Bundesgerichtshof, Beschluss vom 30.08.2022, Az. VIII ZR 305/21

8. Zivilsenat | REWIS RS 2022, 6753

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Tenor

Der Senat beabsichtigt, über die Zulassung der Revision erst nach der Entscheidung des Gerichtshofs der [X.] in dem Verfahren [X.]/21 (vgl. Vorlagebeschluss des [X.] vom 24. August 2021 - 2 O 238/20, juris) zu entscheiden und bis dahin das vorliegende Verfahren gemäß § 148 ZPO analog auszusetzen.

Gründe

1

1. Das Verfahren soll in entsprechender Anwendung von § 148 ZPO ausgesetzt werden, weil die Nichtzulassungsbeschwerde eine entscheidungserhebliche Frage zur Auslegung der Richtlinie 2002/65/[X.] und des Rates vom 23. September 2002 über den Fernabsatz von Finanzdienstleistungen an Verbraucher und zur Änderung der Richtlinie 90/619/EWG des Rates und der [X.] und 98/27/[X.] ([X.] Nr. L 271, [X.]; im Folgenden: [X.]) aufwirft, die dem [X.] (im Folgenden: Gerichtshof) bereits zur Vorabentscheidung vorliegt.

2

a) In entsprechender Anwendung von § 148 ZPO ist die Aussetzung des Verfahrens auch ohne gleichzeitiges Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof grundsätzlich zulässig, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von der Beantwortung derselben Frage abhängt, die bereits in einem anderen Rechtsstreit dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV vorgelegt wurde (vgl. [X.], Beschlüsse vom 24. Januar 2012 - [X.], [X.] 2012, 405 Rn. 7 ff., und [X.], juris Rn. 8 ff.; vom 17. Juli 2012 - [X.], juris Rn. 11 ff.; vom 6. Februar 2013 - [X.], juris Rn. 8; vom 18. September 2013 - [X.], [X.] 2014, 78 Rn. 23; vom 14. Mai 2014 - [X.], juris Rn. 7; vom 28. September 2016 - [X.], juris Rn. 9; vom 11. Februar 2020 - [X.], juris Rn. 48; vom 10. Mai 2022 - [X.], juris Rn. 14; vgl. auch [X.], [X.], 1273 Rn. 28 ff.; BVerwGE 123, 322, 346). Eine solche Aussetzung ist auch im [X.] möglich (vgl. [X.], Beschlüsse vom 24. Januar 2012 - [X.], aaO Rn. 10; vom 28. September 2016 - [X.], aaO Rn. 10; vom 10. Mai 2022 - [X.], aaO).

3

b) Ausgehend hiervon dürfte es angezeigt sein, das [X.] wegen Vorgreiflichkeit des beim Gerichtshof anhängigen Rechtsstreits [X.]/21 auszusetzen, weil die hier namentlich für die Auslegung des § 356 Abs. 3 Satz 3 BGB entscheidungserhebliche Frage, ob ein Leasingvertrag mit Kilometerabrechnung einen Vertrag über eine Finanzdienstleistung nach Art. 2 Buchst. b der [X.] darstellt, dem Gerichtshof bereits zur Entscheidung vorliegt.

4

aa) Das [X.] hat durch Beschluss vom 24. August 2021 (2 O 238/20, juris; ebenso mit Beschluss vom 28. September 2021 - 2 O 378/20 und 2 O 390/20, juris) dem Gerichtshof unter anderem folgende Frage zur Vorabentscheidung gemäß Art. 267 AEUV vorgelegt:

"Handelt es sich bei Leasingverträge[n] über Kraftfahrzeuge mit Kilometerabrechnung mit einer Laufzeit von circa zwei bis drei Jahren, die unter formularmäßigem Ausschluss des ordentlichen Kündigungsrechts abgeschlossen wurden, bei denen der Verbraucher für eine Vollkasko-Versicherung des Fahrzeugs zu sorgen hat, ihm außerdem die Geltendmachung von Mängelrechten gegenüber [X.] (insbesondere gegenüber Händler und Hersteller des Fahrzeuges) obliegt und er zudem das Risiko des Verlustes, der Beschädigung und sonstiger Wertminderungen trägt […], um Verträge über Finanzdienstleistungen im Sinne von […] Art. 2 Buchst. [X.] 2002/65/[X.]?"

5

bb) Diese Frage zum Vorliegen eines Vertrags über Finanzdienstleistungen (vgl. hierzu auch Vorlagebeschluss des [X.] vom 22. September 2021 - 17 U 42/20, juris Rn. 29 ff.) ist auch im vorliegenden Fall entscheidungserheblich, da ein Widerrufsrecht des [X.] infolge des zu seinen Gunsten revisionsrechtlich zu unterstellenden Abschlusses des streitgegenständlichen Leasingvertrags im Wege des [X.] in zeitlicher Hinsicht erloschen wäre, wenn es sich bei dem zwischen den Parteien geschlossenen Leasingvertrag nicht um einen Vertrag über Finanzdienstleistungen handelte. Nach dem im Lichte der [X.] auszulegenden § 356 Abs. 3 Satz 2 BGB in der vom 21. März 2016 bis zum 27. Mai 2022 geltenden Fassung (inhaltlich identisch mit der heutigen Fassung, daher im Folgenden [aF]) in Verbindung mit § 355 Abs. 2 Satz 2 BGB erlischt das Widerrufsrecht bei einem Fernabsatzvertrag oder einem außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Vertrag auch im Fall einer unterlassenen oder unzureichenden Belehrung über das Widerrufsrecht, soweit es sich nicht um einen - hier nicht vorliegenden - Verbrauchsgüterkauf im Sinne von § 356 Abs. 2 Nr. 1 BGB [aF] handelt, 12 Monate und 14 Tage nach Vertragsschluss. Gemäß § 356 Abs. 3 Satz 3 BGB [aF] gelten die vorgenannten Fristen jedoch nicht bei [X.] (vgl. BT-Drucks. 15/2946, S. 23 [zu § 355 Abs. 2 BGB aF]). Hiervon ausgehend wäre ein etwaiges Widerrufsrecht des [X.] im Hinblick auf den Vertragsschluss im [X.] jedenfalls zum Zeitpunkt der Widerrufserklärung im Juni 2019 erloschen gewesen, es sei denn, es handelte sich bei dem Vertrag um einen solchen über eine Finanzdienstleistung.

6

cc) Anders als die Nichtzulassungsbeschwerdeerwiderung meint, dürfte auch die Vorschrift des § 312g Abs. 2 Satz 1 Nr. 9 BGB in der vom 21. März 2016 bis zum 30. Juni 2018 gültigen Fassung (im Folgenden: aF; insofern inhaltsgleich mit § 312g BGB in der heutigen Fassung), nach der unter anderem ein fernabsatzrechtliches Widerrufsrecht für Verträge zur Erbringung von Dienstleistungen im Bereich Kraftfahrzeugvermietung nicht gegeben ist, einer Aussetzung des hiesigen Verfahrens nicht entgegenstehen. Denn derzeit ist die Frage der Auslegung des Begriffs der Finanzdienstleistung im Sinne des § 356 Abs. 3 Satz 3 BGB [aF] und des Art. 2 Buchst. b der [X.] vorrangig. Auf die Auslegung des § 312g Abs. 2 Satz 1 Nr. 9 BGB aF sowie des Art. 16 Buchst. l der Verbraucherrechterichtlinie kommt es dagegen im vorliegenden Verfahrensstadium nicht an.

7

dd) Die Nichtzulassungsbeschwerdeerwiderung dürfte sich nicht darauf berufen können, dass die Ausübung des Widerrufsrechts durch den Kläger rechtsmissbräuchlich im Sinne von § 242 BGB und damit bereits aus diesem Grund unwirksam sei, weil er sein Widerrufsrecht gezielt allein dazu eingesetzt habe, um "willkürlich wirtschaftliche Vorteile zu erlangen".

8

(1) Das Berufungsgericht hat bereits keine Feststellungen zu der zum Widerruf des vorliegenden Leasingvertrags führenden Motivation des [X.] getroffen. Im Übrigen knüpft das Gesetz die Ausübung des fernabsatzrechtlichen Widerrufsrechts - wie schon das Fehlen einer Begründungspflicht (§ 355 Abs. 1 Satz 2 BGB) zeigt - nicht an ein berechtigtes Interesse des Verbrauchers (etwa Nichtgefallen der Waren nach Überprüfung), sondern überlässt es allein seinem freien Willen, ob und aus welchen Gründen er seine Vertragserklärung widerruft (vgl. [X.], Urteile vom 16. März 2016 - [X.], NJW 2016, 1951 Rn. 20; vom 12. Oktober 2016 - [X.], NJW 2017, 878 Rn. 52; vom 30. August 2018 - [X.], NJW 2018, 3380 Rn. 34 [zu einem außerhalb von Geschäftsräumen geschlossenen Werkvertrag]).

9

(2) Auch eine Aussetzung des Verfahrens im Hinblick auf die von dem [X.]. Zivilsenat des [X.] dem Gerichtshof mit Beschluss vom 31. Januar 2022 ([X.] ZR 113/21 u.a., [X.], 420) vorgelegte Frage, ob Art. 14 der Richtlinie 2008/48/[X.] und des Rates vom 23. April 2008 über Kreditverträge und zur Aufhebung der Richtlinie 87/102/EWG des Rates ([X.] [X.], [X.]; [X.]) dahingehend auszulegen ist, dass es den nationalen Gerichten nicht verwehrt ist, im Einzelfall bei Vorliegen besonderer, über den bloßen Zeitablauf hinausgehender Umstände die Berufung des Verbrauchers auf sein wirksam ausgeübtes Widerrufsrecht als missbräuchlich und betrügerisch zu werten mit der Folge, dass ihm die vorteilhaften Rechtsfolgen des Widerrufs versagt werden können, ist im vorliegenden Fall nicht geboten.

Anders als die Nichtzulassungsbeschwerdeerwiderung meint, ist der diesem Vorabentscheidungsersuchen zugrundeliegende Fall Vier ([X.] ZR 304/21) mit dem hier zugrunde zu legenden Sachverhalt nicht vergleichbar.

c) Die dem Gerichtshof vorgelegte Frage ist auch entgegen der Ansicht der Nichtzulassungsbeschwerdeerwiderung weder durch den Gerichtshof im Sinne eines "acte [X.]" geklärt noch ist die Auslegung von Art. 2 Buchst. b der [X.] im Hinblick auf Leasingverträge mit Kilometerabrechnung derart eindeutig, dass von einem "acte clair" ausgegangen werden könnte.

aa) Eine Entscheidung des Gerichtshofs zu der Frage, ob es sich bei einem Leasingvertrag mit Kilometerabrechnung um einen Vertrag über Finanzdienstleistungen im Sinne der vorgenannten Richtlinie handelt, liegt bislang nicht vor.

Soweit die Nichtzulassungsbeschwerdeerwiderung unter Verweis auf die Entscheidung des Gerichtshofs vom 4. Oktober 2017 ([X.]/16, [X.], 2215 Rn. 25 ff.) die Ansicht vertritt, es handele sich bei dem streitgegenständlichen Leasingvertrag nicht um einen Finanzierungsleasingvertrag und damit nicht um einen Vertrag über Finanzdienstleistungen, ist die von ihr angeführte Entscheidung des Gerichtshofs bereits nicht einschlägig.

Der Gerichtshof hat sich in diesem Urteil nicht mit der Auslegung des Begriffs der Finanzdienstleistung im Sinne der [X.] befasst. Vielmehr hat er sich allein mit einer Art. 14 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2006/112/[X.] des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ([X.] Nr. L 347, [X.]; [X.]) betreffenden Frage auseinandergesetzt.

bb) Auch dürfte die Frage, ob Leasingverträge mit Kilometerabrechnung Verträge über Finanzdienstleistungen im Sinne der [X.] sind, angesichts des sehr weit gefassten Wortlauts von Art. 2 Buchst. b der [X.], wonach eine Finanzdienstleistung "jede Dienstleistung im Zusammenhang mit einer Kreditgewährung" umfasst, und des Umstands, dass auch bei einem Leasingvertrag mit Kilometerabrechnung ohne Restwertgarantie eine Vollamortisation durch die Zahlungen des Leasingnehmers, die Haftung für den vertragsgemäßen Zustand der zurückgegebenen Sache und deren Verwertung im Ergebnis regelmäßig eintritt (vgl. Senatsurteil vom 24. Februar 2022 - [X.], [X.]Z 229, 59 Rn. 49 mwN), jedenfalls nicht mit der für einen "acte clair" gebotenen Sicherheit zu beantworten sein.

2. Es besteht Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen ab Zustellung dieses Beschlusses.

[X.]     

  

Dr. Bünger     

  

Kosziol

  

Dr. Schmidt     

  

Dr. Matussek     

  

Hinweis:

Das [X.] ist durch Beschluss vom 8. November 2022 ausgesetzt worden.

Meta

VIII ZR 305/21

30.08.2022

Bundesgerichtshof 8. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZR

vorgehend KG Berlin, 9. September 2021, Az: 27 U 11/21

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 30.08.2022, Az. VIII ZR 305/21 (REWIS RS 2022, 6753)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 6753

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