Bundesfinanzhof, Beschluss vom 14.12.2021, Az. VIII B 50/21

8. Senat | REWIS RS 2021, 358

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Gegenstand

Zur Auslegung des Klagebegehrens im Rahmen eines Urteils ohne mündliche Verhandlung


Leitsatz

NV: Ein Urteil ist verfahrensfehlerhaft ergangen, wenn das Gericht bei der Formulierung der Anträge für den nicht vertretenen Kläger dessen Klageziel im Sinne einer Abänderung des Bescheids mittels Anfechtungsklage erfasst, in den Gründen aber von einer Verpflichtungsklage ausgeht.

Tenor

Auf die Beschwerde des Beklagten wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des [X.] vom 23.02.2021 - 3 K 1953/19 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Tatbestand

I.

1

Die Beteiligten streiten in der Sache um die Anrechnung einbehaltener [X.]teuer.

2

Der Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) hielt in 2010 (Streitjahr) 686 Aktien einer [X.] Kapitalgesellschaft ([X.].). Im Zuge einer Kapitalmaßnahme wurden dem Kläger am 24.03.2010 pro vier gehaltener Aktien drei zusätzliche Aktien der [X.]. und somit insgesamt 514,5 Aktien zugeteilt. Die Depotbank des Klägers behandelte --ausgehend von einem Börsenkurs am 24.03.2010 in Höhe von ... € je Aktie-- die neu zugeteilten Aktien als steuerpflichtige Sachausschüttung in Höhe von ... € und behielt [X.]teuer in Höhe von ... € sowie Solidaritätszuschlag in Höhe von ... € ein.

3

In seiner ohne Anlage [X.] eingereichten Einkommensteuererklärung vertrat der Kläger --unter Beifügung einer mit "Antrag zu [X.]teuer" überschriebenen Anlage-- die Auffassung, dass es sich bei den neu zugeteilten Aktien der [X.]. um keine steuerpflichtige Sachausschüttung, sondern um einen steuerneutralen "Aktiensplit" handele. Der Beklagte und Beschwerdeführer (das Finanzamt --[X.]--) berücksichtigte den Vorgang im Rahmen der Einkommensteuerfestsetzung durch Bescheid vom 03.04.2012 überhaupt nicht, da kein Antrag auf Günstigerprüfung gemäß § 32d Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes in der für das Streitjahr anzuwendenden Fassung (EStG) gestellt sei und somit die Abgeltungswirkung für Kapitalerträge gemäß § 43 Abs. 5 Satz 1 EStG greife.

4

Daraufhin beantragte der Kläger mit Schreiben vom 21.04.2012 die "schlichte Änderung" des Einkommensteuerbescheids für 2010 vom 03.04.2012 u.a. dahingehend, dass die durch die Depotbank einbehaltenen Steuerbeträge zurückerstattet werden. Das [X.] lehnte diesen Antrag durch --mit "[X.] nach § 218 AO" überschriebenen-- Bescheid vom 15.11.2012 ab, da es sich bei den neu zugeteilten Aktien um eine steuerpflichtige Sachausschüttung handele und auch die Voraussetzungen der §§ 1 und 7 des Gesetzes über steuerrechtliche Maßnahmen bei Erhöhung des Nennkapitals aus Gesellschaftsmitteln nicht nachgewiesen seien. Der Einspruch des Klägers gegen den "[X.] nach § 218 AO" hatte teilweise --aus hier nicht streitigen [X.] Erfolg; insoweit erging am [X.] ein geänderter Einkommensteuerbescheid. Im Übrigen wurde der Einspruch durch Einspruchsentscheidung vom [X.] zurückgewiesen.

5

Das Finanzgericht ([X.]) [X.] gab der Klage statt und entschied durch Urteil ohne mündliche Verhandlung am 23.02.2021 nach "sinngemäßer" Auslegung des Klageantrags, dass der Einkommensteuerbescheid für 2010 vom [X.] --unter Aufhebung des [X.]s vom 15.11.2012 und der Einspruchsentscheidung vom [X.]-- dahingehend geändert wird, dass Einkünfte aus Kapitalvermögen im Zusammenhang der Kapitalmaßnahme der [X.]. in Höhe von 0 € in Ansatz gebracht und auf die festgesetzten Beträge [X.]teuer in Höhe von weiteren ... € und Solidaritätszuschlag in Höhe von weiteren ... € angerechnet werden. Seine Entscheidung stützte das [X.] dabei maßgeblich auf die Auslegung des § 20 Abs. 4a Satz 5 EStG.

6

Hiergegen wendet sich das [X.] mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde, mit der es im Wesentlichen rügt, dass der Rechtsfrage, ob es im Falle der Zuteilung von [X.] einer ausländischen Aktiengesellschaft möglich sei, die Höhe des [X.] anhand des Börsenkurses am [X.] zu bestimmen, so dass § 20 Abs. 4a Satz 5 EStG nicht anwendbar sei, grundsätzliche Bedeutung i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ([X.]O) zukomme. Des Weiteren rügt das [X.] eine Divergenz zu den Urteilen des [X.] Baden-Württemberg vom 30.11.2018 - 13 K 3111/18 (Entscheidungen der Finanzgerichte --E[X.]-- 2019, 425) und des [X.] Münster vom 28.02.2018 - 9 K 2117/16 E (E[X.] 2018, 1265).

Entscheidungsgründe

II.

7

Die zulässige Beschwerde ist begründet. Sie führt unter Anwendung des § 116 Abs. 6 [X.]O zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung.

8

1. Das angefochtene Urteil beruht auf einem Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O, denn das [X.] hat § 76 Abs. 2 und § 96 Abs. 1 Satz 2 [X.]O verletzt. Dies stellt einen im Verfahren über die Nichtzulassungsbeschwerde auch ohne Rüge von Amts wegen zu berücksichtigenden Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens dar (vgl. Beschlüsse des [X.] --[X.]-- vom 21.10.2020 - VII B 121/19, [X.], 326, Rz 23; vom 30.01.2020 - IX B 73/19, [X.], 562, Rz 5; vom 10.06.2014 - IX B 157/13, [X.], 1559, Rz 2, und vom [X.], [X.], 624; jeweils m.w.N.).

9

a) Nach § 96 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 [X.]O ist das Gericht an die Fassung des Klageantrags nicht gebunden, sondern hat im Wege der Auslegung den Willen der [X.] anhand der erkennbaren Umstände zu ermitteln ([X.]-Urteil vom 12.06.1997 - I R 70/96, [X.], 465, [X.] 1998, 38, unter [X.], m.w.N.).

aa) Hierbei ist zu berücksichtigen, dass im Zweifel das gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage entspricht ([X.]-Urteil vom 29.04.2009 - X R 35/08, [X.], 1777, m.w.N.). Nur eine solche Auslegung trägt dem Grundsatz der Rechtsschutz gewährenden Auslegung nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes Rechnung ([X.]-Urteil vom 27.01.2011 - III R 65/09, [X.], 991, Rz 10, m.w.N.). Dabei darf das [X.] nicht über ein offenkundig nicht verfolgtes Rechtsschutzziel entscheiden (vgl. etwa [X.]-Urteil vom 24.11.1998 - VIII R 61/97, [X.], 297, [X.] 1999, 483, unter II.3.), nicht über die Anträge hinausgehen (§ 96 Abs. 1 Satz 2 [X.]O), nicht hinter dem Klagebegehren zurückbleiben, nicht nur über einen Teil des Klagebegehrens entscheiden (vgl. etwa [X.] in [X.], 624, Rz 22, m.w.N.) und auch nicht unklar tenorieren oder so entscheiden, dass das Urteil nicht in einem bestimmten Sinne zweifelsfrei ausgelegt werden kann ([X.]-Urteil vom 27.07.1993 - VIII R 67/91, [X.], 480, [X.] 1994, 469, unter [X.]).

bb) Insofern kann das Beschwerde- oder Revisionsgericht die Auslegung einer prozessualen Willenserklärung uneingeschränkt nachprüfen; die Nachprüfung von Prozesshandlungen und Prozesserklärungen sowie Anträgen auf ihren Inhalt und ihre Bedeutung gehört zu den Aufgaben des [X.], bei der er nicht an die Tatsachenfeststellungen des [X.] gebunden ist ([X.]-Urteile vom 18.08.2020 - VII R 39/19, [X.], 329, und in [X.], 480, [X.] 1994, 469, unter [X.]; [X.] in [X.], 624, Rz 22).

b) Nach diesen Grundsätzen verstößt die Auslegung des vom Kläger schriftsätzlich vorgebrachten Klagebegehrens durch das [X.] dahingehend, dass dieser mit einer Anfechtungsklage gemäß § 40 Abs. 1 Alternative 1 [X.]O die Abänderung i.S. des § 100 Abs. 2 Satz 1 [X.]O des Einkommensteuerbescheids vom [X.] begehrt, gegen § 76 Abs. 2 i.V.m. § 96 Abs. 1 Satz 2 [X.]O. Richtige Klageart wäre vielmehr die Verpflichtungsklage gemäß § 40 Abs. 1 Alternative 2 [X.]O mit dem Ziel einer Neubescheidung gemäß § 101 [X.]O gewesen.

aa) Im Streitfall hatte der prozessual nicht vertretene Kläger in seiner Klagebegründung vom 17.10.2019 zunächst (wörtlich) beantragt, "dass das Gericht überprüft, ob bei der strittigen Kapitalmaßnahme [der [X.].] die Voraussetzungen vorliegen, dass § 1 KapErhStG anwendbar ist oder Steuerneutralität vorliegt aus analogen Gründen, aus denen das [X.] die Kapitalmaßnahme von [X.] am 08.04.2014 als steuerneutral eingeordnet hat oder andere Gründe (z.B. Leistungsfähigkeitsprinzip bei der Besteuerung, Gleichmäßigkeit der Besteuerung) für eine Steuerneutralität vorliegen, so dass dem Klagebegehren (Anrechnung von Kapitalertragsteuer und Solidaritätszuschlag ...) stattgegeben werden kann". Mit Schriftsatz vom 28.01.2020 beantragte der Kläger zudem, "der Klage stattzugeben". Das [X.] hat den Antrag des [X.] sodann ("sinngemäß") so formuliert, dass dieser die Abänderung des Einkommensteuerbescheids vom [X.] begehrt und --nach [X.] auch entsprechend i.S. des § 100 Abs. 2 Satz 1 [X.]O tenoriert.

bb) Demgegenüber hat das [X.] in seinen Entscheidungsgründen das Schreiben des [X.] vom 21.04.2012 nicht als Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid vom 03.04.2012 ausgelegt, obwohl sich dieses Schreiben gegen einen noch nicht bestandskräftigen Verwaltungsakt richtete, sondern --für den Senat bindend (§ 118 Abs. 2 [X.]O)-- festgestellt, dass es sich insoweit um einen Antrag auf "schlichte Änderung" i.S. des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a der Abgabenordnung handelte. Nach den weiteren Feststellungen des [X.] handelte es sich bei dem "[X.] nach § 218 AO" vom 15.11.2012 folglich um die Ablehnung dieser "schlichten Änderung". Gegen die --nach erfolglosem Einspruch des [X.]-- ergangene Einspruchsentscheidung vom [X.] wäre daher die Verpflichtungsklage gemäß § 40 Abs. 1 Alternative 2 [X.]O die richtige Klageart gewesen ([X.]-Urteile vom 11.11.2008 - IX R 53/07, [X.], 364; vom 27.10.1993 - XI R 17/93, [X.]E 172, 493, [X.] 1994, 439; vom 13.12.1985 - III R 204/81, [X.]E 145, 545, [X.] 1986, 245; vom 03.02.1983 - IV R 153/80, [X.]E 137, 547, [X.] 1983, 324).

cc) Richtigerweise hätte das [X.] daher gemäß § 76 Abs. 2 i.V.m. § 96 Abs. 1 Satz 2 [X.]O entsprechend dem vom Kläger im Klageverfahren vorgetragenen Rechtsschutzziel davon ausgehen müssen, dass dieser eine Neubescheidung gemäß § 101 [X.]O entsprechend der Entscheidungsgründe des [X.]-Urteils begehrt. In diesem Sinne wäre der vom Kläger gestellte Klageantrag auszulegen gewesen. Eine Abänderung des Einkommensteuerbescheids vom [X.] i.S. des § 100 Abs. 2 Satz 1 [X.]O --wie durch das [X.] tenoriert-- kam hingegen nicht in Betracht, weil diese Vorschrift nur auf reine Anfechtungsbegehren beschränkt ist, die Verpflichtungsklage hingegen in den Anwendungsbereich des § 101 [X.]O fällt, der den Erlass eines begehrten Verwaltungsakts durch das Gericht aber nicht zulässt ([X.]-Urteile vom 20.07.2018 - IX R 28/17, [X.]/NV 2019, 110, Rz 29; vom 29.03.2007 - IX R 21/05, [X.]/NV 2007, 2077; vom 11.07.1996 - V R 18/95, [X.]E 180, 524, [X.] 1997, 259).

2. Der Senat hält es daher für sachgerecht, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache gemäß § 116 Abs. 6 [X.]O an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Das [X.] wird im zweiten Rechtsgang gemäß § 76 Abs. 2 [X.]O auf eine ordnungsgemäße Antragstellung hinwirken und gemäß § 96 Abs. 1 Satz 2 [X.]O über den gestellten Antrag entscheiden müssen. Für das weitere Verfahren weist der Senat zudem auf die zwischenzeitlich zu § 20 Abs. 4a Satz 5 EStG ergangenen Entscheidungen hin ([X.]-Urteile vom 04.05.2021 - VIII R 17/18, [X.]E 273, 197, und [X.], [X.]E 273, 206).

3. [X.] beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

VIII B 50/21

14.12.2021

Bundesfinanzhof 8. Senat

Beschluss

vorgehend Finanzgericht Rheinland-Pfalz, 23. Februar 2021, Az: 3 K 1953/19, Urteil

§ 76 Abs 2 FGO, § 96 Abs 1 S 2 FGO, § 100 Abs 2 S 1 FGO, § 101 FGO, § 116 Abs 6 FGO, § 20 Abs 4a S 5 EStG 2009, § 115 Abs 2 Nr 3 FGO, EStG VZ 2010

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 14.12.2021, Az. VIII B 50/21 (REWIS RS 2021, 358)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 358

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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