Bundesgerichtshof, Beschluss vom 15.06.2023, Az. I ZB 31/20

1. Zivilsenat | REWIS RS 2023, 4928

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Gegenstand

Auslegung des Begriffs der bestimmungsgemäßen Verwendung im Sinne des Designgesetzes - Sattelunterseite II


Leitsatz

Sattelunterseite II

Die Sichtbarkeit eines Bauelements (hier: Fahrradsattel) eines komplexen Erzeugnisses (hier: Fahrrad) bei seiner bestimmungsgemäßen Verwendung durch den Endbenutzer im Sinne von §§ 4, 1 Nr. 4 DesignG (Art. 3 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 98/71/EG) ist aus der Sicht dieses Benutzers sowie der Sicht eines außenstehenden Beobachters zu beurteilen. Die bestimmungsgemäße Verwendung umfasst die Handlungen, die bei der hauptsächlichen Verwendung eines komplexen Erzeugnisses (hier: Benutzung als Fortbewegungsmittel) vorgenommen werden, sowie die Handlungen, die der Endbenutzer im Rahmen einer solchen Verwendung üblicherweise vorzunehmen hat (hier: Aufbewahrung und Transport), mit Ausnahme von Instandhaltung, Wartung und Reparatur (Anschluss an EuGH, Urteil vom 16. Februar 2023 - C-472/21, GRUR 2023, 482 = WRP 2023, 430 - Monz Handelsgesellschaft International).

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Designinhaberin wird der Beschluss des 30. Senats ([X.]) des [X.] vom 27. Februar 2020 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Für die [X.] ist beim [X.] seit dem 3. November 2011 das am 9. September 2011 angemeldete Design Nr. 40 2011 004 383-0001 für die Erzeugnisse "Sättel für Fahrräder oder Motorräder" mit folgender einziger Darstellung eingetragen, die die Unterseite eines Sattels zeigt:

Abbildung

2

Die Antragstellerin hat am 27. Juli 2016 die Feststellung der Nichtigkeit des Designs beantragt. Sie macht geltend, dem Design fehlten die [X.] der Neuheit und Eigenart. Vor allem sei es nach § 4 [X.] vom Schutz ausgeschlossen, weil es als Bauelement der komplexen Erzeugnisse "Fahrrad" und "Motorrad" bei deren bestimmungsgemäßer Verwendung nicht sichtbar sei.

3

Die Designabteilung des [X.]s hat den Antrag zurückgewiesen. Auf die dagegen gerichtete Beschwerde der Antragstellerin hat das [X.] die Nichtigkeit des Designs festgestellt ([X.], 246). Hiergegen richtet sich die vom [X.] zugelassene Rechtsbeschwerde der [X.], deren Zurückweisung die Antragstellerin beantragt.

4

Der Senat hat dem [X.] zur Auslegung von Art. 3 Abs. 3 und 4 der [X.]/[X.] über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt ([X.], Beschluss vom 1. Juli 2021 - [X.], [X.], 1186 = [X.], 1175 - [X.]):

1. Ist ein Bauelement, das ein Muster verkörpert, bereits dann "sichtbar" im Sinne von Art. 3 Abs. 3 der [X.]/[X.], wenn es objektiv möglich ist, das Design in eingebautem Zustand des Bauelements erkennen zu können, oder kommt es auf die Sichtbarkeit unter bestimmten Nutzungsbedingungen oder aus einer bestimmten Betrachterperspektive an?

2. Wenn Frage 1 dahin zu beantworten ist, dass die Sichtbarkeit unter bestimmten Nutzungsbedingungen oder aus einer bestimmten Betrachterperspektive maßgeblich ist:

a) Kommt es für die Beurteilung der "bestimmungsgemäßen Verwendung" eines komplexen Erzeugnisses durch den [X.] im Sinne von Art. 3 Abs. 3 und 4 der [X.]/[X.] auf den vom Hersteller des Bauelements oder des komplexen Erzeugnisses intendierten Verwendungszweck oder die übliche Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch den [X.] an?

b) Nach welchen Kriterien ist zu beurteilen, ob die Verwendung eines komplexen Erzeugnisses durch den [X.] "bestimmungsgemäß" im Sinne von Art. 3 Abs. 3 und 4 der [X.]/[X.] ist?

5

Der [X.] hat diese Fragen wie folgt beantwortet ([X.], Urteil vom 16. Februar 2023 - [X.]/21, [X.], 482 = [X.], 430 - [X.]):

Art. 3 Abs. 3 und 4 der [X.]/[X.] über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen ist dahin auszulegen, dass das Erfordernis der "Sichtbarkeit", das nach dieser Vorschrift erfüllt sein muss, damit ein Muster, das bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, rechtlichen Musterschutz genießen kann, im Hinblick auf eine Situation der normalen Verwendung dieses komplexen Erzeugnisses zu prüfen ist, wobei es darauf ankommt, dass das betreffende Bauelement nach seiner Einfügung in dieses Erzeugnis bei einer solchen Verwendung sichtbar bleibt. Zu diesem Zweck ist die Sichtbarkeit eines Bauelements eines komplexen Erzeugnisses bei seiner "bestimmungsgemäßen Verwendung" durch den [X.] aus der Sicht dieses Benutzers sowie der Sicht eines außenstehenden Beobachters zu beurteilen, wobei diese bestimmungsgemäße Verwendung die Handlungen, die bei der hauptsächlichen Verwendung eines komplexen Erzeugnisses vorgenommen werden, sowie die Handlungen, die der [X.] im Rahmen einer solchen Verwendung üblicherweise vorzunehmen hat, umfassen muss, mit Ausnahme von Instandhaltung, Wartung und Reparatur.

6

II. Das [X.] hat - soweit für das Rechtsbeschwerdeverfahren relevant - angenommen, auf die zulässige Beschwerde der Antragstellerin sei nach § 33 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3, §§ 2, 4, 1 Nr. 4 [X.] die Nichtigkeit des angegriffenen Designs festzustellen, weil es über keine Neuheit und Eigenart verfüge. In seiner naheliegenden Erscheinungsform als Unterseite eines [X.] könne das angegriffene Design bei einem Erzeugnis benutzt werden, das als Bauelement in das komplexe Erzeugnis "Fahrrad" eingefügt werden könne. Bei der bestimmungsgemäßen Verwendung des Fahrrads durch den [X.], die den [X.] und das Auf- und Absteigen umfasse, werde die designgegenständliche Unterseite eines [X.] nicht sichtbar.

7

III. Die zulässige Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und Zurückverweisung der Sache an das [X.]. Mit der vom [X.] gegebenen Begründung kann die Nichtigkeit des angegriffenen Designs nicht festgestellt werden.

8

1. Gemäß § 33 Abs. 1 Nr. 2 [X.] ist ein eingetragenes Design nichtig, wenn das Design nicht neu ist oder keine Eigenart hat. Ein Design, das bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, gilt gemäß § 4 [X.] nur dann als neu und hat nur dann Eigenart, wenn das Bauelement, das in ein komplexes Erzeugnis eingefügt ist, bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung sichtbar bleibt und diese sichtbaren Merkmale des Bauelements selbst die Voraussetzungen der Neuheit und Eigenart erfüllen. Eine bestimmungsgemäße Verwendung ist nach § 1 Nr. 4 [X.] die Verwendung durch den [X.], ausgenommen Maßnahmen der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur.

9

§ 4 und § 1 Nr. 4 [X.] setzen Art. 3 Abs. 3 und 4 der [X.]/[X.] in das nationale Recht um und sind daher richtlinienkonform auszulegen. Gemäß Art. 3 Abs. 3 der [X.]/[X.] gilt das Muster, das bei einem Erzeugnis, das Bauelement eines komplexen Erzeugnisses ist, benutzt oder in dieses Erzeugnis eingefügt wird, nur dann als neu und hat nur dann Eigenart, (Buchst. a) wenn das Bauelement, das in das komplexe Erzeugnis eingefügt ist, bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung sichtbar bleibt und (Buchst. b) soweit diese sichtbaren Merkmale des Bauelements selbst die Voraussetzungen der Neuheit und Eigenart erfüllen. Nach Art. 3 Abs. 4 der [X.]/[X.] bedeutet "bestimmungsgemäße Verwendung" im Sinne des Absatzes 3 Buchstabe a die Verwendung durch den [X.], ausgenommen Maßnahmen der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur. Ähnliche Regelungen für das Gemeinschaftsgeschmacksmuster finden sich in Art. 4 Abs. 2 und 3 GGV.

2. Ein Fahrrad- oder Motorradsattel stellt ein Erzeugnis im Sinne des § 1 Nr. 2 Halbsatz 1 [X.] dar. Dieser Begriff umfasst jeden industriellen oder handwerklichen Gegenstand einschließlich von Einzelteilen, die zu einem komplexen Erzeugnis zusammengebaut werden sollen.

3. Zutreffend und von der Rechtsbeschwerde unbeanstandet ist das [X.] davon ausgegangen, dass ein Fahrrad ein komplexes Erzeugnis und ein Fahrradsattel ein Bauelement dieses komplexen Erzeugnisses ist.

a) Ein komplexes Erzeugnis ist nach § 1 Nr. 3 [X.] ein Erzeugnis aus mehreren Bauelementen, die sich ersetzen lassen, so dass das Erzeugnis auseinander- und wieder zusammengebaut werden kann. Der Begriff des Bauelements ist mangels Definition in der Richtlinie nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch zu bestimmen. Mit der Wendung "Bauelemente eines komplexen Erzeugnisses" werden die verschiedenen Einzelteile bezeichnet, die zu einem komplexen industriellen oder handwerklichen Gegenstand zusammengebaut werden sollen und sich ersetzen lassen, so dass ein solcher Gegenstand auseinander- und wieder zusammengebaut werden kann, und deren Fehlen dazu führen würde, dass das komplexe Erzeugnis nicht bestimmungsgemäß verwendet werden kann (vgl. bereits [X.], [X.], 1186 [juris Rn. 9] - [X.], mwN; ebenso [X.], [X.], 482 [juris Rn. 34] - [X.] unter Verweis auf [X.], Urteil vom 20. Dezember 2017 - [X.]/16 und [X.]/16, [X.], 284 [juris Rn. 64 bis 66] = WRP 2018, 308 - Acacia und [X.] [Acacia/Porsche]).

b) Nach diesem Maßstab hat das [X.] zu Recht angenommen, dass ein regelmäßig über ein Sattelrohr fest verbundener, jedoch ohne Weiteres austauschbarer Sattel ein Bauelement eines Fahrrads ist und der Sattel eine Funktionseinheit mit dem komplexen Erzeugnis "Fahrrad" bildet, da ein Fahrrad ohne Sattel nicht seiner Bestimmung entsprechend als Fortbewegungsmittel genutzt werden kann.

4. Mit der vom [X.] gegebenen Begründung kann die Sichtbarkeit der Unterseite des Bauelements "Fahrradsattel" nach dem Einbau in das komplexe Erzeugnis "Fahrrad" bei bestimmungsgemäßer Verwendung des Fahrrads durch den [X.] im Sinne von § 4 und § 1 Nr. 4 [X.] nicht verneint werden.

a) Zutreffend hat das [X.] allerdings angenommen, dass es auf die Sichtbarkeit des auf der [X.] enthaltenen Designs nach dem Einbau des Bauelements "Fahrradsattel" in das komplexe Erzeugnis "Fahrrad", nicht aber vor dem Einbau oder nach dem Ausbau des [X.] ankommt.

aa) Das [X.] hat ausgeführt, nach dem eindeutigen Wortlaut des § 4 [X.] sei es erforderlich, dass ein in das komplexe Erzeugnis "eingefügtes" Bauelement sichtbar bleibe. Hingegen könne eine erst durch oder bei Trennung des Bauelements von dem komplexen Erzeugnis sich eröffnende Sicht keine dem [X.] entgegenwirkende Sichtbarkeit begründen. Letzteres sei der Fall, wenn die Unterseite des [X.] erst mit dessen Ausbau zu den Zwecken des Austauschs gegen einen anderen Sattel oder des [X.] sichtbar werde. Gleiches gelte für eine Sichtbarkeit vor Einbau des Bauelements in das komplexe Erzeugnis, zum Beispiel beim Kauf eines [X.] als Einzelteil.

bb) Diese von der Rechtsbeschwerde nicht beanstandete Beurteilung lässt keinen Rechtsfehler erkennen. Nach dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 der [X.]/[X.] und des seiner Umsetzung dienenden § 4 [X.] muss das Bauelement, das in das komplexe Erzeugnis "eingefügt" ist, bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung sichtbar bleiben; die Prüfung der Neuheit und Eigenart erstreckt sich auf "diese sichtbaren Merkmale" des Bauelements. Darüber hinaus soll sich der durch ein Design vermittelte Schutz nach Erwägungsgrund 12 Satz 1 der [X.]/[X.] nicht auf Merkmale eines Bauelements erstrecken, die unsichtbar sind, wenn das Bauelement eingebaut ist (vgl. bereits [X.], [X.], 1186 [juris Rn. 16] - [X.], mwN).

b) Ebenfalls zutreffend hat das [X.] auf die Sichtbarkeit der in dem Bauelement "Fahrradsattel" verkörperten Merkmale des Designs bei bestimmungsgemäßer Verwendung des komplexen Erzeugnisses "Fahrrad" abgestellt. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde reicht es nicht aus, wenn das Design nach dem Einbau des Bauelements in das komplexe Erzeugnis objektiv erkennbar ist und in der Gestalt, die das komplexe Erzeugnis bei seiner bestimmungsgemäßen Verwendung hat, nicht vollständig verdeckt wird.

aa) Das [X.] hat angenommen, es sei erforderlich, dass das Bauelement im Rahmen einer bei einer bestimmungsgemäßen Verwendung durch den [X.] anfallenden Benutzungshandlung für den [X.] oder auch für einen Dritten "sichtbar" bleibe. Auf Grundlage eines nach dem Bedeutungsgehalt möglichen Verständnisses von "sichtbar" im Sinne von "einsehbar" genügte es zwar, dass die Unterseite eines [X.], die in aller Regel offen sei und nicht abgedeckt werde, anders als ein vollständig in ein komplexes Erzeugnis verbautes Bauelement insbesondere auch bei dessen bestimmungsgemäßer Verwendung durch einen einfachen Blick von unten ganz oder zumindest zu einem Teil äußerlich einsehbar bleibe. § 4 [X.] sei aber eine Sonderregelung, bei der nicht auf den Gegenstand der Anmeldung und damit auf die Sichtbarkeit der darin sichtbar wiedergegebenen Merkmale, sondern auf die Verwendung eines designmäßigen Erzeugnisses abgestellt werde.

bb) Diese Ausführungen halten der rechtlichen Nachprüfung stand. Auch die vom [X.] offengelassene Frage, ob es allein auf die Sichtbarkeit für den [X.] ankommt oder auch die Sichtbarkeit für einen Dritten einem [X.] nach § 4 [X.] entgegenwirkt, ist durch das auf die Vorlage ergangene Urteil des Gerichtshofs der [X.] geklärt.

Der Gerichthof der [X.] hat entschieden, dass eine abstrakte Beurteilung der Sichtbarkeit des in ein komplexes Erzeugnis eingefügten Bauelements ohne Bezug zu jedweder konkreten Situation der Verwendung dieses Erzeugnisses nicht genügt, damit ein solches Bauelement den Musterschutz nach der [X.]/[X.] genießen kann. Art. 3 Abs. 3 der [X.]/[X.] verlangt aber nicht, dass ein in ein komplexes Erzeugnis eingefügtes Bauelement zu jedem Zeitpunkt der Verwendung des komplexen Erzeugnisses vollständig sichtbar bleibt. Die Frage der Sichtbarkeit eines Bauelements eines komplexen Erzeugnisses bei seiner bestimmungsgemäßen Verwendung durch den [X.] ist aus der Sicht dieses Benutzers sowie der Sicht eines außenstehenden Beobachters zu beurteilen (vgl. [X.], [X.], 482 [juris Rn. 45 f. und 56] - [X.]).

Diese Auslegung hat der [X.] zum einen daraus hergeleitet, dass der Musterschutz sich gemäß Art. 1 Buchst. a der [X.]/[X.] auf die Erscheinungsform eines Erzeugnisses bezieht und sich die Erscheinungsform eines Bauelements im Sinne des Art. 3 Abs. 3 der [X.]/[X.] ausschließlich aus dessen sichtbaren Merkmalen ergibt (vgl. [X.], [X.], 482 [juris Rn. 37 bis 43] - [X.]). Zum anderen muss nach dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 der [X.]/[X.], dem § 4 [X.] weitgehend entspricht, das in das komplexe Erzeugnis eingefügte Bauelement "bei … bestimmungsgemäßer Verwendung" dieses Erzeugnisses sichtbar bleiben, um rechtlichen Musterschutz genießen zu können (vgl. [X.], [X.], 482 [juris Rn. 44] - [X.]).

c) Die Auslegung des Begriffs der bestimmungsgemäßen Verwendung hat das [X.] jedoch rechtsfehlerhaft auf Handlungen des [X.]s in unmittelbarem Zusammenhang mit der Verfolgung des vom Hersteller definierten (Haupt-)Verwendungszwecks des komplexen Erzeugnisses verengt. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der [X.] ist von einem weiten Begriffsverständnis auszugehen, das nicht allein auf die Zweckdefinition des Herstellers beschränkt ist, sondern alle üblichen Verwendungen mit Ausnahme von Instandhaltung, Wartung und Reparatur des komplexen Erzeugnisses umfasst. Danach können im Streitfall insbesondere mit dem Transport oder der Aufbewahrung eines Fahrrads verbundene Handlungen unter dessen bestimmungsgemäße Verwendung fallen.

aa) Das [X.] hat ausgeführt, maßgeblich sei nach §§ 4, 1 Nr. 4 [X.] die bestimmungsgemäße Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch den [X.], ausgenommen Maßnahmen der Instandhaltung, Wartung oder Reparatur. [X.] sei nur der Fahrer des Fahrrads, nicht aber ein Mitfahrer oder ein das Fahrrad betrachtender Dritter. Die aus Sicht des Herstellers zu definierende "bestimmungsgemäße" Verwendung eines Fahrrads sei seine Benutzung als Fortbewegungsmittel; diese umfasse den [X.] und - was zugunsten der [X.] unterstellt werden könne - auch das Auf- und Absteigen. Während dieser Handlungen sei die Unterseite des Sattels vollständig von der Oberseite und den Seitenteilen des Sattels verdeckt. Sichtbar werde sie nur durch einen Blick "von unten", der jedoch völlig unüblich sei. Weitere bestimmungsgemäße Verwendungen ließen sich nicht feststellen. Zu Gunsten der [X.] könne ferner unterstellt werden, dass die [X.] bei einem Abstellen des Fahrrads in dafür vorgesehenen Vorrichtungen und bei dessen Aufbewahrung sichtbar werde. Jedoch seien Maßnahmen der Aufbewahrung und auch des Transports der bestimmungsgemäßen Verwendung vor- oder nachgelagert, nicht aber Teil von ihr. Anders verhielte es sich nur, wenn die "übliche" von der "bestimmungsgemäßen" Verwendung mitumfasst wäre. Davon könne jedoch nicht ausgegangen werden. Zwar sprächen die [X.] und [X.] Fassung des Art. 3 Abs. 3 Buchst. a der [X.]/[X.] von "normal use" beziehungsweise "[une] utilisation normale"; die [X.] Fassung und die nationalen Vorschriften stellten aber unmissverständlich auf die "bestimmungsgemäße" Verwendung ab.

bb) Diese Ausführungen halten der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

Der [X.] hat entschieden, dass die bestimmungsgemäße Verwendung eines komplexen Erzeugnisses die Handlungen, die bei der hauptsächlichen Verwendung eines komplexen Erzeugnisses vorgenommen werden, sowie die Handlungen, die der [X.] im Rahmen einer solchen Verwendung üblicherweise vorzunehmen hat, umfassen muss, mit Ausnahme von Instandhaltung, Wartung und Reparatur (vgl. [X.], [X.], 482 [juris Rn. 55 f.] - [X.]).

Unter Verweis auf die unterschiedlichen Sprachfassungen hat der Gerichtshof festgehalten, dass die normale oder übliche Verwendung eines komplexen Erzeugnisses durch den [X.] sich in der Regel mit einer Verwendung gemäß der Bestimmung des komplexen Erzeugnisses deckt, die dessen Hersteller (oder Entwickler) beabsichtigt hat. Die Beurteilung kann jedoch nicht allein auf die Absicht des Herstellers des Bauelements oder des komplexen Erzeugnisses gestützt werden, weil der Unionsgesetzgeber auf die übliche Verwendung des komplexen Erzeugnisses durch den [X.] abstellen wollte, um eine Verwendung dieses Erzeugnisses auf anderen Handelsstufen auszuschließen und auf diese Weise einer Umgehung des [X.] vorzubeugen (vgl. [X.], [X.], 482 [juris Rn. 50 bis 52] - [X.]).

Der Umstand, dass Art. 3 Abs. 4 der [X.]/[X.] nicht angibt, welche Art der Verwendung eines komplexen Erzeugnisses von dem Begriff "bestimmungsgemäße Verwendung" erfasst wird, sondern allgemein auf die Verwendung eines solchen Erzeugnisses durch den [X.] Bezug genommen wird, spricht nach Ansicht des Gerichtshofs für eine weite Auslegung dieses Begriffs. Folglich umfasst die bestimmungsgemäße Verwendung eines komplexen Erzeugnisses auch Handlungen, die vorgenommen werden können, bevor oder nachdem das Erzeugnis seine Hauptfunktion erfüllt hat, wie etwa die Aufbewahrung oder der Transport des Erzeugnisses, nicht aber die nach Art. 3 Abs. 4 der [X.]/[X.] ausdrücklich ausgenommenen Handlungen, die mit Instandhaltung, Wartung oder Reparatur zusammenhängen (vgl. [X.], [X.], 482 [juris Rn. 53 f.] - [X.]).

IV. Die angefochtene Entscheidung ist danach aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen (§ 23 Abs. 5 Satz 2 [X.], § 108 Abs. 1 [X.]). Hierzu weist der Senat auf Folgendes hin:

1. Wie dargestellt (Rn. 23 bis 28), kann die nach der ersten Voraussetzung des § 4 [X.] zu fordernde Sichtbarkeit des Bauelements und der Merkmale des in ihm verkörperten Designs auch durch Handlungen erfüllt werden, die mit dem Transport oder der Aufbewahrung eines Fahrrads verbunden sind. Das [X.] hat die Sichtbarkeit des Designs bei solchen Handlungen bislang lediglich zu Gunsten der [X.] unterstellt und wird hierzu Feststellungen treffen müssen. Gegebenenfalls wird es auch andere von den Parteien vorgetragene Handlungen zu prüfen haben.

Da nach § 39 [X.] zugunsten der [X.] vermutet wird, dass die an die Rechtsgültigkeit ihres eingetragenen Designs zu stellenden Anforderungen erfüllt sind, hat die Antragstellerin als Voraussetzung für den Erfolg ihres Antrags die negative Tatsache darzulegen und zu beweisen, dass das Design nach Einbau des Bauelements in den komplexen Gegenstand bei dessen üblicher Verwendung nicht sichtbar bleibt. Der [X.] obliegt es als nicht [X.], im Rahmen des ihr Zumutbaren diese negative Tatsache unter Darlegung der für die gegenläufige positive Tatsache sprechenden Umstände substantiiert zu bestreiten. Die [X.] hat sodann die für die positive Tatsache sprechenden Umstände zu widerlegen (zum vorbekannten Formenschatz vgl. [X.], Urteil vom 11. Januar 2018 - [X.], [X.], 832 [juris Rn. 80] = WRP 2018, 950 - Ballerinaschuh).

2. Das [X.] hat seine Beurteilung auf die aus seiner Sicht naheliegende Erscheinungsform des Designs auf der Unterseite eines [X.] beschränkt, ohne auf eine mögliche Verwendung auf der Unterseite eines Motorradsattels einzugehen. Nachdem die [X.] "[X.]" als weiteres Erzeugnis angegeben hat, wird das [X.] seine Prüfung gegebenenfalls auch darauf zu erstrecken haben.

3. Soweit das [X.] die Sichtbarkeit des Designs bejaht, wird es über die zweite nach § 4 [X.] zu prüfende Frage entscheiden müssen, ob die sichtbaren Merkmale des Bauelements selbst die Voraussetzungen der Neuheit und Eigenart erfüllen. Dies hat das [X.] bislang ohne abschließende Sachprüfung unterstellt.

Koch     

      

Löffler     

      

Schwonke

      

Schmaltz     

      

Odörfer     

      

Meta

I ZB 31/20

15.06.2023

Bundesgerichtshof 1. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend EuGH, 16. Februar 2023, Az: C-472/21, Urteil

Art 3 Abs 3 EGRL 71/98, Art 3 Abs 4 EGRL 71/98, § 1 Nr 4 GeschmMG 2004, § 4 GeschmMG 2004

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 15.06.2023, Az. I ZB 31/20 (REWIS RS 2023, 4928)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 4928


Verfahrensgang

Der Verfahrensgang wurde anhand in unserer Datenbank vorhandener Rechtsprechung automatisch erkannt. Möglicherweise ist er unvollständig.

Az. 30 W (pat) 809/18

Bundespatentgericht, 30 W (pat) 809/18, 27.02.2020.


Az. I ZB 31/20

Bundesgerichtshof, I ZB 31/20, 15.06.2023.

Bundesgerichtshof, I ZB 31/20, 01.07.2021.


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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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(Schutzgegenstand eines Einzeldesigns bei beigefügten Schwarz-Weiß-Fotografien)


I ZB 25/18 (Bundesgerichtshof)

(Einheitlicher Schutzgegenstand im Sinne des Designgesetzes)


Referenzen
Wird zitiert von

I ZB 31/20

Zitiert

I ZR 187/16

I ZB 31/20

I ZR 1/19

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