Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 15.05.2012, Az. 1 BvR 1906/09

1. Senat 3. Kammer | REWIS RS 2012, 6442

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Parallelentscheidung


Tenor

1. Die Urteile des [X.] vom 18. Dezember 2008 - 8 [X.] -, des [X.] vom 6. Juni 2007 - 2 Sa 1417/06 - und des [X.] vom 30. Juni 2006 - 4 Ca 586/05 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 12 Absatz 1 des Grundgesetzes. Die Urteile des [X.] und des [X.] werden aufgehoben. Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

2. Im Übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

3. ...

4. Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 12.000 € (in Worten: zwölftausend Euro) festgesetzt.

Gründe

I.

1

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die durch [X.] [X.]gesetz angeordnete Überleitung des Arbeitsverhältnisses des Beschwerdeführers auf einen neuen Arbeitgeber in Vorbereitung und Umsetzung der Privatisierung der Universitätskliniken [X.]und [X.].

2

Der Beschwerdeführer wendet sich gegen Urteile des Arbeitsgerichts, des [X.] und des [X.], durch die eine Klage auf Feststellung des [X.] seines Arbeitsverhältnisses mit dem [X.], dem Beklagten des Ausgangsverfahrens, abgewiesen wurde. [X.] wendet sich die Verfassungsbeschwerde gegen das [X.] Gesetz über die Errichtung des [X.] und [X.] ([X.]) vom 16. Juni 2005 ([X.]; im Folgenden: [X.]).

3

1. Das Gesetz über die Errichtung des [X.] und [X.] regelt in § 1 Abs. 3 Satz 1, dass Rechte, Pflichten und Zuständigkeiten der bislang selbständigen Universitätskliniken [X.] und [X.] im Wege der Gesamtrechtsnachfolge auf das Universitätsklinikum [X.] und [X.] als neu errichtete Anstalt des öffentlichen Rechts übergehen. § 3 Abs. 1 [X.] bestimmt die neue rechtliche Zuordnung der nichtwissenschaftlichen Beschäftigten der beiden Kliniken. Damit wurden die bisher in der Krankenversorgung und Verwaltung der beiden Kliniken tätigen nichtwissenschaftlichen Beschäftigten, die Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Auszubildende des [X.] waren, von der Justus-Liebig-Universität [X.] und der Philipps-Universität [X.] "zum Universitätsklinikum [X.] und [X.] versetzt und in den Anstaltsdienst übergeleitet". Dazu gehörte der Beschwerdeführer. Diejenigen, die Beschäftigte im Anstaltsdienst der beiden Kliniken waren, wurden ebenfalls Beschäftigte des Universitätsklinikums [X.] und [X.]. Für beide Gruppen regelt § 3 Abs. 1 Satz 3 [X.], dass das Universitätsklinikum [X.] und [X.] (unmittelbar kraft Gesetzes) in die Rechte und Pflichten der Arbeits- und Ausbildungsverhältnisse eintritt.

4

Anfang Juli 2005 informierte das Universitätsklinikum [X.] und [X.] die nichtwissenschaftlichen Beschäftigten darüber, dass es mit Wirkung vom 1. Juli 2005 als neuer Arbeitgeber aufgrund des Gesetzes über die Errichtung des Universitätsklinikums [X.] und [X.] in die Rechte und Pflichten der mit den Beschäftigten bestehenden Arbeitsverhältnisse eintrete.

5

Am 1. Dezember 2005 verordnete die [X.] [X.]regierung aufgrund § 5 [X.] die Umwandlung des Universitätsklinikums [X.]und [X.] in eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (UGM-GmbH). Der Formwechsel wurde mit der Eintragung in das [X.]am 2. Januar 2006 wirksam. Mit Wirkung zum 1. Februar 2006 verkaufte das Land 95 % der Geschäftsanteile der UGM-GmbH an die R… AG.

6

2. Der Beschwerdeführer war seit 1987 als nichtwissenschaftlich tätiger Arbeiter beim Land beschäftigt. Mit seiner im Ausgangsverfahren erhobenen Klage beantragte er zuletzt festzustellen, dass sein Arbeitsverhältnis mit dem [X.] über den 1. Juli 2005 hinaus fortbesteht.

7

Die Klage blieb in allen Instanzen erfolglos. Die Gerichte gingen dabei davon aus, dass dem Beschwerdeführer weder aus dem Gesetz über die Errichtung des [X.] und [X.] selbst noch aus anderen gesetzlichen Bestimmungen ein Widerspruchsrecht gegen die Überleitung seines Arbeitsverhältnisses zugestanden habe. Der gesetzlich angeordnete Übergang des Arbeitsverhältnisses sei auch ohne Einräumung eines solchen Rechts wirksam gewesen. Die Nichteinräumung eines Widerspruchsrechts verstoße weder gegen § 613a Abs. 6 BGB noch seien Grundrechte des Beschwerdeführers verletzt. Auch [X.] Recht widerspreche die zwingend angeordnete Überleitung der Arbeitsverhältnisse nicht.

8

3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Grundrechts "auf freie Wahl bzw. Beibehaltung des Arbeitsplatzes aus Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (Würde des Menschen) sowie Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeines Persönlichkeitsrecht)" und seines grundrechtsgleichen Rechts auf [X.] gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG.

9

Der [X.], der Bundesrat, die Bundesregierung, das [X.] sowie die [X.] [X.]regierung und der [X.] Landtag haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten.

II.

Soweit sich der Beschwerdeführer mittelbar gegen § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 [X.] wendet, liegen Gründe für die Annahme der Verfassungsbeschwerde nicht mehr vor (1). Hinsichtlich der Urteile des Arbeitsgerichts, des [X.] und des [X.] ist die Verfassungsbeschwerde hingegen zur Entscheidung anzunehmen (2).

1. Soweit sich die Verfassungsbeschwerde mittelbar gegen die gesetzliche Überleitungsregelung in § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 [X.] richtet, sind Gründe für ihre Annahme im Sinne von § 93a Abs. 2 [X.] nicht mehr gegeben.

Das [X.] hat mit Beschluss des [X.] vom 25. Januar 2011 - 1 BvR 1741/09 - ([X.] 128, 157) die Unvereinbarkeit von § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 [X.] mit Art. 12 Abs. 1 GG bereits mit Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 Satz 2 [X.]) festgestellt. Für eine wiederholte entsprechende Entscheidung besteht kein Raum und kein Bedürfnis (vgl. [X.], Beschluss der 3. Kammer des [X.] vom 24. März 2010 - 1 BvR 395/09 -, juris, Rn. 6).

2. Die Voraussetzungen für eine stattgebende [X.] gemäß § 93c Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 93a Abs. 2 [X.] liegen vor, soweit sich die Verfassungsbeschwerde gegen die Urteile des Arbeitsgerichts, des [X.] und des [X.] richtet. Insoweit ist die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen, weil ihre Annahme zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers auf freie Wahl des Arbeitsplatzes aus Art. 12 Abs. 1 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b [X.]). Demgegenüber wird der Beschwerdeführer durch die angegriffenen Entscheidungen nicht in seinem Recht auf [X.] aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt.

a) Das [X.] hat mit seiner Entscheidung vom 25. Januar 2011 - 1 BvR 1741/09 - ([X.] 128, 157) die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zur Reichweite des Grundrechts auf freie Wahl des Arbeitsplatzes aus Art. 12 Abs. 1 GG bei einer gesetzlich angeordneten Überleitung von Arbeitsverhältnissen entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]).

Bezüglich der angegriffenen Urteile ist die Verfassungsbeschwerde zulässig, obgleich der [X.]gesetzgeber dem Senatsbeschluss vom 25. Januar 2011 zwischenzeitlich Rechnung getragen und den betroffenen Beschäftigten mit dem am 29. Dezember 2011 in [X.]getretenen Gesetz zur Stärkung der Arbeitnehmerrechte am Universitätsklinikum [X.] und [X.] ([X.]) ein Rückkehrrecht in den [X.]dienst eingeräumt hat. Die Annahme eines fortwirkenden [X.] für eine Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde rechtfertigt sich hier ausnahmsweise aus einer fortbestehenden Beschwer mit den Kosten des Ausgangsverfahrens. Eine solche Kostenbeschwer vermag zwar grundsätzlich ein Interesse an einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde nicht zu begründen (vgl. etwa [X.] 50, 244 <247 f.>), weil sonst - trotz nicht mehr bestehender Beschwer in der Hauptsache - lediglich wegen des Kosteninteresses eine verfassungsgerichtliche Prüfung vorzunehmen wäre. Im vorliegenden Fall ist die Feststellung eines Verfassungsverstoßes jedoch bereits in einem Parallelverfahren durch den Senat erfolgt.

Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 Satz 1 [X.]).

Die in § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 [X.] geregelte Überleitung seines Arbeitsverhältnisses in den Anstaltsdienst des Universitätsklinikums [X.] und [X.] stellt eine unverhältnismäßige Beschränkung des durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Interesses des Beschwerdeführers an der Beibehaltung des gewählten Vertragspartners dar, soweit die gesetzliche Übergangsregelung keine Möglichkeit bot, den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses zum Land geltend machen zu können (vgl. [X.] 128, 157 <179 ff.>). Die Entscheidungen des Arbeitsgerichts, des [X.] und des [X.] beruhen auf der insofern unvollständigen und deshalb für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärten Regelung des § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 [X.].

b) Eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG liegt nicht vor, soweit das [X.] von einem Vorabentscheidungsersuchen an den [X.] gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV abgesehen hat. Das [X.] ist verfassungsrechtlich unbedenklich davon ausgegangen, dass ein wie in § 613a Abs. 6 BGB normiertes Widerspruchsrecht nicht auf europarechtliche Grundlagen zurückgeführt werden kann. In Auswertung der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat das [X.] dieses Ergebnis in vertretbarer Weise für so eindeutig gehalten, dass eine Vorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV unterbleiben konnte. Aufgrund der verfassungskonformen Verneinung eines europarechtlich fundierten Widerspruchsrechts im Sinne des [ref=dff2a6bf-bbf5-40f3-8a5b-03bca832e21b]§ 613a Abs. 6 BGB[/ref] war die weiter vom Beschwerdeführer aufgeworfene Frage nach der Anwendbarkeit der Richtlinie 2001/23/[X.] auf einen gesetzlichen Übergang von Arbeitsverhältnissen nicht entscheidungserheblich, so dass das [X.] auch insoweit von einer Vorlage an den Gerichtshof absehen konnte (vgl. [X.] 128, 157 <186 ff.>).

III.

1. Da die im Instanzenzug ergangenen Urteile auf der für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärten Regelung des [ref=ea9f74ae-5564-42db-8ec8-04019ab14f53]§ 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 [X.][/ref] beruhen, war die daraus folgende Grundrechtsverletzung gemäß § 95 Abs. 1 Satz 1 [X.] für alle angegriffenen Entscheidungen festzustellen. Ausgehend von den Erfordernissen des zu beurteilenden Falles genügt es darüber hinaus, wenn lediglich die Urteile des [X.] und des [X.] aufgehoben werden und die Sache gemäß [ref=722839d9-ecfe-49b7-[X.] 2 [X.][/ref] an das [X.]arbeitsgericht zurückverwiesen wird.

Der Anordnung einer Aussetzung des Ausgangsverfahrens bedarf es - anders als im Verfahren 1 BvR 1741/09 - nicht mehr, da der [X.]gesetzgeber mit dem am 29. Dezember 2011 in [X.] getretenen Gesetz zur Stärkung der Arbeitnehmerrechte am Universitätsklinikum [X.] und [X.] ([X.]) zwischenzeitlich auf den verfassungsgerichtlichen Regelungsauftrag reagiert hat.

2. Die auf § 34a Abs. 3 [X.] beruhende Anordnung der Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers entspricht der Billigkeit. Soweit sich der Beschwerdeführer mittelbar gegen § 3 Abs. 1 Satz 1 und 3 [X.] wendet, sind die Annahmevoraussetzungen einzig wegen der zwischenzeitlichen Entscheidung des [X.] vom 25. Januar 2011 - 1 BvR 1741/09 - ([X.] 128, 157) entfallen. Ohne diese Entscheidung wäre die Verfassungsbeschwerde auch insoweit erfolgreich gewesen.

3. Die Festsetzung des Gegenstandswerts der anwaltlichen Tätigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren folgt aus § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 [X.].


Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Meta

1 BvR 1906/09

15.05.2012

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 3. Kammer

Stattgebender Kammerbeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend BAG, 18. Dezember 2008, Az: 8 AZR 690/07, Urteil

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Stattgebender Kammerbeschluss vom 15.05.2012, Az. 1 BvR 1906/09 (REWIS RS 2012, 6442)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 6442

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

1 BvR 2783/09 (Bundesverfassungsgericht)

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Rechts auf freie Wahl des Arbeitsplatzes durch qua Gesetz vollzogene …


1 BvR 2842/09 (Bundesverfassungsgericht)

Teilweise stattgebenden Kammerbeschluss: Parallelentscheidung


1 BvR 2819/09 (Bundesverfassungsgericht)

Teilweise stattgebenden Kammerbeschluss: Parallelentscheidung


1 BvR 2820/09 (Bundesverfassungsgericht)

Teilweise stattgebenden Kammerbeschluss: Parallelentscheidung


1 BvR 1786/09 (Bundesverfassungsgericht)

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung des Rechts auf freie Wahl des Arbeitsplatzes durch qua Gesetz vollzogene …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

1 BvR 1741/09

1 BvR 395/09

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.