Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 31.05.2012, Az. 10 C 8/12

10. Senat | REWIS RS 2012, 5910

© Bundesverwaltungsgericht, Foto: Michael Moser

EUROPA SOZIALRECHT SOZIALHILFE HARTZ IV

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Gegenstand

Entstehen eines unionsrechtlichen Daueraufenthaltsrechts; fünfjährige ununterbrochene Freizügigkeitsberechtigung; Beitritt Polens


Leitsatz

1. Das Entstehen des Daueraufenthaltsrechts nach § 4a Abs. 1 FreizügG/EU setzt voraus, dass der Betroffene während eines zusammenhängenden Zeitraums von fünf Jahren freizügigkeitsberechtigt war.

2. Ein Recht auf Daueraufenthalt kann sich auch aus Aufenthaltszeiten eines Drittstaatsangehörigen in Deutschland ergeben, bevor der Drittstaat der Europäischen Union beigetreten ist. Diese Aufenthaltszeiten sind aber nur berücksichtigungsfähig, sofern der Betroffene nachweisen kann, dass sie im Einklang mit den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG zurückgelegt wurden (im Anschluss an EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - Rs. C-424/10 u.a., Ziolkowski u.a. - NVwZ-RR 2012, 121).

Tatbestand

1

Der Kläger, ein [X.] Staatsangehöriger, begehrt die Ausstellung einer Bescheinigung über das Bestehen eines Daueraufenthaltsrechts nach § 5 Abs. 6 Satz 1 [X.]/[X.].

2

Der 1977 geborene Kläger reiste im September 1989 mit seiner Mutter und seinem Bruder nach [X.] ([X.]) ein. Nach einem erfolglosen Asylverfahren erhielt er ab Juli 1991 bis April 2006 Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen. Nachdem er die Hauptschule abgeschlossen hatte, erteilte ihm das Arbeitsamt im Mai 1994 eine unbefristete und unbeschränkte Arbeitsgenehmigung. Der Kläger brach 1996 eine Lehre als Elektroinstallateur ab. Sein 2004 unternommener Versuch, ein Reinigungsunternehmen zu eröffnen, blieb ohne Erfolg. Der Kläger bezieht seit seiner Einreise immer wieder Sozialleistungen.

3

Im Juli 2005 beantragte der Kläger die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen bzw. die Ausstellung einer Bescheinigung über sein gemeinschaftsrechtliches Aufenthaltsrecht. Im Oktober 2005 erteilte ihm das beklagte [X.] letztmalig eine bis April 2006 gültige Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen. Gleichzeitig wies es darauf hin, die Aufenthaltserlaubnis nicht über diesen Zeitpunkt hinaus verlängern zu wollen, wenn der Kläger weiterhin auf die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel angewiesen sei.

4

Mit Bescheid vom 22. März 2006 lehnte der Beklagte die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab, da der Lebensunterhalt des Klägers nach wie vor nicht gesichert sei. Die Voraussetzungen für Aufenthaltsansprüche nach dem Freizügigkeitsgesetz/[X.] erfülle er nicht, da er weder Arbeitnehmer sei noch einen gesicherten Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel nachweisen könne. Bis auf den gescheiterten Versuch selbstständiger Tätigkeit seien keine Arbeitsbemühungen nachgewiesen worden. Dem Kläger wurde die Abschiebung nach [X.] für den Fall nicht fristgerechter Ausreise binnen 15 Tagen nach Unanfechtbarkeit des Bescheids angedroht. Über den hiergegen eingelegten Widerspruch hat der Beklagte nicht entschieden.

5

Das Verwaltungsgericht gab der Klage, die auf Ausstellung einer Bescheinigung über das Bestehen eines unbefristeten Daueraufenthaltsrechts gerichtet war, im Februar 2007 statt. Dabei ging es davon aus, dass Art. 16 der Richtlinie 2004/38/[X.] jedem Unionsbürger, der sich fünf Jahre rechtmäßig im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten habe, ein Daueraufenthaltsrecht gewähre, ohne dass es darauf ankomme, ob er über ausreichende [X.] verfüge.

6

Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberverwaltungsgericht [X.]-Brandenburg mit Urteil vom 28. April 2009 den erstinstanzlichen Gerichtsbescheid geändert und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger erfülle nicht die Anforderungen für das Bestehen eines Daueraufenthaltsrechts nach § 4a [X.]/[X.]. Er halte sich zwar seit mehr als fünf Jahren im [X.] auf. [X.] im Sinne dieser Vorschrift sei aber nur ein Aufenthalt, der nach § 2 Abs. 2 [X.]/[X.] auf einem [X.] beruhe. [X.] seien zudem nur Zeiten, in denen der Herkunftsstaat Mitglied der [X.] gewesen sei. Nach dem Beitritt der Republik [X.] zur [X.] am 1. Mai 2004 sei der Kläger nicht freizügigkeitsberechtigt gewesen, da er als nichterwerbstätiger Unionsbürger nicht über ausreichende [X.] verfügt habe (§ 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 [X.]/[X.]). Anders als bei Arbeitnehmern und selbstständig Erwerbstätigen seien in diesem Fall Zeiten des [X.] nicht als Zeiten rechtmäßigen Aufenthalts zu berücksichtigen. Dies stehe im Einklang mit Art. 16 der Richtlinie 2004/38/[X.]. Danach müsse ein Unionsbürger für ein Daueraufenthaltsrecht fünf Jahre die Voraussetzungen des Art. 7 der Richtlinie 2004/38/[X.] erfüllen. Bei Nichterwerbstätigen verlange auch Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/[X.], dass sie über ausreichende [X.] verfügten, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssten.

7

Der Kläger erstrebt mit seiner Revision die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung. Er ist der Auffassung, für den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt genüge ein nach dem Recht des Aufnahmemitgliedstaats rechtmäßiger Aufenthalt von fünf Jahren.

8

Der Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung.

9

Der Vertreter des [X.] hat sich am Verfahren beteiligt. Er hält die Revision ebenfalls für unbegründet, ist aber der Auffassung, dass § 4a [X.]/[X.] nur verlangt, dass der Aufenthalt jedenfalls zuletzt nach [X.] rechtmäßig war. Insofern gehe die Vorschrift über die Richtlinie 2004/38/[X.] hinaus.

Mit Beschluss vom 13. Juli 2010 - BVerwG 1 C 14.09 - hat der seinerzeit zuständige 1. Senat das Verfahren ausgesetzt und eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der [X.] ([X.]) zur Klärung der Voraussetzungen für den Erwerb eines Rechts auf Daueraufenthalt nach Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/[X.] eingeholt. Der [X.] hat die Vorlagefragen mit Urteil vom 21. Dezember 2011 - [X.]. [X.]/10 u.a. - beantwortet.

Entscheidungsgründe

Die Revision, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 i.V.m. § 141 Satz 1 und § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO), ist zulässig und begründet. Das Berufungsgericht hat die Klage mit einer Begründung abgewiesen, die Bundesrecht verletzt (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Denn es ist davon ausgegangen, dass sich ein Daueraufenthaltsrecht nur aus Aufenthaltszeiten des [X.] im [X.] nach dem Beitritt [X.] zur [X.] ergeben kann. Nach der zwischenzeitlichen Klärung durch den Gerichtshof der [X.] ([X.]) können aber auch Aufenthaltszeiten eines [X.]sangehörigen vor dem Beitritt seines Herkunftslands zur [X.] ein Recht auf Daueraufenthalt begründen. Da das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - keine tatsächlichen Feststellungen zum Aufenthalt des [X.] im [X.] vor dem Beitritt [X.] zur [X.] am 1. Mai 2004 getroffen hat, kann der Senat in der Sache nicht selbst abschließend entscheiden. Der Rechtsstreit ist daher zur weiteren Aufklärung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

1. Gegenstand des Verfahrens ist nur das Begehren des [X.] auf Ausstellung einer Bescheinigung über das Bestehen eines [X.] nach § 5 Abs. 6 Satz 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von [X.]sbürgern (Freizügigkeitsgesetz/[X.] - [X.]/[X.]). Dieses Begehren zielt auf ein schlicht hoheitliches Verwaltungshandeln, das mit der allgemeinen Leistungsklage zu verfolgen ist. Die Ablehnung des Beklagten, die humanitäre Aufenthaltserlaubnis des [X.] zu verlängern, sowie die Abschiebungsandrohung sind nicht Gegenstand dieses Verfahrens geworden.

2. Nach ständiger Rechtsprechung des [X.] ist bei [X.], die auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels gerichtet sind, grundsätzlich auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz abzustellen (st[X.]pr, vgl. Urteile vom 16. Juni 2004 - BVerwG 1 [X.] 20.03 - BVerwGE 121, 86 <88> m.w.N. und vom 7. April 2009 - BVerwG 1 [X.] 17.08 - BVerwGE 133, 329 Rn. 37 ff.). Nichts anderes gilt, wenn im Wege der allgemeinen Leistungsklage die Ausstellung einer Bescheinigung über das Bestehen eines unionsrechtlichen [X.] begehrt wird. Rechtsänderungen während des Revisionsverfahrens - hier etwa das Inkrafttreten des [X.] zum 1. Dezember 2009 - sind allerdings zu beachten, da das Berufungsgericht - entschiede es anstelle des [X.] - sie zu berücksichtigen hätte (st[X.]pr, vgl. Urteil vom 1. November 2005 - BVerwG 1 [X.] 21.04 - BVerwGE 124, 276 <279 f.>).

3. Das Berufungsurteil verstößt insoweit gegen Bundesrecht, als das Oberverwaltungsgericht davon ausgegangen ist, dass sich ein Daueraufenthaltsrecht des [X.] nur aus Aufenthaltszeiten im [X.] nach dem Beitritt [X.] zur [X.] am 1. Mai 2004 ergeben kann. Nach § 5 Abs. 6 Satz 1 [X.]/[X.] wird [X.]sbürgern auf Antrag unverzüglich ihr Daueraufenthalt bescheinigt. Nach der hier allein in Betracht kommenden Grundnorm des § 4a Abs. 1 [X.]/[X.] haben [X.]sbürger, ihre Familienangehörigen und Lebenspartner, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im [X.] aufgehalten haben, unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 [X.]/[X.] das Recht auf Einreise und Aufenthalt (Daueraufenthaltsrecht). In § 2 Abs. 2 [X.]/[X.] sind die nach [X.]srecht freizügigkeitsberechtigten Personengruppen aufgezählt. Der Formulierung in § 4a [X.]/[X.] "unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2" ist zu entnehmen, dass nicht jeder nach nationalem Recht rechtmäßige Aufenthalt ausreicht, sondern das Entstehen des [X.] an das Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 [X.]/[X.] anknüpft und nur ein einmal entstandenes Daueraufenthaltsrecht durch einen späteren Wegfall dieser Voraussetzungen nicht mehr berührt wird (vgl. Vorlagebeschluss vom 13. Juli 2010 - BVerwG 1 [X.] 14.09 - [X.] 451.902 Europ. [X.] u. Asylrecht Nr. 41 Rn. 14).

Mit dem durch das Richtlinienumsetzungsgesetz 2007 eingefügten § 4a [X.]/[X.] hat der Gesetzgeber das schon zuvor auf [X.] bestehende - und über das bisherige [X.]srecht hinausgehende - Daueraufenthaltsrecht für freizügigkeitsberechtigte Personen und die unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 16 der Richtlinie 2004/38/[X.] und des Rates vom 29. April 2004 - sog. [X.]sbürgerrichtlinie - zusammengefasst (BTDrucks 16/5065 S. 210). Nach Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/[X.] hat jeder [X.]sbürger, der sich rechtmäßig fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, das Recht, sich dort auf Dauer aufzuhalten. Dieses Recht ist nicht an die Voraussetzungen des Kapitel III der Richtlinie 2004/38/[X.] geknüpft.

Zur Auslegung dieser Bestimmung hat der [X.] in seinem Urteil vom 21. Dezember 2011 - [X.]. [X.]-424/10 u.a., [X.] u.a. - (NVwZ-RR 2012, 121) darauf hingewiesen, dass ein [X.]sbürger, der im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eine Aufenthaltszeit von über fünf Jahren nur aufgrund des nationalen Rechts dieses Staates zurückgelegt hat, nicht so betrachtet werden kann, als habe er das Recht auf Daueraufenthalt nach Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/[X.] erworben, wenn er während dieser Aufenthaltszeit die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/[X.] nicht erfüllt hat ([X.] und Rn. 51). Zur Begründung hat der Gerichtshof darauf abgestellt, dass es sich bei dem Begriff des "rechtmäßigen Aufenthalts" in Art. 16 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2004/38/[X.] um einen autonomen Begriff des [X.]srechts handelt, der in allen Mitgliedstaaten einheitlich auszulegen ist (Rn. 33). [X.] im Sinne des [X.]srechts ist daher nur ein Aufenthalt, der im Einklang mit den in der Richtlinie 2004/38/[X.] vorgesehenen, insbesondere mit den in Art. 7 der Richtlinie 2004/38/[X.] aufgeführten Voraussetzungen steht (Rn. 46). [X.] hat der Gerichtshof diese Auslegung zum einen aus dem Ziel der Richtlinie, die bereichsspezifischen und fragmentarischen Ansätze des Freizügigkeits- und Aufenthaltsrechts zu überwinden und in einer Kodifikation zusammenzufassen (Rn. 35 ff.). Zum anderen hat er darauf abgestellt, dass sich aus der Systematik der Richtlinie ein gestuftes System von [X.] ergibt, das im Recht auf Daueraufenthalt mündet (Rn. 38 ff.). Damit richtet sich die [X.]keit des Aufenthalts auch in Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/[X.] nicht nach dem im jeweiligen Aufnahmemitgliedstaat geltenden - möglicherweise günstigeren - nationalen Recht. Vielmehr setzt das Entstehen eines Rechts auf Daueraufenthalt unionsrechtlich voraus, dass der Betroffene während einer Aufenthaltszeit von mindestens fünf Jahren ununterbrochen die Freizügigkeitsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/[X.] erfüllt hat.

Nach der zwischenzeitlichen Klärung durch den [X.] kann sich ein Recht auf Daueraufenthalt allerdings auch aus Aufenthaltszeiten eines [X.]sangehörigen in einem Mitgliedstaat ergeben, bevor der [X.] der [X.] beigetreten ist. Diese Aufenthaltszeiten sind in Ermangelung spezifischer Bestimmungen in den [X.] für die Zwecke des Erwerbs des Rechts auf Daueraufenthalt gemäß Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/[X.] aber nur berücksichtigungsfähig, sofern der Betroffene nachweisen kann, dass sie im Einklang mit den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/[X.] zurückgelegt wurden ([X.], Urteil vom 21. Dezember 2011 a.a.[X.] und Rn. 62 f.). Diese Vorwirkung der Richtlinie gilt bei der gebotenen unionskonformen Auslegung auch für die nationale Regelung in § 4a [X.]/[X.], die die unionsrechtlichen Vorgaben des Art. 16 der Richtlinie 2004/38/[X.] umsetzt.

4. Der Senat kann weder in positiver noch in negativer Hinsicht abschließend in der Sache selbst entscheiden. Da nach dem Urteil des [X.] vom 21. Dezember 2011 (a.a.[X.]) auch Aufenthaltszeiten eines [X.]sangehörigen vor dem Beitritt seines Herkunftsstaats zur [X.] für ein Daueraufenthaltsrecht zu berücksichtigen sind, wenn sie im Einklang mit den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/[X.] zurückgelegt wurden, das Berufungsgericht zum Aufenthalt des [X.] vor dem Beitritt [X.] am 1. Mai 2004 aber keine tatsächlichen Feststellungen getroffen hat, ist der Rechtsstreit zur weiteren Sachaufklärung an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).

5. In dem erneuten Berufungsverfahren wird das Oberverwaltungsgericht zu prüfen haben, ob der Kläger über einen ununterbrochenen Zeitraum von fünf Jahren die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/[X.] erfüllt hat und sein Aufenthalt deshalb für die Prüfung des Erwerbs eines Rechts auf Daueraufenthalt dem Aufenthalt eines freizügigkeitsberechtigten [X.] gleichzustellen ist.

Die für diese Prüfung maßgebliche Frage, ob es für das Entstehen des [X.] nach § 4a Abs. 1 [X.]/[X.] erforderlich ist, dass der Betroffene während des gesamten Zeitraums von fünf Jahren freizügigkeitsberechtigt war, oder ob es - wie vom Vertreter des [X.] vorgetragen - ausreicht, wenn der Aufenthalt fünf Jahre lang erlaubt war und jedenfalls zuletzt auf einem Freizügigkeitsrecht beruhte (so auch Nr. 4a.1 der [X.] zum Freizügigkeitsgesetz/[X.] vom 26. Oktober 2009 - VwV-[X.]/[X.] - GMBl S. 1270), hat der 1. Senat im Vorlagebeschluss vom 13. Juli 2010 - BVerwG 1 [X.] 14.09 - ([X.] 451.902 Europ. [X.] u. Asylrecht Nr. 41 Rn. 15) offengelassen. Der erkennende Senat entscheidet sie zugunsten der vom Berufungsgericht vertretenen Auffassung, dass sich der Betroffene während des gesamten Zeitraums von fünf Jahren rechtmäßig im [X.] aufgehalten haben muss und über den gesamten Zeitraum freizügigkeitsberechtigt war. Für eine insoweit - gemäß Art. 37 der Richtlinie 2004/38/[X.] zulässige - überschießende Umsetzung im Freizügigkeitsgesetz/[X.] sind weder dem Gesetzeswortlaut noch den Gesetzesmaterialien Anhaltspunkte zu entnehmen. Der Gesetzgeber wollte das zuvor in § 2 Abs. 5 [X.]/[X.] nicht unionsrechtlich vorgezeichnete, sondern aufgrund nationaler Regelungen ausgeformte Daueraufenthaltsrecht für freizügigkeitsberechtigte [X.]sbürger (vgl. dazu BTDrucks 15/420 S. 102 f.) mit den durch die [X.]sbürgerrichtlinie eingeführten neuen Vorgaben in § 4a [X.]/[X.] zusammenfassen (BTDrucks 16/5065 S. 210). Systematisch spricht entscheidend für einen engen, auch auf die Freizügigkeitsvoraussetzungen [X.] Begriff des rechtmäßigen Aufenthalts in § 2 Abs. 5 [X.]/[X.] a.F. und § 4a [X.]/[X.], dass der Gesetzgeber in der Anrechnungsregelung des § 11 Abs. 3 [X.]/[X.] "Zeiten des rechtmäßigen Aufenthalt nach diesem Gesetz" den Zeiten eines (titelabhängigen) rechtmäßigen Aufenthalts nach dem [X.] gegenüber gestellt hat (BTDrucks 15/420 S. 106). Dass es im Kontext des Freizügigkeitsgesetzes/[X.] für die Annahme eines rechtmäßigen Aufenthalts der Freizügigkeitsberechtigung bedarf, entspricht auch der auf eine zunehmende Integration infolge eines gesicherten Aufenthalts [X.] Begründung des Gesetzentwurfs (BTDrucks 15/420 S. 103) sowie dem Sinn und Zweck der Regelung, der durch den freizügigkeitsgestützten Voraufenthalt erhöhten Integration durch ein Daueraufenthaltsrecht Rechnung zu tragen.

Die Zeitspanne, in der zur Begründung eines [X.] fünf Jahre lang ununterbrochen die Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/[X.] vorgelegen haben müssen, braucht indes nicht der Zeitraum unmittelbar vor der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz zu sein (a.A. [X.], Beschluss vom 14. März 2006 - 13 S 220/06, [X.] 2006, 218 zu § 2 Abs. 5 [X.]/[X.]). Der Senat entnimmt der Entscheidung des Gerichtshofs im Urteil vom 7. Oktober 2010 - [X.]. [X.]-162/09, Lassal - (NVwZ 2011, 32 Rn. 33 - 39), dass der ununterbrochene [X.] nicht bis zuletzt angedauert haben muss, sondern auch weiter zurück in der Vergangenheit liegen kann.

Im vorliegenden Fall bestimmen sich die Voraussetzungen der Freizügigkeitsberechtigung auch für Aufenthaltszeiten, die vor dem Beitritt [X.] am 1. Mai 2004 liegen, nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/[X.]. Im Unterschied zu der Fallgestaltung einer [X.]sbürgerin der ersten Stunde, die dem Urteil vom 7. Oktober 2010 (a.a.[X.] Rn. 40) zugrunde lag, hat der Gerichtshof für die hier vorliegende Fallkonstellation eines ehemaligen [X.]ers, dessen Herkunftsland mittlerweile der [X.] beigetreten ist, im Urteil vom 21. Dezember 2011 (a.a.[X.] Rn. 61 f.) die in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/[X.] enthaltenen Voraussetzungen als maßgeblich für den Erwerb des [X.] erachtet.

Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben wird das Berufungsgericht insbesondere der Frage nachzugehen haben, ob der Kläger die Stellung eines Arbeitnehmers im Sinne des Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/[X.] erworben und die Erwerbstätigeneigenschaft über fünf Jahre behalten hat. Dafür könnte sprechen, dass er nach Aktenlage im Jahr 1994 eine Lehre zum Elektroinstallateur begonnen hat. Nach der Rechtsprechung des [X.] kann eine in der Berufsausbildung befindliche Person Arbeitnehmer im Sinne des Art. 45 A[X.]V sein, wenn diese Ausbildung unter den Bedingungen einer tatsächlichen und echten Tätigkeit im Lohn- und Gehaltsverhältnis durchgeführt wird ([X.], Urteile vom 26. Februar 1992 - [X.]. [X.]-3/90, [X.] - Slg. [X.] Rn. 14 und vom 17. März 2005 - [X.]. [X.]-109/04, [X.] - Slg. [X.] Rn. 14, 17 f.). Mit Blick auf die Ausgestaltung der dualen Berufsausbildung in [X.] dürfte nicht daran zu zweifeln sein, dass ein Lehrling den unionsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff erfüllt.

Zwar hat der Kläger nach Aktenlage die Lehre im Jahr 1996 abgebrochen. Das Berufungsgericht wird aber zu prüfen haben, ob er anschließend weiter als Arbeitnehmer tätig gewesen ist, so dass der (ergänzende) Bezug von Leistungen nach dem [X.] seine Arbeitnehmereigenschaft nicht ohne Weiteres in Frage stellen würde (vgl. [X.], Urteil vom 3. Juni 1986 - [X.]. [X.]-139/85, [X.]. 1986, 1741 Rn. 14). Im Übrigen würde dem Kläger die Erwerbstätigeneigenschaft erhalten bleiben, solange er einen der Tatbestände des Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/[X.] erfüllt hätte.

Sollte das Berufungsgericht zu dem Ergebnis kommen, dass der Kläger die in Art. 7 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/[X.] genannten Voraussetzungen nicht über einen ununterbrochenen Zeitraum von fünf Jahren erfüllt hat, würde sich die Frage stellen, ob er als Nichterwerbstätiger über ausreichende [X.] verfügte, so dass er während seines Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen musste (Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/[X.]). Leistungen nach dem [X.] sind Sozialhilfeleistungen im Sinne des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/[X.]. Auch für ab dem 1. Januar 2005 bezogene Leistungen der Grundsicherung nach dem [X.] ([X.]) spricht viel dafür, dass es sich jedenfalls bei den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (§§ 19 ff. [X.]) um aufenthaltsrechtlich schädliche Sozialhilfeleistungen im Sinne des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/[X.] handelt. Dafür ist es nicht entscheidend, dass finanzielle Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, nicht als Sozialhilfeleistungen im Sinne des Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/[X.] angesehen werden können ([X.], Urteil vom 4. Juni 2009 - [X.]. [X.]-22/08 u.a., [X.] - Slg. 2009, [X.] Rn. 45) und ob Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem [X.] eine solche Leistung bilden. Der in beiden Bestimmungen der Richtlinie enthaltene Begriff der Sozialhilfe muss nicht zwingend deckungsgleich sein (a.A. offenbar [X.], [X.], 233 <236>). Denn die aufenthaltsrechtliche Fragestellung, ob ein [X.]sbürger über ausreichend eigene [X.] verfügt und keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen muss (Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/[X.]), ist nach Sinn und Zweck der Regelung sowie ihrer systematischen Einordnung von der sozialrechtlichen Fragestellung zu unterscheiden, in welchem Umfange ein Aufnahmemitgliedstaat nach dem Gebot der Gleichbehandlung von [X.]sbürgern mit Angehörigen des Mitgliedstaats (Art. 24 der Richtlinie 2004/38/[X.]) oder nach sonstigem Primär- (Art. 18 Abs. 1, Art. 21, 45 Abs. 2 A[X.]V) oder Sekundärrecht (vgl. z.B. der Verordnung <[X.]> Nr. 883/2004 des [X.] und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit) gehindert ist, [X.]sbürger aus anderen Mitgliedstaaten von dem Bezug bestimmter steuerfinanzierter Sozialleistungen auszuschließen.

Meta

10 C 8/12

31.05.2012

Bundesverwaltungsgericht 10. Senat

Urteil

Sachgebiet: C

vorgehend Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, 28. April 2009, Az: 2 B 22.07, Urteil

§ 2 Abs 2 FreizügG/EU 2004, § 4 FreizügG/EU 2004, § 4a Abs 1 FreizügG/EU 2004, § 5 Abs 6 FreizügG/EU 2004, § 11 Abs 2 FreizügG/EU 2004, § 13 FreizügG/EU 2004, § 45 FreizügG/EU 2004, Art 45 AEUV, Art 7 Abs 1 EGRL 38/2004, Art 7 Abs 3 EGRL 38/2004, Art 16 Abs 1 S 1 EGRL 38/2004, Art 24 Abs 2 EGRL 38/2004, Art 37 EGRL 38/2004

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 31.05.2012, Az. 10 C 8/12 (REWIS RS 2012, 5910)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 5910

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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