Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 10.05.2012, Az. V ZB 246/11

V. Zivilsenat | REWIS RS 2012, 6502

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BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS

V [X.]

vom

10. Mai 2012
in der Abschiebungshaftsache
Nachschlagewerk:
ja
[X.]Z:
nein
[X.]R:
ja
FamFG § 417 Abs. 2
Ein Haftantrag ist nach § 417 Abs. 2 FamFG nur zulässig, wenn er die beantragte Haftdauer unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgebots nach §
62 Abs. 1 Satz 2 [X.] (Art. 15 Abs. 1 Satz 2 der EU-Richtlinie 2008/115/[X.]) erläutert.

[X.], Beschluss vom 10. Mai 2012 -
V [X.] -
LG [X.]

[X.]

-
2
-
Der V.
Zivilsenat des [X.] hat am 10. Mai 2012
durch den [X.] [X.] [X.], die [X.] Dr. Schmidt-Räntsch und Dr. Roth
und die Richterinnen
Dr. Brückner
und Weinland
beschlossen:

Dem Betroffenen wird für das Rechtsbeschwerdeverfahren Ver-fahrenskostenhilfe bewilligt; ihm wird Rechtsanwältin Dr. [X.] beigeordnet.

Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des [X.] vom 10. September 2011 und der Beschluss der 4. Zivilkammer des [X.] vom 17. Oktober 2011 ihn in seinen Rechten verletzt haben.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die zur zweckentsprechen-den Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen des Betroffenen in den Rechtsmittelverfahren werden dem Beteiligten zu 2 auferlegt.

Der Gegenstandswert des [X.] beträgt

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3
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Gründe:

I.

Der Betroffene ist [X.] Staatsangehöriger und reiste nach eigenen Angaben am 7. September 2011 nach [X.] ein, ohne im Besitz eines Passes und Aufenthaltstitels zu sein. Er wurde am 9.
September 2011 in [X.] festgenommen.

Auf Antrag der
beteiligten Behörde hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 10.
September 2011 gegen den Betroffenen Haft zur Sicherung der
Ab-schiebung in die [X.] bis einschließlich 9.
Dezember 2011 angeordnet.
[X.] des Beschwerdeverfahrens hat der Betroffene einen Asylantrag
gestellt,
gegen dessen Zurückweisung am 13.
Oktober 2011 bei dem [X.] Klage erhoben und beantragt, die aufschiebende Wirkung der Klage anzu-ordnen. Mit Beschluss vom 17. Oktober 2011 hat das [X.] die Be-schwerde gegen die Haftanordnung zurückgewiesen. Dagegen wendet sich der Betroffene mit der Rechtsbeschwerde, nach Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Zurückweisung des Asylantrags durch [X.] des [X.] vom 8. November 2011 und seiner Entlassung aus der Haft mit dem Antrag, die Rechtswidrigkeit der Haftanordnung und ihrer Aufrechterhaltung durch das [X.] festzustellen.

II.

Das Beschwerdegericht
meint, der Betroffene sei vollziehbar [X.]. Aufgrund der illegalen Einreise unter der entgeltlichen Zuhilfenahme von [X.] bestehe der begründete Verdacht, dass er sich der Abschie-1
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bung entziehen werde. Damit sei der Haftgrund des §
62 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 [X.] aF erfüllt. Die Haftdauer von drei Monaten sei verhältnismäßig. Auf-grund des zwischenzeitlich vorliegenden [X.] Personalausweises (Nüfus)
könne er innerhalb der angeordneten Haftdauer in die [X.] "zurückgescho-ben"
werden.

III.

Das zulässige Rechtsmittel ist begründet. Die Entscheidungen des Amtsgerichts und des [X.] haben den Betroffenen in seinen Rechten verletzt.

1. Das Amtsgericht hätte die Haft zur Sicherung der Abschiebung nicht anordnen dürfen, weil es an einem zulässigen Haftantrag fehlte.

a) Dessen Vorliegen ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts we-gen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung (Senat, Beschlüsse vom 29. April 2010 -
V [X.], [X.] 2010, 210, 211 Rn. 12 und vom 22. Juli
2010

V
[X.], NVwZ 2010, 1511, 1512 Rn.
7).

b)
An dieser Voraussetzung fehlt es.

aa) Ein Haftantrag, der den Anforderungen des § 417 Abs. 2 FamFG nicht genügt,
ist unzulässig und keine Grundlage für die Anordnung von [X.] (Senat, Beschlüsse vom 29. April 2010 -
V [X.], aaO, Rn.
14 und vom 22. Juli 2010 -
V [X.], aaO, Rn. 8).

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bb) In dem Haftantrag müssen nach § 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5
FamFG unter anderem die
zweifelsfreie Ausreisepflicht
des Betroffenen, die Abschiebungsvoraussetzungen, die Erforderlichkeit der Haft, die
Durchführbar-keit der Abschiebung und die notwendige Haftdauer
dargelegt werden. [X.] dürfen knapp gehalten sein, müssen aber die für die richterliche Prü-fung wesentlichen Punkte des Falls ansprechen (vgl. Senat, Beschluss vom 15.
September 2011 -
V
ZB 123/11, [X.] 2011, 317
f.
Rn. 9). Sie müssen auf den konkreten Fall zugeschnitten sein; Leerformeln und Textbausteine ge-nügen nicht
(Senat, Beschluss vom 27. Oktober 2011 -
V
ZB 311/10, [X.] 2012, 82, 83 Rn. 13).
Die Durchführbarkeit der Abschiebung muss mit konkre-tem Bezug auf das Land, in das der Betroffene abgeschoben werden soll, [X.] werden. Anzugeben ist
dazu, ob und innerhalb welchen Zeitraums Ab-schiebungen in das betreffende Land üblicherweise möglich sind, von welchen Voraussetzungen dies abhängt
und
ob diese im konkreten Fall vorliegen. Daran fehlt es hier.

[X.]) Die beteiligte Behörde hat zwar dargelegt, dass der Betroffene uner-laubt eingereist und deshalb kraft Gesetzes vollziehbar ausreisepflichtig war. Sie hat auch die Notwendigkeit der Abschiebung erläutert. Den gesetzlichen Anforderungen genügen aber ihre Darlegungen zu der Durchführbarkeit der Abschiebung nicht. Hier hat sie sich auf austauschbare formelhafte Ausführun-gen beschränkt. Ihren Ausführungen ist weder zu entnehmen, wie lange die Behörden
der [X.], in welche der Betroffene abgeschoben werden sollte, für die Ausstellung von Ersatzpapieren üblicherweise benötigen,
noch, ob das da-von abhängt, dass sich der Betroffene zu seiner Identität wahrheitsgemäß äu-ßert, oder ob die Angaben des Betroffenen etwa durch eine Nachfrage bei den [X.] Behörden überprüft worden sind. Weshalb eine Haft von drei Mona-ten erforderlich erschien und eine Haft von kürzerer Dauer nicht ausreichte,
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wird nicht erläutert. Eine solche Erläuterung ist indessen unverzichtbarer Be-standteil eines zulässigen Haftantrags,
weil die Abschiebungshaft nach §
62 Abs. 1 Satz 2 [X.] auf die kürzest mögliche Dauer zu beschränken ist und die Frist
von drei Monaten vorbehaltlich des § 62 Abs. 4 [X.] die obere Grenze der möglichen Haft und nicht deren Normaldauer bestimmt. § 62 Abs. 1 Satz 2 [X.] ist zwar nach Art. 13 des Gesetzes vom 22. November 2011 ([X.]) erst am 26. November 2011 in [X.] getreten. Die Vorschrift setzt aber nahezu wörtlich eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten der [X.] aus Art. 15 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2008/115/[X.] vom 16. [X.] ([X.]. [X.] Nr. L 348 S.
98) um, die seit dem Ablauf der [X.] am 24. Dezember 2010 (Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie) auch schon vor dem Inkrafttreten der Umsetzungsvorschriften zu beachten war.
Außerdem for-muliert sie eine Anforderung, die sich schon aus dem Grundsatz der Verhält-nismäßigkeit ergibt (Senat, Beschluss vom 17. Juni 2010 -
V [X.], [X.] 2010, 384, 387 Rn. 27 zu beiden Gesichtspunkten für Art. 17 der Richtlinie).

2. Die Entscheidung des [X.] ist im Hinblick auf die vor-genommene Prognose nach §
62 Abs. 2 Satz 4 [X.] aF zu beanstanden. Nach dieser Vorschrift ist die [X.] unzulässig, wenn feststeht, dass aus Gründen, die der Ausländer nicht zu vertreten hat, die Abschiebung nicht innerhalb der nächsten drei Monate durchgeführt werden kann.

a) Für die Anordnung und Aufrechterhaltung von Abschiebungshaft ist damit erst Raum, wenn die Sachverhaltsermittlung und -bewertung ergeben haben, dass entweder eine Abschiebung innerhalb der nächsten drei Monate prognostiziert oder zunächst eine zuverlässige Prognose nicht getroffen werden kann (Senat, Beschluss vom 7.
April 2011

V
ZB
211/10, juris Rn.
11; [X.] NJW 2009, 2659, 2660 Rn.
22).
Vor der Zurückweisung einer Beschwerde, die 11
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sich gegen eine [X.]anordnung richtet, müssen deshalb die Voraus-setzungen des § 62 Abs. 2 Satz 4 [X.] aF (heute §
62 Abs. 3 Satz 4
[X.]) unter Berücksichtigung des im Zeitpunkt der Beschwerdeentschei-dung erkennbaren Verlaufs des [X.] erneut geprüft werden (Senat, Beschluss vom 10.
Juni 2010

V
ZB
205/09, juris Rn. 13). Erscheint eine Abschiebung aus Gründen, die der Betroffene nicht zu vertreten hat, nicht mehr innerhalb von drei Monaten (gerechnet ab Anordnung der [X.]) möglich, darf die Haft nicht aufrechterhalten werden (Senat, Beschluss
vom 10.
Juni 2010
-
V
ZB
205/09, juris Rn. 13). Die erforderliche Prognose darf nur auf einer hinreichend vollständigen Tatsachengrundlage getroffen werden ([X.], Beschluss vom 8. Juli 2010 -
V
ZB 203/09, juris, Rn.
9; Beschluss vom 25.
März 2010

V
ZA 9/10, NVwZ
2010, 1175, 1176 Rn.
17) und hat sich auf alle im konkreten Fall ernsthaft in Betracht kommenden Umstände zu erstre-cken, die der Abschiebung entgegenstehen oder sie verzögern können (Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 -
V [X.], [X.] 2011, 27, 29
Rn. 22; [X.] vom 8. Juli 2010 -
V [X.], juris Rn. 8). Die Entscheidung ist im Rechtsbeschwerdeverfahren zwar nur darauf zu prüfen, ob das [X.] die der Prognose zugrunde liegenden Wertungsmaßstäbe erkannt und alle für die Beurteilung wesentlichen Umstände berücksichtigt und vollständig ge-würdigt hat (Senat, Beschluss vom 14.
Oktober 2010

V
ZB
261/10, [X.] 2011, 26 Rn. 12; Beschluss vom 25. März 2010

V
ZA 9/10, NVwZ
2010, 1175, 1176 Rn.
17).

b) In diesem Umfang ist sie jedoch zu beanstanden. Das [X.] hat den Umfang seiner Pflichten bei der Prüfung des §
62 Abs. 2 Satz 4 [X.] aF (heute §
62 Abs. 3 Satz 4 [X.]) verkannt.

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aa) Zwar sind für Entscheidungen, ob [X.] durch Grenzbehörden (§ 18 Abs. 3 AsylVfG) oder Ausländerbehörden (§ 19 Abs. 3 AsylVfG) oder Abschiebungsanordnungen des zuständigen Bun-desamtes (§ 34a AsylVfG) rechtmäßig sind und ob von den Betroffenen wegen der durch einen sofortigen Vollzug drohenden Nachteile vorläufiger Rechts-schutz beansprucht und nach den Umständen gewährt werden kann, die [X.] zuständig. Der Haftrichter ist nicht befugt, über das Vorliegen von [X.] zu befinden (Senat, Beschlüsse vom 12. Juni 1986

[X.], [X.]Z 98, 109, 112 und vom 25. Februar 2010

[X.], NVwZ 2010, 726, 728 Rn. 23). Das Beschwerdegericht hat jedoch nicht hinreichend beachtet, dass sich der Haftrichter
bei der von ihm nach §
62 Abs.
2 Satz 4 [X.] aF (heute §
62 Abs. 3
Satz 4 [X.]) abverlangten Prognose, ob die Abschiebung in den kommenden drei Monaten durchgeführt werden kann, nicht mit einem Verweis auf die Zuständigkeit der [X.]e begnügen darf. Er muss in diesem Rahmen eigene Ermittlungen anstel-len und den Stand und den voraussichtlichen Fortgang eines bereits anhängi-gen verwaltungsgerichtlichen Verfahrens bei seiner Entscheidung über die An-ordnung oder Fortdauer der Haft berücksichtigen und sich dazu bei dem zu-ständigen Verwaltungsgericht erkundigen
([X.] NJW 2009, 2659, 2660
Rn.
23; Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 -
[X.], NVwZ 2010, 726, 728 Rn.
24).

bb) Dem ist das Beschwerdegericht nicht gerecht geworden. Der Be-troffene hat schon bei der Anhörung vor dem Amtsgericht erklärt, er wolle Asyl beantragen, weil die [X.] ihn davor gewarnt habe, den Militärdienst abzuleisten. Diesen

später förmlich gestellten

Antrag hat das zuständige [X.] zwar als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Dem ausführlich begründeten [X.], der dem Beschwerdegericht in Kopie vorgelegt worden ist, ist aber zu 14
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entnehmen, dass sich in dem Fall des Betroffenen neben einer Würdigung sei-nes Verhaltens die von dem [X.] eingehend
behandelte Frage stellte, ob die Verpflichtung zur Ableistung des Militärdienstes generell und im Fall einer
Bedrohung durch die [X.] eine politische Verfolgung darstellt. Es war deshalb nicht ohne weiteres damit zu rechnen, dass der Antrag auf Anordnung
der auf-schiebenden Wirkung der Klage gegen diesen Bescheid innerhalb der restli-chen Haftdauer zurückgewiesen und die Abschiebung weiterhin durchführbar sein würde. Es drängte sich vielmehr auf, bei dem Verwaltungsgericht nach dem Stand der Angelegenheit und dem möglichen Ausgang der Prüfung nach-zufragen.

[X.]) Anhaltspunkte dafür, dass die gebotene, aber unterlassene Nachfra-ge bei dem Verwaltungsgericht Gesichtspunkte erbracht hätte, die die Prognose gerechtfertigt hätten, der Eilantrag werde innerhalb der angeordneten Haftdauer zurückgewiesen und das mit seinem Erfolg eintretende Abschiebungs-
und Hafthindernis (vgl. Senat, Beschluss vom 18.
November 2010

V
ZB 121/10, juris Rn. 10) werde nicht eintreten, sind nicht ersichtlich. Das [X.] hat knapp einen Monat nach der Beschwerdeentscheidung über den [X.] entschieden. Es hat ihm entsprochen und die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet.
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IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1, § 83 Abs. 2, § 430
FamFG, Art. 5 Abs. 5 [X.] analog. Die Festsetzung des [X.] folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO.

Krüger

Schmidt-Räntsch

Roth

Brückner

Weinland

Vorinstanzen:
[X.], Entscheidung vom 10.09.2011 -
710 [X.]/11 -

LG [X.], Entscheidung vom 17.10.2011 -
4 [X.]/11 -

17

Meta

V ZB 246/11

10.05.2012

Bundesgerichtshof V. Zivilsenat

Sachgebiet: ZB

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 10.05.2012, Az. V ZB 246/11 (REWIS RS 2012, 6502)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 6502

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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