Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 28.07.2011, Az. 2 C 28/10

2. Senat | REWIS RS 2011, 4301

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Gegenstand

Fristlose Entlassung eines Zeitsoldaten wegen Betäubungsmittelkonsums; Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme; Untersuchungsgrundsatz


Leitsatz

1. Die fristlose Entlassung eines Soldaten nach § 55 Abs. 5 SG kommt auch unmittelbar vor dem regulären Ende der Dienstzeit in Betracht.

2. § 96 Abs. 1 VwGO enthält nicht nur den Grundsatz der formellen Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme; der Vorschrift lassen sich auch Maßstäbe für die Auswahl zwischen mehreren zur Verfügung stehenden Beweismitteln entnehmen.

3. Der Grundsatz der materiellen Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme verbietet eine Entscheidung des Gerichts allein auf Grund des Inhalts von Vernehmungsprotokollen, wenn einem Beteiligten des gerichtlichen Verfahrens nicht die Möglichkeit eröffnet war, an den Vernehmungen teilzunehmen, und wenn dieser Beteiligte begründet die Vernehmung der - erreichbaren - Zeugen verlangt.

4. Der Untersuchungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) gebietet eine Beweiserhebung, wenn ein Verfahrensbeteiligter - insbesondere durch einen begründeten Beweisantrag - auf sie hinwirkt oder sie sich hiervon unabhängig aufdrängt. Dies ist der Fall, wenn das Gericht auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung Anlass zu weiterer Aufklärung sehen muss.

Tatbestand

1

Der 1983 geborene Kläger wehrt sich gegen seine fristlose Entlassung aus dem [X.]. Er leistete ab April 2002 Grundwehrdienst und verpflichtete sich in der Folge als Zeitsoldat auf vier Jahre bis zum 31. März 2006.

2

Im März 2006 wurden Vorwürfe bekannt, wonach mehrere Soldaten, unter ihnen der Kläger, im Zeitraum von Oktober bis Dezember 2005 außerhalb des Dienstes, aber in der Kaserne Betäubungsmittel konsumiert hätten. Zur Klärung der Vorwürfe wurden sechs Kameraden des [X.] durch einen vorgesetzten Offizier vernommen. Fünf von ihnen belasteten den Kläger, während der sechste Soldat aussagte, der Kläger habe während des Konsums "meist" die Stube verlassen. In einer weiteren Vernehmung präzisierte dieser Zeuge auf Nachfrage, er könne nicht ausschließen, dass der Kläger bei anderen Gelegenheiten Betäubungsmittel konsumiert habe. Im Rahmen der ebenfalls eingeleiteten Strafverfahren bestätigten die Soldaten im Wesentlichen ihre früheren Angaben. Ein gegen den Kläger eingeleitetes Strafverfahren wurde gemäß § 153 Abs. 1 StPO eingestellt. Disziplinarische Maßnahmen wurden bei denjenigen Soldaten, die wegen des [X.] entlassen wurden, nicht ergriffen. Der Kläger selbst verweigerte bei Vernehmungen die Aussage und wies die Vorwürfe in einer schriftlichen Stellungnahme als unzutreffend zurück. Das bei ihm durchgeführte [X.] fiel negativ aus.

3

Durch Bescheid des Befehlshabers des [X.] vom 29. März 2006 wurde der Kläger nach Anhörung der Vertrauensperson der Soldaten, gestützt auf § 55 Abs. 5 [X.], fristlos aus dem [X.] entlassen. Die Beschwerde des [X.] blieb erfolglos. Das Verwaltungsgericht wies seine Klage ab, nachdem die Beteiligten einvernehmlich auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet hatten.

4

Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung durch Urteil vom 23. Juli 2009 ohne vorherige Zeugenvernehmung zurückgewiesen. Die [X.] lägen vor. Nach dem Inhalt der Akten, insbesondere der Protokolle über die Vernehmungen der Kameraden des [X.] als [X.], stehe fest, dass die gegen den Kläger erhobenen Vorwürfe zuträfen. Auch der einmalige [X.] erfülle den Tatbestand des § 55 Abs. 5 [X.]. Vorsatz sei gegeben. Der Kläger habe durch sein Verhalten die militärische Ordnung und das Ansehen der [X.] ernstlich gefährdet. Die angegriffene Entscheidung der Beklagten sei ermessensfehlerfrei, weil ein atypischer Fall nicht vorliege; eine Entlassung unmittelbar vor Ablauf der regulären Dienstzeit sei nicht zu beanstanden. Rechtliche Hindernisse stünden der Verwertung der polizeilichen und behördlichen Vernehmungsprotokolle nicht entgegen. § 96 VwGO gebiete lediglich die formelle Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, nicht aber einen Vorrang unmittelbarer vor mittelbaren Beweismitteln. Ein solcher Vorrang könne im Einzelfall allenfalls aus § 86 VwGO folgen. Die tendenziell geringere Zuverlässigkeit mittelbarer Beweismittel könne bei der Beweiswürdigung berücksichtigt werden. Im vorliegenden Fall habe es einer Zeugenvernehmung nicht bedurft. Beweisanträge seien nicht gestellt worden; eine Beweiserhebung habe sich nicht aufgedrängt, da die Glaubhaftigkeit der protokollierten Aussagen und die Glaubwürdigkeit der Belastungszeugen unzweifelhaft seien. Die negativen Ergebnisse der beim Kläger durchgeführten [X.]s seien nicht geeignet, die belastenden Zeugenaussagen zu erschüttern, da sie für das vierte Quartal des Jahres 2005 irrelevant seien.

5

Der Kläger begründet seine Revision mit einer Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflichten durch das Berufungsgericht und beantragt,

die Urteile des [X.] für das [X.] vom 23. Juli 2009 und des [X.] vom 21. Mai 2007 sowie den Entlassungsbescheid des Befehlshabers des [X.] vom 29. März 2006 und den Beschwerdebescheid des Befehlshabers des Streitkräfteunterstützungskommandos vom 5. Mai 2006 aufzuheben.

6

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

7

Sie verteidigt das Berufungsurteil.

Entscheidungsgründe

8

Die Revision des [X.] ist mit der Maßgabe begründet, dass das [X.]erufungsurteil aufzuheben und die Sache an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen ist (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 [X.]). Das [X.]erufungsurteil leidet an [X.], nämlich an Verstößen gegen § 96 Abs. 1 und § 86 Abs. 1 [X.]. Die Tatsachenfeststellungen des [X.] reichen, soweit sie verfahrensfehlerfrei zustande gekommen sind, nicht aus, dem Senat eine abschließende Entscheidung zu ermöglichen.

9

1. Zu Recht ist das Oberverwaltungsgericht davon ausgegangen, dass eine fristlose Entlassung aus dem [X.] auf der Grundlage von § 55 Abs. 5 des Soldatengesetzes ([X.]) in der Fassung der [X.]ekanntmachung vom 30. Mai 2005 ([X.] 1482) auch nach einmaligem [X.]etäubungsmittelkonsum und unmittelbar vor dem regulären Ende der Dienstzeit in [X.]etracht kommen kann.

Nach § 55 Abs. 5 [X.] kann ein Soldat auf Zeit während der ersten vier Dienstjahre ohne vorherige Durchführung eines Disziplinarverfahrens fristlos entlassen werden, wenn er Dienstpflichten schuldhaft verletzt hat und sein Verbleiben im Dienstverhältnis die militärische Ordnung oder das Ansehen der [X.] ernstlich gefährden würde. Die fristlose Entlassung nach dieser Vorschrift ist keine disziplinarische Maßnahme, sondern soll die personelle und materielle Einsatzbereitschaft der [X.] gewährleisten ([X.]eschluss vom 16. August 2010 - [X.]VerwG 2 [X.] 33.10 - NVwZ-RR 2010, 896 = juris Rn. 6 ff.). Sie stellt ein Mittel dar, um eine [X.]eeinträchtigung der uneingeschränkten Einsatzbereitschaft zu vermeiden. [X.]ereits aus dem Wortlaut des § 55 Abs. 5 [X.] ergibt sich, dass diese Gefahr gerade als Auswirkung einer Dienstpflichtverletzung des Soldaten drohen muss. Dies ist von den Verwaltungsgerichten auf Grund einer nachträglichen Prognose zu beurteilen (Urteile vom 9. Juni 1971 - [X.]VerwG 8 [X.] 180.67 - [X.]VerwGE 38, 178 <180 f.> = [X.]uchholz 238.4 § 55 [X.] Nr. 5 S. 2 f., vom 31. Januar 1980 - [X.]VerwG 2 [X.] 16.78 - [X.]VerwGE 59, 361 <362 f.> = [X.]uchholz 238.4 § 55 [X.] Nr. 8 S. 5 f. und vom 24. September 1992 - [X.]VerwG 2 [X.] 17.91 - [X.]VerwGE 91, 62 <63 f.> = [X.]uchholz 236.1 § 55 [X.] Nr. 13 S. 2 f.).

Mit dem Erfordernis, dass die Gefährdung der militärischen Ordnung ernstlich sein muss, entscheidet das Gesetz selbst die Frage der Angemessenheit der fristlosen Entlassung im Verhältnis zu dem erstrebten Zweck und konkretisiert so den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Zwar können [X.] auch dann eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung herbeiführen, wenn es sich um ein leichteres Fehlverhalten handelt oder mildernde Umstände hinzutreten. Jedoch ist im Rahmen der Gefährdungsprüfung zu berücksichtigen, ob die Gefahr für die Einsatzbereitschaft der [X.] durch eine Disziplinarmaßnahme abgewendet werden kann (Urteile vom 9. Juni 1971 a.a.[X.], vom 31. Januar 1980 a.a.[X.], vom 20. Juni 1983 - [X.]VerwG 6 [X.] 2.81 - [X.]uchholz 238.4 § 55 [X.] Nr. 11 S. 13 f. und vom 24. September 1992 a.a.[X.]).

Eine fristlose Entlassung aus dem [X.] kommt auch unmittelbar vor dem Ende der Dienstzeit noch in [X.]etracht, ohne an dem Verbot unverhältnismäßiger Grundrechtseingriffe zu scheitern; dies kann allenfalls in atypischen Fallkonstellationen anders sein. Denn bei [X.], von denen eine negative Vorbildwirkung ausgeht, entfällt diese nicht durch das Ausscheiden des Soldaten aus dem Dienst, sondern kann nur durch eine disziplinarische oder anderweitige Reaktion des Dienstherrn beseitigt werden.

Auf dieser Grundlage haben sich in der Rechtsprechung Fallgruppen herausgebildet, bei denen eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung im Sinne des § 55 Abs. 5 [X.] regelmäßig anzunehmen ist: Dies gilt vor allem für [X.] im militärischen Kernbereich, die unmittelbar die Einsatzbereitschaft beeinträchtigen. [X.]ei [X.] außerhalb dieses [X.]ereichs kann regelmäßig auf eine ernstliche Gefährdung geschlossen werden, wenn es sich entweder um Straftaten von erheblichem Gewicht handelt, wenn die begründete [X.]efürchtung besteht, der Soldat werde weitere [X.] begehen (Wiederholungsgefahr) oder es sich bei dem Fehlverhalten um eine Disziplinlosigkeit handelt, die in der Truppe als allgemeine Erscheinung auftritt oder um sich zu greifen droht (Nachahmungsgefahr). Jedenfalls die beiden letztgenannten Fallgruppen erfordern eine einzelfallbezogene Würdigung der konkreten Dienstpflichtverletzung, um die Auswirkungen für die Einsatzbereitschaft oder das Ansehen der [X.] beurteilen zu können (vgl. Urteile vom 9. Juni 1971, vom 31. Januar 1980, vom 20. Juni 1983 und vom 24. September 1992, jeweils a.a.[X.]).

Der Konsum von [X.]etäubungsmitteln in der Kaserne stellt nach ständiger Rechtsprechung eine Dienstpflichtverletzung dar (Urteile vom 13. Dezember 1990 - [X.]VerwG 2 WD 25.90 - [X.]VerwGE 93, 3, vom 24. September 1992 a.a.[X.] und vom 10. August 1994 - [X.]VerwG 2 WD 24.94 - [X.]VerwGE 103, 148). Ein solches Verhalten verletzt die Pflicht zu achtungs- und vertrauenswürdigem Verhalten (§ 17 Abs. 2 Satz 1 [X.]) und die Pflicht zum treuen Dienen (§ 7 [X.]) im militärischen Kernbereich, weil es unmittelbar die Einsatzbereitschaft der Truppe gefährdet. Regelmäßig liegt darin auch ein Verstoß gegen die Gehorsamspflicht (§ 11 [X.]), wenn der Soldat - wie der Kläger - über das Verbot des unbefugten [X.]esitzes und des Konsums von [X.]etäubungsmitteln in militärischen Anlagen belehrt worden ist. Das Verbleiben eines Soldaten im Dienst, der in militärischen Unterkünften [X.]etäubungsmittel konsumiert hat, stellt deshalb in der Regel eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung dar; es hätte negative Vorbildwirkung, die es der [X.] erschweren würde, ihren Verteidigungsauftrag zu erfüllen.

2. Das Oberverwaltungsgericht hat sich jedoch seine Überzeugung, dass der Kläger an dem [X.]etäubungsmittelkonsum seiner Kameraden im letzten Quartal des Jahres 2005 beteiligt war, in verfahrensfehlerhafter Weise gebildet. Es hat seiner Urteilsfindung im Wesentlichen lediglich die Protokolle der außergerichtlichen Vernehmungen von Kameraden des [X.] zu Grunde gelegt, obwohl eine weitere [X.]eweisaufnahme durch Vernehmung zumindest dieser Kameraden als Zeugen erforderlich gewesen wäre. Damit hat es gegen den Grundsatz der materiellen Unmittelbarkeit der [X.]eweiserhebung (§ 96 Abs. 1 [X.]) sowie gegen seine Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 [X.]) verstoßen.

2.1 Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 [X.] erhebt das Gericht [X.]eweis in der mündlichen Verhandlung. Die Vorschrift regelt die Art und Weise der gerichtlichen Sachverhaltsaufklärung. Sie erfordert nach ihrem Wortlaut zunächst, dass diejenigen [X.], die über einen Rechtsstreit entscheiden, regelmäßig auch die [X.]eweisaufnahme in der mündlichen Verhandlung durchführen, um ihre Entscheidung auf den unmittelbaren Eindruck der [X.]eweisaufnahme stützen zu können (formelle Unmittelbarkeit der [X.]eweisaufnahme). Nach ihrem Sinn lassen sich ihr indes auch Maßstäbe für die Auswahl zwischen mehreren zur Verfügung stehenden [X.]eweismitteln entnehmen (materielle Unmittelbarkeit der [X.]eweisaufnahme).

§ 96 Abs. 1 [X.] soll sicherstellen, dass das Gericht seiner Entscheidung das in der jeweiligen prozessualen Situation geeignete und erforderliche [X.]eweismittel zu Grunde legt, um dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs, dem Gebot des fairen Verfahrens und insbesondere dem Recht der Verfahrensbeteiligten auf [X.]eweisteilhabe gerecht zu werden. Dagegen lässt sich dem Grundsatz der materiellen Unmittelbarkeit der [X.]eweisaufnahme nach der Rechtsprechung nicht ein abstrakter Vorrang bestimmter - etwa unmittelbarer oder "sachnäherer" - [X.]eweismittel vor anderen - mittelbaren oder weniger "sachnahen" - entnehmen. Vielmehr hängt es von der jeweiligen prozessualen Situation ab, ob ein mittelbares [X.]eweismittel wie die Verlesung eines Vernehmungsprotokolls ausreicht oder ob das unmittelbare [X.]eweismittel (erneute oder erstmalige gerichtliche Vernehmung des Zeugen) zu nutzen ist.

Die Sachaufklärung soll in einer Art und Weise durchgeführt werden, die zu einer vollständigen und zutreffenden tatsächlichen Entscheidungsgrundlage führt und es zugleich jedem Verfahrensbeteiligten ermöglicht, auf die Ermittlung des Sachverhalts Einfluss zu nehmen. Das Recht eines Verfahrensbeteiligten, im Rahmen eines geordneten Verfahrens an der Sachaufklärung durch das Gericht teilzuhaben, ist unter dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) geboten, insbesondere wenn aus den vom Gericht ermittelten Tatsachen nachteilige Folgen für diesen Verfahrensbeteiligten gezogen werden können. Ihm muss deshalb die Möglichkeit eingeräumt sein, an der Erhebung von [X.]eweisen mitzuwirken, um sich ein eigenes [X.]ild von den [X.]eweismitteln machen zu können, sein Fragerecht auszuüben und durch eigene Anträge der [X.]eweiserhebung ggf. eine andere Richtung zu geben. Aus dem Recht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 [X.]) folgt darüber hinaus, dass der Verfahrensbeteiligte hinreichend Gelegenheit haben muss, sich mit den Ergebnissen der [X.]eweisaufnahme auf der Grundlage eines eigenen unmittelbaren Eindrucks auseinanderzusetzen und ggf. dazu Stellung zu nehmen (vgl. Urteile vom 15. Dezember 2005 - [X.]VerwG 2 A 4.04 - [X.]uchholz 235.1 § 24 [X.]DG Nr. 1, vom 24. September 2009 - [X.]VerwG 2 [X.] 80.08 - [X.]VerwGE 135, 24 = [X.]uchholz 235.1 § 55 [X.]DG Nr. 4 und vom 27. Januar 2011 - [X.]VerwG 2 A 5.09 - juris; [X.]eschlüsse vom 26. Februar 2008 - [X.]VerwG 2 [X.] 122.07 - und vom 18. November 2008 - [X.]VerwG 2 [X.] 63.08 - ).

Es ist jedoch grundsätzlich nicht erforderlich, eine in erster Instanz durchgeführte Zeugenvernehmung in zweiter Instanz zu wiederholen; wenn allerdings das Oberverwaltungsgericht die Glaubwürdigkeit eines Zeugen anders beurteilen will als die Vorinstanz, bedarf es in aller Regel einer erneuten Einvernahme des Zeugen ([X.]eschlüsse vom 10. September 1979 - [X.]VerwG 3 [X.][X.] 117.79 - [X.]uchholz 418.00 Ärzte Nr. 38, vom 28. April 2000 - [X.]VerwG 9 [X.] 137.00 - [X.]uchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 235, vom 20. November 2001 - [X.]VerwG 1 [X.] 297.01 - [X.]uchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 251 und vom 17. November 2008 - [X.]VerwG 3 [X.] 4.08 - [X.]uchholz 310 § 96 [X.] Nr. 58). Ebenso wenig ist es stets ausgeschlossen, Protokolle behördlicher Vernehmungen als [X.] zu verwenden; dabei müssen allerdings die Grenzen dieses [X.]eweismittels berücksichtigt werden. Denn die [X.]eweiserhebung im Verwaltungsverfahren ist nicht in gleicher Weise mit rechtlichen Garantien ausgestattet wie eine [X.]eweisaufnahme im gerichtlichen Verfahren. Auch steht auf Grund einer Verwendung von [X.]n als [X.] nur fest, dass der Zeuge die protokollierte Aussage gemacht hat, nicht aber, ob sie inhaltlich richtig ist; dies ist vielmehr eine Frage der [X.]eweiswürdigung ([X.]eschluss vom 15. Februar 1984 - [X.]VerwG 9 [X.][X.] 149.83 - [X.]uchholz 310 § 96 [X.] Nr. 30). Denn Grundlage der Wahrheitsfindung ist in einem solchen Fall nur die Urkunde und nicht der Eindruck der behördlichen Verhörsperson von der Glaubwürdigkeit des Vernommenen; das Gericht darf sich von der [X.]eweiswürdigung der [X.]ehörde nicht leiten lassen ([X.]eschluss vom 10. Mai 2002 - [X.]VerwG 1 [X.] 392.01 - [X.]uchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 259). Aussagen zur Glaubhaftigkeit der Aussage oder - erst recht - zur Glaubwürdigkeit der außergerichtlich vernommenen Zeugen bedürfen daher einer zusätzlichen Grundlage und sind häufig - so auch im vorliegenden Fall - kaum begründbar (Urteil vom 9. Dezember 2010 - [X.]VerwG 10 [X.] 13.09 - DV[X.]l 2011, 366).

Demgegenüber verbietet § 96 Abs. 1 Satz 1 [X.] jedoch eine Entscheidung des Gerichts allein auf Grund des Inhalts von [X.]n, wenn einem [X.]eteiligten nicht die Möglichkeit eröffnet war, an den Vernehmungen teilzunehmen und Fragen zu stellen, und wenn dieser [X.]eteiligte begründet die Vernehmung der - erreichbaren - Zeugen verlangt. Es verstößt daher gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der [X.]eweisaufnahme, wenn ohne allseitiges Einverständnis tatsächliche Feststellungen ohne erneute Prüfung durch das Gericht auf eine bloße schriftliche Wiedergabe der Erklärungen von Personen gestützt werden, die als Zeugen hätten vernommen werden können (Urteile vom 25. Mai 1960 - [X.]VerwG 8 [X.] 110.59 - [X.]uchholz 310 § 96 [X.] Nr. 1 und vom 29. Mai 2008 - [X.]VerwG 10 [X.] 11.07 - [X.]VerwGE 131, 186 = [X.]uchholz 451.902 Europ. [X.] u. Asylrecht Nr. 21; [X.]eschlüsse vom 29. Oktober 1998 - [X.]VerwG 1 [X.] 103.98 - [X.]uchholz 310 § 96 [X.] Nr. 42 und vom 25. August 2008 - [X.]VerwG 2 [X.] 18.08 - juris; ebenso für das Disziplinarverfahren [X.]eschluss vom 4. September 2008 - [X.]VerwG 2 [X.] 61.07 - [X.]uchholz 235.1 § 58 [X.]DG Nr. 4). Denn durch die Verwendung von [X.]eweismitteln, die in anderen Verfahren entstanden sind, im anhängigen Gerichtsverfahren dürfen die [X.]eteiligten keine Rechte verlieren, die ihnen zustehen würden, wenn die [X.]eweismittel gerade in ihrem Prozess eingeholt worden wären ([X.]eschluss vom 18. Juli 1997 - [X.]VerwG 5 [X.] 156.96 - [X.]uchholz 310 § 86 Abs. 1 [X.] Nr. 281). In einem solchen Fall kann ein Vorrang des unmittelbaren [X.]eweismittels vor dem mittelbaren bestehen.

Das Oberverwaltungsgericht hat zwar zu Recht darauf hingewiesen, dass die regelmäßig geringere Zuverlässigkeit mittelbarer im Vergleich zu unmittelbaren [X.]eweismitteln im Rahmen der [X.]eweiswürdigung berücksichtigt werden kann (vgl. auch [X.]VerfG, [X.]eschluss vom 26. Mai 1981 - 2 [X.]vR 215/81 - [X.]VerfGE 57, 250 <277>, Nichtannahmebeschluss vom 20. Dezember 2000 - 2 [X.]vR 591/00 - NJW 2001, 2245). Dies vermag jedoch einen Verzicht auf die Einvernahme von Zeugen anstelle einer urkundlichen Verwertung der [X.] in der hier gegebenen Fallkonstellation nicht zu rechtfertigen. Denn eine [X.]eweiswürdigung kann insbesondere die vorherige Missachtung des Rechts auf [X.]eweisteilhabe nicht ausgleichen und hilft auch nicht über das Fehlen einer hinreichenden Grundlage für Aussagen über die Glaubwürdigkeit der Zeugen hinweg, da diese auf der persönlichen Einschätzung der [X.] beruhen müssen.

Nach diesen Grundsätzen bedurfte es im vorliegenden Fall einer weiteren [X.]eweisaufnahme zumindest durch Einvernahme der [X.]elastungszeugen, ggf. auch der Verhörspersonen oder weiterer Zeugen, die über die Teilnahme des [X.] an dem ihm vorgehaltenen Geschehen Auskunft hätten geben können. Der Kläger hat im gerichtlichen Verfahren einer Verwendung der [X.] ausdrücklich widersprochen. Dabei hat er geltend gemacht, ihm müsse die Möglichkeit eingeräumt werden, der Vernehmung seiner Kameraden beiwohnen zu dürfen, um ggf. von seinem Fragerecht Gebrauch machen zu können; dies war im behördlichen Verfahren schon deshalb unterblieben, weil es sich um Vernehmungen der Kameraden als [X.]eschuldigte im Disziplinar- bzw. polizeilichen Ermittlungsverfahren gehandelt hatte. Der Kläger hatte deshalb keine Möglichkeit, das Zustandekommen der im Gerichtsverfahren als maßgeblich eingestuften [X.] zu beeinflussen oder in Frage zu stellen. Seine Erklärung hierzu ist in der mündlichen Verhandlung vor dem [X.]erufungsgericht protokolliert worden. Sie stellt zwar keinen [X.]eweisantrag dar, obwohl die Formulierung eines [X.]eweisantrages in der gegebenen prozessualen Situation ohne weiteres möglich gewesen wäre. Doch war ein förmlicher [X.]eweisantrag nicht erforderlich, weil der Widerspruch gegen die Verwendung der Protokolle der behördlichen Vernehmungen unmissverständlich war und die vom Kläger gewünschten [X.]eweismittel hinreichend deutlich aufgezeigt hat. Der Umstand, dass der Kläger in erster Instanz auf mündliche Verhandlung verzichtet hatte, ändert hieran nichts, weil aus diesem Verhalten mangels entsprechender Rechtsgrundlage keine für den Kläger nachteilige Folgen gezogen werden durften; er hat auf seine prozessualen Rechte in der [X.]erufungsinstanz weder verzichtet noch hat er sie verwirkt.

2.2 Das Oberverwaltungsgericht hat durch die [X.]eschränkung auf die Protokolle der behördlichen Vernehmungen anstelle einer (erstmaligen) gerichtlichen Vernehmung der Zeugen auch gegen § 86 Abs. 1 [X.] verstoßen.

Nach § 86 Abs. 1 Satz 1 [X.] erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Während § 96 Abs. 1 [X.] das gerichtliche Ermessen bei der Auswahl zwischen mehreren zur Verfügung stehenden [X.]eweismitteln sowie bei der Art und Weise der [X.]eweisaufnahme einschränkt, regelt § 86 Abs. 1 [X.] die Erforderlichkeit und die gebotene Intensität der [X.]eweisaufnahme. Der Untersuchungsgrundsatz verpflichtet das Gericht, alle vernünftigerweise zu Gebote stehenden [X.] bis zur Grenze der Zumutbarkeit zu nutzen; dies schließt eine [X.]indung an die im vorangegangenen Verwaltungsverfahren ermittelten tatsächlichen Feststellungen grundsätzlich aus (vgl. [X.]VerfG, [X.]eschluss vom 17. April 1991 - 1 [X.]vR 419/81 und 213/83 - [X.]VerfGE 84, 34).

Das Gericht muss daher alle Aufklärungsbemühungen unternehmen, auf die die [X.]eteiligten - insbesondere durch begründete [X.]eweisanträge - hinwirken oder die sich hiervon unabhängig aufdrängen ([X.]eschluss vom 13. Oktober 2008 - [X.]VerwG 2 [X.] 119.07 - [X.]uchholz 235.1 § 69 [X.]DG Nr. 5; Urteil vom 22. Februar 1996 - [X.]VerwG 2 [X.] 12.94 - [X.]uchholz 237.6 § 86 NdsL[X.]G Nr. 4 ; vgl. auch Urteil vom 10. Juni 1955 - [X.]VerwG 4 [X.] 55.54 - [X.]uchholz 427.3 § 339 LAG Nr. 4 und zur Kritik der neueren Rechtsprechung [X.], in: [X.]/[X.], [X.], 3. Aufl., § 86 Rn. 15). Eine weitere Sachverhaltsaufklärung drängt sich auch ohne ausdrücklichen [X.]eweisantrag dann auf, wenn das Gericht auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung Anlass zu weiterer Aufklärung sehen muss (Urteil vom 29. Mai 2008 - [X.]VerwG 10 [X.] 11.07 - [X.]VerwGE 131, 186 = [X.]uchholz 451.902 Europ. [X.] und Asylrecht Nr. 21; [X.]eschluss vom 14. September 2007 - [X.]VerwG 4 [X.] 37.07 - juris), wenn also die bisherigen Tatsachenfeststellungen eine Entscheidung noch nicht sicher tragen. Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn ein Verfahrensbeteiligter gegen das bisherige Ergebnis der [X.]eweisaufnahme begründete Einwände erhebt. Denn in einem solchen Fall ist das Gericht gehindert, seine Entscheidung unter Übergehung der Einwände auf das angegriffene [X.]eweisergebnis zu stützen. Hiervon unabhängig gebietet auch die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG), dass das zur Amtsaufklärung verpflichtete Gericht sich nicht mit den von einem [X.]eteiligten angebotenen [X.]ehauptungen oder [X.]eweisen begnügt, sondern seine Entscheidung auf vollständiger und richtiger Tatsachengrundlage trifft.

Nach diesen Grundsätzen musste sich die Notwendigkeit einer Zeugenvernehmung anstelle der bloßen Verwendung der [X.] dem Oberverwaltungsgericht aufdrängen. Zwar lagen [X.] vor, die den Kläger belasten, ohne dass Gründe erkennbar wären, die die vernommenen Kameraden zu einem abgestimmten Handeln gegen den Kläger hätten motivieren können. Auf der anderen Seite hat der Kläger die Aussagen der Zeugen in einer schriftlichen Stellungnahme als falsch gerügt und kann mehrere negative [X.]s aufweisen. Auch ein im unmittelbaren Zusammenhang mit den gegen ihn erhobenen Vorwürfen durchgeführtes [X.] war - anders als bei mehreren der [X.]elastungszeugen - negativ. Dies musste ungeachtet der eingeschränkten Aussagekraft dieser Untersuchungen, im Zusammenhang mit seiner schriftlichen Stellungnahme zu den Vorwürfen, zumindest Zweifel an der Richtigkeit des zu seinen Lasten angenommenen Sachverhalts wecken. Die Vernehmung des sechsten Zeugen wirft weitere Zweifel auf, die ebenfalls nur durch eine auf dem unmittelbaren Eindruck von dem Zeugen beruhende eigene Einschätzung des Tatsachengerichts von seiner Glaubwürdigkeit und der Glaubhaftigkeit seiner unterschiedlich akzentuierten Aussagen in zwei [X.] zu überwinden waren.

3. Der Senat ist an einer abschließenden Entscheidung gehindert, weil die Tatsachenfeststellungen des [X.], soweit sie verfahrensfehlerfrei zustande gekommen sind, hierfür nicht ausreichen. Es bedarf der Klärung, ob der Kläger im Zeitraum zwischen Oktober und Dezember 2005 in der Kaserne [X.]etäubungsmittel konsumiert hat. Sollte es für diese Frage auf die als [X.]eweismittel in das Verfahren eingebrachte Filmsequenz ankommen - das Oberverwaltungsgericht hat diese von seinem Rechtsstandpunkt aus für unerheblich gehalten -, wären auch Zeit und Umstände ihrer Entstehung sowie ihr Inhalt durch geeignete Aufklärungsmaßnahmen zu ermitteln.

Meta

2 C 28/10

28.07.2011

Bundesverwaltungsgericht 2. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 23. Juli 2009, Az: 1 A 2084/07, Urteil

§ 55 Abs 5 SG, § 96 Abs 1 VwGO, § 86 Abs 1 VwGO, § 108 Abs 2 VwGO, Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 28.07.2011, Az. 2 C 28/10 (REWIS RS 2011, 4301)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 4301

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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