Bundessozialgericht, Beschluss vom 24.07.2012, Az. B 2 U 103/12 B

2. Senat | REWIS RS 2012, 4318

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Verfahrensfehler - Verletzung der Amtsermittlungspflicht - Übergehen des Beweisantrags eines Zeugen zum Unfallhergang - Feststellung eines Arbeitsunfalls - Verkehrsunfall


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 20. September 2011 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten um die Feststellung eines Arbeitsunfalls (Bescheid vom [X.] und Widerspruchsbescheid vom [X.]). Das [X.] hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 29.7.2010). Das [X.] hat die Berufung zurückgewiesen. Es sei nicht nachgewiesen, dass der Kläger am 8.5.2007 auf dem Weg von der Arbeit nach Hause einen Verkehrsunfall erlitten habe (Urteil vom [X.]).

2

Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger ua die Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG). Das [X.] sei einem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt. Das Berufungsgericht habe von der Vernehmung seiner Mutter als Zeugin abgesehen, die er mit Schriftsätzen vom 21.7. und 19.9.2011 als Zeugin zum Unfallhergang benannte habe. Das [X.] habe gemeint, die Zeugin könne nur zu den Unfallfolgen aussagen.

3

II. [X.] ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des [X.] ist unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz des § 103 SGG ergangen.

4

[X.]begründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensmangel einer Verletzung der Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung von Amts wegen ergibt (§ 160 Abs 2 [X.] SGG). Der Kläger hat hinreichend deutlich gemacht, warum sich das [X.] zu der von ihm beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen. Dabei war zu berücksichtigen, dass der Kläger im Berufungsverfahren nicht von einem [X.]en Bevollmächtigten vertreten war (vgl dazu [X.]-1500 § 160 [X.] Rd[X.] 5, [X.]3 Rd[X.]1, jeweils mwN). In der Beschwerdebegründung wird auch dargetan, dass die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensfehler beruhen kann.

5

Das Berufungsgericht hat die Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen (§ 103 SGG) dadurch verletzt, dass es eine Vernehmung der als Zeugin benannten Mutter des [X.] unterlassen hat.

6

Der Kläger hat einen prozessordnungsgemäßen Beweisantrag gestellt, mit dem sowohl das Beweismittel als auch das Beweisthema angegeben und aufgezeigt worden ist, über welche Tatsachen im Einzelnen Beweis erhoben werden soll (vgl [X.]-1500 § 160a [X.] Rd[X.] 6). Mit seinen vor der mündlichen Verhandlung vom [X.] beim [X.] eingegangenen Schreiben vom 21.7. und 19.9.2011 hat der Kläger Beweis angetreten durch Vernehmung seiner Mutter als Zeugin "zum Unfallhergang". Dieser Beweisantrag war auf ein zulässiges und geeignetes Beweismittel gerichtet. Mit dem bezeichneten Beweisthema sind die Geschehnisse während des behaupteten Verkehrsunfalls als die Tatsachen genannt, zu denen die Mutter hätte aussagen sollen.

7

Das Übergehen eines Beweisantrags ist allerdings nur dann ein Verfahrensmangel, wenn das [X.] vor seiner Entscheidung darauf hingewiesen wurde, dass der Beteiligte die Amtsermittlungspflicht des Gerichts noch nicht als erfüllt ansieht. Daher muss der Beweisantrag zumindest bei [X.] vertretenen Beteiligten in der abschließenden mündlichen Verhandlung gestellt oder aufrechterhalten worden sein. Das gilt auch in den Verfahren, in denen der Kläger vor dem [X.] nicht [X.] vertreten war. Zwar sind in einem solchen Fall weniger strenge Anforderungen an die Form und den Inhalt eines Beweisantrags zu stellen. Auch ein [X.] Kläger muss aber dem Gericht deutlich machen, dass er noch Aufklärungsbedarf sieht. Nimmt der Kläger den abschließenden Verhandlungstermin nicht wahr, darf das [X.] grundsätzlich davon ausgehen, dass an zuvor gestellten Beweisanträgen nicht festgehalten wird. Das gilt aber dann nicht, wenn der Beteiligte - wie hier - unmittelbar vor dem Termin hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass auch im Falle seines Fernbleibens über die von ihm schriftsätzlich gestellten Beweisanträge entschieden werden soll (vgl [X.]-1500 § 160 [X.]5). Der Kläger hat mit seinem einen Tag vor der mündlichen Verhandlung beim [X.] eingegangenen Schreiben vom 19.9.2011 darauf hingewiesen, den Verhandlungstermin aus gesundheitlichen und finanziellen Gründen nicht wahrnehmen zu können und Beweis angetreten durch Vernehmung seiner Mutter als Zeugin "zum Unfallhergang".

8

Dem Beweisantrag ist das [X.] ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt. "Ohne hinreichende Begründung" ist nicht formell, sondern materiell im Sinne von "ohne hinreichenden Grund" zu verstehen ([X.] § 160 [X.] 5). Entscheidend ist, ob sich das [X.] von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus hätte gedrängt fühlen müssen, den beantragten Beweis zu erheben ([X.]-1500 § 160a [X.] Rd[X.] 9), weil nach den dem [X.] vorliegenden Beweismitteln Fragen zum tatsächlichen Sachverhalt aus seiner rechtlichen Sicht erkennbar offen geblieben sind, damit zu einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts zwingende Veranlassung bestanden hat und die so zu ermittelnden Tatsachen nach der Rechtsauffassung des [X.] entscheidungserheblich sind (BSG vom 19.6.2008 - B 2 U 76/08 B - mwN). Einen Beweisantrag darf es nur ablehnen, wenn es auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt, diese Tatsache als wahr unterstellt werden kann, das Beweismittel völlig ungeeignet oder unerreichbar ist, die behauptete Tatsache oder ihr Fehlen bereits erwiesen ist oder die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist ([X.]-1500 § 160 [X.]2 Rd[X.]0).

9

Danach hätte das [X.] von einer Vernehmung der als Zeugin benannten Mutter des [X.] nicht absehen dürfen. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung darauf gestützt, dass ein Verkehrsunfall nicht nachgewiesen sei. Auf die Vernehmung der Mutter des [X.] als Zeugin komme es nicht an, da diese nach den Angaben des [X.] nur zu den Unfallfolgen aussagen könne. Indes hat der Kläger mit Schriftsatz vom 19.9.2011 seine Mutter als Zeugin "zum Unfallhergang" und nicht zu den Unfallfolgen benannt. Aus welchen Tatsachen sich ergeben könnte, dass die Mutter die in ihr Wissen gestellten Tatsachen nicht wahrgenommen haben kann, hat das [X.] nicht aufgezeigt.

Das angefochtene Urteil kann auf dem Verfahrensfehler beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass es ohne den Verfahrensfehler zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre.

Angesichts dieses [X.] kann die vom Kläger außerdem erhobene Rüge der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dahingestellt bleiben.

Liegen - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] SGG vor, kann das [X.] auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverweisen (§ 160a Abs 5 SGG). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

Das [X.] wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 2 U 103/12 B

24.07.2012

Bundessozialgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: U

vorgehend SG München, 29. Juli 2010, Az: S 41 U 214/09

§ 103 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG, § 8 SGB 7

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 24.07.2012, Az. B 2 U 103/12 B (REWIS RS 2012, 4318)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 4318

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