. Insbesondere ist nicht ersichtlich, inwieweit diese Ausführungen, mit denen sich die [X.]eklagte gegen die Annahmen des [X.] zur materiellrechtlichen Frage der [X.]eweislasttragung wendet, einen Fehler des gerichtlichen Verfahrens aufzeigen sollen.

4. [X.] folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3 i. V. m. § 52 Abs. 1 GKG.

Meta

3 B 1/22

21.11.2022

Bundesverwaltungsgericht 3. Senat

Beschluss

Sachgebiet: B

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 28. Oktober 2021, Az: 13 A 1376/17, Urteil

§ 21 Abs 4 S 1 AMG, § 86 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 21.11.2022, Az. 3 B 1/22 (REWIS RS 2022, 8034)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 8034

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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