Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16.02.2022, Az. XII ZB 19/21

12. Zivilsenat | REWIS RS 2022, 1215

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Gegenstand

Verfahrenskostenhilfe für ein Ehescheidungsverbundverfahren: Berücksichtigung des Unterhaltsfreibetrags für ein Kind bei dessen Betreuung im paritätischen Wechselmodell


Leitsatz

Im Fall der Betreuung eines Kindes im paritätischen Wechselmodell ist vom Einkommen eines um Verfahrenskostenhilfe nachsuchenden Elternteils ein hälftiger Unterhaltsfreibetrag i.S.v. § 76 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 3 Nr. 2 Buchst. b ZPO abzusetzen (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 19. Januar 2022 – XII ZB 276/21, MDR 2022, 385).

Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des 1. [X.] des [X.] vom 10. Dezember 2020 wird auf Kosten des Antragsgegners zurückgewiesen.

Gründe

I.

1

Die Rechtsbeschwerde betrifft die Frage, in welcher Höhe im Rahmen der Verfahrenskostenhilfe [X.] für Kinder zu berücksichtigen sind, die von ihren Eltern im paritätischen Wechselmodell betreut werden.

2

Der Antragsgegner und die Antragstellerin sind die Eltern dreier im März 2012, im März 2014 und im Juli 2017 geborener Kinder, die sie im paritätischen Wechselmodell betreuen.

3

Das Amtsgericht hat dem Antragsgegner für das Scheidungsverbundverfahren Verfahrenskostenhilfe bewilligt, einen Rechtsanwalt beigeordnet und monatliche Ratenzahlungen von 431 € auf die Verfahrenskosten angeordnet, ohne Freibeträge für die Kinder in Abzug zu bringen. Hiergegen hat der Antragsgegner sofortige Beschwerde mit dem Ziel eingelegt, die [X.] entfallen zu lassen. Das [X.], das einige Abzugspositionen anders als das Amtsgericht beurteilt und zudem für die drei Kinder Freibeträge in Höhe von insgesamt 502,50 € berücksichtigt hat, ist zu einer Ratenzahlungsverpflichtung von 115 € gelangt und hat die sofortige Beschwerde im Übrigen zurückgewiesen. Mit seiner zugelassenen Rechtsbeschwerde will der Antragsgegner weiterhin Verfahrenskostenhilfe ohne Ratenzahlungsverpflichtung erreichen.

II.

4

Die zulässige (vgl. Senatsbeschluss vom 19. Januar 2022 - [X.] 276/21 - zur Veröffentlichung bestimmt) Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg.

5

1. Das Beschwerdegericht hat seine Entscheidung wie folgt begründet:

6

Die Freibeträge nach § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 lit. [X.] für die drei minderjährigen Kinder könnten aufgrund des paritätischen Wechselmodells (nur) zur Hälfte in Anspruch genommen werden. Der Elternteil sei nämlich während des [X.]raums, in dem die Kinder beim anderen Elternteil versorgt würden, von [X.] entlastet. Ein Großteil der Kosten, die der Freibetrag umfasse, entstehe ihm in dieser [X.] nicht. Es verblieben zwar gewisse Mehrkosten des Wechselmodells, insbesondere höhere Wohnkosten durch die Bereithaltung weiterer Kinderzimmer, die jedoch nach § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 und 5 ZPO gesondert geltend gemacht werden könnten. Auch mit Blick auf den sozialhilferechtlichen Charakter der Verfahrenskostenhilfe sei es daher gerechtfertigt, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Elternteil nur bezogen auf die Hälfte der [X.] für die Kosten der Lebensführung des Kindes aufkommen müsse. Da sich die Freibeträge auf (358 € + 358 € + 289 € =) 1.005 € summierten, seien insoweit 502,50 € zu berücksichtigen.

7

2. Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung stand.

8

a) Wie der Senat nach Erlass des angefochtenen Beschlusses entschieden hat, ist bei einer Betreuung eines Kindes im paritätischen Wechselmodell der Freibetrag nach § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 lit. [X.] nur in hälftiger Höhe zu berücksichtigen (vgl. Senatsbeschluss vom 19. Januar 2022 - [X.] 276/21 - zur Veröffentlichung bestimmt).

9

aa) Anders als in dem vom Senat entschiedenen Fall zahlt der um Verfahrenskostenhilfe nachsuchende Vater vorliegend neben dem von ihm im Rahmen des Wechselmodells erbrachten Naturalunterhalt keine Geldrente zur Deckung des [X.]. Mithin greift § 115 Abs. 1 Satz 9 ZPO, nach dem eine gezahlte Geldrente anstelle des Freibetrags (hier gemäß § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 lit. [X.]) vom Einkommen des Bedürftigen abzusetzen ist, soweit dies angemessen ist, schon nach seinem Wortlaut und demnach unabhängig davon nicht ein, dass ihm für das paritätische Wechselmodell eine derartige [X.] ohnehin nicht zukommt (vgl. dazu Senatsbeschluss vom 19. Januar 2022 - [X.] 276/21 - zur Veröffentlichung bestimmt).

bb) [X.] des § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 lit. [X.] ist für das paritätische Wechselmodell teleologisch dahin zu reduzieren, dass der Freibetrag nur in hälftiger Höhe vom Einkommen des Bedürftigen abzuziehen ist (vgl. Senatsbeschluss vom 19. Januar 2022 - [X.] 276/21 - zur Veröffentlichung bestimmt).

(1) Grundsätzlich ist allerdings auch in diesem Fall der Wert des im Wechselmodell geleisteten [X.] im Wege einer pauschalierenden Betrachtungsweise festzulegen. Mithin ist der geleistete Naturalunterhalt nicht auf der Grundlage tatsächlicher Kosten zu ermitteln oder zu schätzen. Entgegen der von der Rechtsbeschwerde vertretenen Ansicht ist es im Fall der nur hälftigen Betreuung eines Kindes im Wechselmodell jedoch nicht gerechtfertigt, den in § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 lit. [X.] vorgesehenen vollen Kinderfreibetrag vom Einkommen eines Bedürftigen abzusetzen. Denn der Kinderfreibetrag knüpft inhaltlich an die in der Anlage zu § 28 [X.] enthaltenen Regelsätze an und orientiert sich daher nach § 27 a Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 [X.] an dem gesamten notwendigen Lebensunterhalt eines Kindes i.S.v. § 27 a Abs. 1 [X.], mithin denjenigen Kosten, die existenzsichernd für dessen vollständige Versorgung erforderlich sind. Dann aber gebietet es eine Auslegung, die sich eng an das geltende Recht anlehnt, einem Bedürftigen, der im Wechselmodell keine vollständige, sondern lediglich eine hälftige Versorgung seines Kindes übernimmt, auch nur den hälftigen Kinderfreibetrag zuzubilligen. Denn der bedürftige Elternteil ist während des [X.]raums, in dem das Kind beim anderen Elternteil versorgt wird, von Aufwendungen für das Kind entlastet, weil dessen Kosten der Lebensführung beim Wechselmodell vom jeweils betreuenden Elternteil in seiner Betreuungszeit allein getragen werden (vgl. Senatsbeschluss vom 19. Januar 2022 - [X.] 276/21 - zur Veröffentlichung bestimmt mwN).

(2) Anders als die Rechtsbeschwerde meint, führt das Wechselmodell auch nicht (nahezu) zu einer Verdopplung der Kosten des notwendigen Lebensunterhalts eines Kindes i.S.v. § 27 a Abs. 1 [X.] Zwar entstehen in Teilbereichen, vor allem bei den Wohnkosten, Mehrkosten. Es besteht jedoch kein Bedürfnis, diesen dadurch Rechnung zu tragen, dass der Kinderfreibetrag für jeden Elternteil voll angesetzt wird. Denn die [X.] (Unterkunft und Heizung) sind bereits nach § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 ZPO vom Einkommen eines Bedürftigen absetzbar. Sonstige Mehrkosten, die durch das Wechselmodell entstehen, können auf konkrete Darlegung und gegebenenfalls Glaubhaftmachung (vgl. § 118 Abs. 2 Satz 1 ZPO) gemäß § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 ZPO i.V.m. § 21 Abs. 6 SGB II als Mehrbedarf oder gemäß § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 ZPO als besondere Belastungen geltend gemacht werden (vgl. Senatsbeschluss vom 19. Januar 2022 - [X.] 276/21 - zur Veröffentlichung bestimmt mwN).

(3) Für eine nur hälftige Berücksichtigung des Kinderfreibetrags sprechen zudem die Wertungen des Sozialrechts, wo der Regelbedarf eines Kindes im Fall seiner zeitweisen Betreuung in unterschiedlichen Haushalten ebenfalls grundsätzlich nur einmal (und nicht doppelt) erfasst wird. Einigen sich die Eltern nämlich darauf, ein Kind abwechselnd im Haushalt des einen und des anderen zu versorgen, rechtfertigt dies sozialrechtlich die Annahme einer zeitweisen Bedarfsgemeinschaft. Für die Tage, an denen sich das Kind infolgedessen weniger als zwölf Stunden beim anderen Elternteil aufhält, besteht dort sodann kein Regelbedarf und der Sache nach auch kein Anspruch des Kindes auf sozialhilferechtliche Regelleistungen. Auch der sozialrechtliche Mehrbedarf für Alleinerziehende gemäß § 21 Abs. 3 SGB II steht den Eltern im Fall des Wechselmodells nur hälftig zu. Verfahrenskostenhilfe ist letztlich aber ebenfalls eine Form der Sozialhilfe im Bereich der Rechtspflege (vgl. Senatsbeschluss vom 19. Januar 2022 - [X.] 276/21 - zur Veröffentlichung bestimmt mwN).

(4) In der nur hälftigen Berücksichtigung des Kinderfreibetrags liegt auch keine sachlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung i.S.v. Art. 3 Abs. 1 GG von Eltern, die ein Wechselmodell ausüben, gegenüber solchen, die ihr Kind im gemeinsamen Haushalt betreuen. Zwar sollen die Eltern im Fall des Zusammenlebens nach mittlerweile überwiegender Auffassung in der obergerichtlichen Rechtsprechung und Literatur jeweils den vollen Kinderfreibetrag von ihrem Einkommen absetzen können. Die Betreuung eines Kindes im gemeinschaftlichen elterlichen Haushalt ist jedoch mit dem Wechselmodell nicht vergleichbar. Bei Letzterem stellt die genau hälftige elterliche Betreuung eines Kindes nämlich gerade den Wesenskern dieses Betreuungsmodells dar. Damit kann aber auch der Kinderfreibetrag inhaltlich von vornherein nur in diesem Umfang eingreifen, weil sein Ansatz neben dem Bestehen einer gesetzlichen Unterhaltspflicht voraussetzt, dass vom Bedürftigen die Betreuung bzw. der Naturalunterhalt auch tatsächlich erbracht wird. Bei der Betreuung eines Kindes im gemeinschaftlichen elterlichen Haushalt gibt es hingegen keine von vornherein feststehende Obergrenze der von den jeweiligen Elternteilen tatsächlich zu erbringenden Anteile an der Betreuung bzw. Versorgung ihres Kindes. Die einzelnen Anteile der Eltern hieran lassen sich in diesem Fall auch nicht exakt bestimmen. Mithin ist es in diesem Fall ohne weiteres möglich, dass ein Elternteil einen über die Hälfte bis hin zur vollständigen Betreuung und Versorgung hinausgehenden Anteil dieser Leistungen gegenüber seinem Kind allein erbringt. Deshalb scheidet hier - im Gegensatz zum Wechselmodell - die Berücksichtigung eines vollen Kinderfreibetrags auch nicht aus tatsächlichen Gründen von vornherein aus. Demnach kommt - infolge der Typisierung der gesetzlichen Regelung - in diesem Fall der volle Ansatz eines Kinderfreibetrags für jeden Elternteil in Betracht (vgl. Senatsbeschluss vom 19. Januar 2022 - [X.] 276/21 - zur Veröffentlichung bestimmt mwN).

Vielmehr würde gerade die Berücksichtigung eines vollen Kinderfreibetrags beim Wechselmodell zu einer nicht durch entsprechende Mehrkosten gerechtfertigten Besserstellung dieser Eltern gegenüber denjenigen führen, die ihr Kind im Residenzmodell betreuen. Denn während den Eltern im Wechselmodell jeweils der volle Kinderfreibetrag schon für die hälftige Versorgung ihres Kindes gewährt würde, stünde demjenigen Elternteil, der sein Kind im Residenzmodell betreut, der gesamte Kinderfreibetrag - im Übrigen gemäß § 115 Abs. 1 Satz 8 ZPO reduziert um Kindesunterhaltszahlungen des anderen Elternteils - für die volle Versorgung seines Kindes zur Verfügung (vgl. Senatsbeschluss vom 19. Januar 2022 - [X.] 276/21 - zur Veröffentlichung bestimmt mwN).

(5) Schließlich führen auch mögliche Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Feststellung, ob in tatsächlicher Hinsicht von einem Wechselmodell auszugehen ist, zu keiner anderen rechtlichen Beurteilung. Denn es ist dem Recht der Verfahrenskostenhilfe immanent, dass bestimmte Vorfragen von einer ausreichenden Glaubhaftmachung abhängen (vgl. Senatsbeschluss vom 19. Januar 2022 - [X.] 276/21 - zur Veröffentlichung bestimmt, mwN).

b) Die angefochtene Entscheidung wird diesen Maßgaben gerecht. Das [X.] hat das Vorliegen eines Wechselmodells als glaubhaft gemacht erachtet und daher zutreffend für die drei Kinder des Antragsgegners jeweils den hälftigen Kinderfreibetrag gemäß §§ 111 Nr. 1, 113 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 115 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 lit. [X.] berücksichtigt. Dabei hat es richtigerweise die in der [X.] 2020 vom 20. Dezember 2019 ([X.]) festgelegten Beträge herangezogen, weil es für die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse auf den [X.]punkt der Beschwerdeentscheidung ankommt (vgl. Senatsbeschlüsse vom 19. Januar 2022 - [X.] 276/21 - zur Veröffentlichung bestimmt und vom 5. Mai 2010 - [X.] 65/10 - FamRZ 2010, 1324 Rn. 28).

Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen (§ 74 Abs. 7 FamFG).

Dose     

      

[X.]     

      

Schilling

      

Botur     

      

Guhling     

      

Meta

XII ZB 19/21

16.02.2022

Bundesgerichtshof 12. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend Brandenburgisches Oberlandesgericht, 10. Dezember 2020, Az: 9 WF 266/20, Beschluss

§ 115 Abs 1 S 3 Nr 2 Buchst b ZPO, § 76 Abs 1 FamFG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 16.02.2022, Az. XII ZB 19/21 (REWIS RS 2022, 1215)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 1215 MDR 2022, 786-787 REWIS RS 2022, 1215

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
Wird zitiert von

2 WF 71/23

Zitiert

XII ZB 276/21

XII ZB 65/10

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