Bundesfinanzhof, Urteil vom 11.04.2017, Az. IX R 50/15

9. Senat | REWIS RS 2017, 12559

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Gegenstand

Wahrung der Festsetzungsfrist bei Bekanntgabe unmittelbar gegenüber dem Steuerpflichtigen trotz Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten - Bekanntgabewille


Leitsatz

1. NV: Das FG verletzt die Bindung an das Klagebegehren, wenn es über einen anderen Gegenstand entscheidet als über den, den der Kläger zur Entscheidung stellen wollte .

2. NV: Ein unter Verstoß gegen § 7 Abs. 1 Satz 2 VwZG an den Inhaltsadressaten anstatt an den Bevollmächtigten zugestellter Steuerbescheid ist nicht wirksam bekannt gegeben .

3. NV: Die unwirksame Zustellung und der Bekanntgabemangel werden geheilt, wenn der Bescheid an den Bevollmächtigten weitergeleitet wird und diesem zugeht. Damit beginnt die Einspruchsfrist zu laufen .

4. NV: Der ursprünglich vorhandene Zustellwille wirkt fort, solange er nicht durch ausdrückliche Erklärung oder konkludentes Verhalten zurückgenommen worden ist. Das ist nicht schon der Fall, wenn das FA einen Änderungsbescheid erlässt oder wenn es den Bescheid wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist nicht mehr (erneut) bekannt geben dürfte .

5. NV: Die Festsetzungsfrist ist gewahrt, wenn der Steuerbescheid vor Ablauf der Frist den Bereich der zuständigen Finanzbehörde verlassen hat. Das gilt auch dann, wenn der Bescheid erst nach Ablauf der Festsetzungsfrist wirksam wird .

6. NV: Ein Änderungsbescheid ist gegenstandslos und nichtig, wenn im Zeitpunkt seines Erlasses der Bescheid fehlt, den er ändern soll. Das gilt auch, wenn der zu ändernde Bescheid mit der Heilung des Bekanntgabemangels später wirksam wird. Die Heilung des Bekanntgabemangels wirkt nicht zurück .

7. NV: Eine unternehmerische Beteiligung an einer AG liegt auch vor, wenn der Gesellschafter zwar selbst mit weniger als 25 % an der Gesellschaft beteiligt ist, aufgrund einer uneingeschränkten Stimmrechtsvollmacht jedoch über 48 % der Stimmrechte verfügen kann .

Tenor

Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 22. Januar 2015 12 K 3631/12 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.

Tatbestand

1

I. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --[X.]--) den Einspruch des [X.] und Revisionsklägers (Kläger) gegen den Einkommensteuerbescheid für 2003 vom 29. Dezember 2009 zu Recht als unzulässig verworfen hat. In der Sache streiten die Beteiligten darüber, in welcher Höhe der Kläger im Streitjahr (2003) einen Verlust aus der Veräußerung einer Beteiligung an einer [X.] erzielt hat. Der Kläger hatte der Gesellschaft auch Darlehen gewährt. Für die Abtretung der Beteiligung und der mitveräußerten [X.] erlöste der Kläger jeweils 1 €. Streitig ist vor allem, ob die vom Kläger gewährten Darlehen eigenkapitalersetzend waren, obwohl der Kläger mit weniger als 25 % an der [X.] beteiligt war.

2

Der Kläger und seine im Streitjahr noch mit ihm zusammen veranlagte Ehefrau sind seit 2004 geschieden. Für das Streitjahr gab der Kläger zunächst keine Steuererklärungen ab. Er beauftragte jedoch einen Steuerberater, der sich unter Vorlage einer schriftlichen Vollmacht, die auch den Empfang amtlicher Schriftstücke einschließt, für den Kläger bei dem [X.] legitimierte.

3

Das [X.] schätzte die Einkünfte des [X.] und erließ am 29. Dezember 2009 einen Einkommensteuerbescheid für 2003, den es dem Kläger ohne Beachtung der [X.] unter seiner Wohnanschrift per Postzustellungsurkunde förmlich zustellte. Der Bescheid stand unter dem Vorbehalt der Nachprüfung.

4

Dagegen legte der Kläger zunächst keinen Einspruch ein.

5

Im (zulässigen) Einspruchsverfahren der Ehefrau forderte das [X.] den Kläger schriftlich auf, eine Steuererklärung abzugeben, sich zur Zusammenveranlagung zu äußern und den Einspruch zu begründen. Der Kläger gab am 25. März 2011 eine nicht vollständige und nicht unterschriebene Steuererklärung für das Streitjahr ab. Aus einer zugleich per Fax an das [X.] weitergeleiteten gutachtlichen Stellungnahme seines Steuerberaters ergab sich, dass der Kläger im Streitjahr einen Verlust aus der Veräußerung einer Beteiligung und eines dazu gehörenden Gesellschafterdarlehens erzielt habe. Im Folgenden korrespondierte das [X.] ausführlich auch mit dem steuerlichen Berater des [X.] über den geltend gemachten Sachverhalt und dessen steuerliche Folgen.

6

Am 6. September 2011 änderte das [X.] den Einkommensteuerbescheid für 2003. Es berücksichtigte beim Kläger nun erstmals einen [X.] gemäß § 17 EStG in Höhe von 294.504 € (Verlust des anteiligen Grundkapitals; Halbeinkünfteverfahren) und setzte die Einkommensteuer auf 0 € fest. Der Vorbehalt der Nachprüfung blieb bestehen. In den Erläuterungen führte das [X.] u.a. aus, das Einspruchsverfahren werde fortgesetzt.

7

Nach Durchführung des [X.] verblieb ein Verlustvortrag, den das [X.] mit Bescheid vom 6. September 2011 erstmals feststellte und den es mit Bescheid vom 13. September 2011 änderte. Diese Bescheide gab das [X.] dem Kläger nach Aktenlage ebenfalls unter seiner Wohnanschrift bekannt. Der Kläger legte dagegen keine Einsprüche ein.

8

Gegen den geänderten Einkommensteuerbescheid für 2003 vom 6. September 2011 legte der Kläger durch seinen Steuerberater Einspruch ein mit dem Begehren, den [X.] gemäß § 17 EStG in voller Höhe anzuerkennen. Zur Begründung legte er weitere Unterlagen vor. Außerdem machte der Kläger erstmals geltend, die Schätzungen der Jahre 2003 ff. seien zu hoch. Er werde entsprechende Unterlagen zusammenstellen und vorlegen.

9

Nach einer Besprechung mit dem Vorsteher bot das [X.] dem Kläger eine tatsächliche Verständigung für das [X.] an. Danach sollten der Verlust des Grundkapitals und eines Teils des Darlehens im Halbeinkünfteverfahren anerkannt werden. Im Übrigen sollten die Schätzungsgrundlagen bestehen bleiben. Der Kläger nahm das Angebot nicht an, sondern legte Steuererklärungen für die Jahre 2002 bis 2010 vor.

Das [X.] änderte den Einkommensteuerbescheid für 2003 am 19. April 2012 erneut. Es setzte u.a. den [X.] in Höhe von 589.008 € (ohne Halbeinkünfteverfahren) an. Den Vorbehalt der Nachprüfung hob es auf. In den Erläuterungen führte es u.a. aus, das Einspruchsverfahren werde fortgeführt.

Ebenfalls am 19. April 2012 änderte das [X.] den Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer zum 31. Dezember 2003. In den Erläuterungen führte es wiederum u.a. aus, das Einspruchsverfahren werde fortgesetzt.

Im Einspruchsverfahren fiel auf, dass der Kläger gegen den ursprünglichen Einkommensteuerbescheid für 2003 vom 29. Dezember 2009 keinen Einspruch eingelegt hatte. Das [X.] folgerte daraus zunächst, der an den Kläger gerichtete Einkommensteuerbescheid für 2003 sei bestandskräftig geworden und festsetzungsverjährt. Die [X.] vom 6. September 2011 und vom 19. April 2012 hätten nicht ergehen dürfen. Das gelte auch für die Verlustfeststellungsbescheide vom 6. September 2011, vom 13. September 2011 und vom 19. April 2012. Der Kläger könne der Aufhebung dieser Bescheide durch Rücknahme des Einspruchs zuvorkommen.

Ergänzend erläuterte das [X.], die Zustellung (Bekanntgabe) des Einkommensteuerbescheids 2003 vom 29. Dezember 2009 an den Kläger sei zwar wegen Verstoßes gegen § 7 Abs. 1 des [X.] ([X.]) unwirksam. Der Kläger habe den Bescheid jedoch nicht weitergeleitet. Der Bescheid sei deshalb "nicht existent" und eine erneute wirksame Bekanntgabe durch die Finanzbehörde sei nach Eintritt der Festsetzungsverjährung nicht mehr zulässig.

Mit Schreiben vom 13. August 2012 teilte der Bevollmächtigte des [X.] dem [X.] mit, der Kläger habe den Einkommensteuerbescheid vom 29. Dezember 2009 nun an ihn weitergeleitet und er lege gegen diesen Bescheid Einspruch ein. Zum Beleg fügte er eine Fotokopie der ersten Seite des Einkommensteuerbescheids vom 29. Dezember 2009 und eine Fotokopie des Umschlags der förmlichen Zustellung vom 30. Dezember 2009, jeweils versehen mit Eingangsstempel des Steuerberaters vom 13. August 2012, bei.

Das [X.] verwarf den Einspruch vom 13. August 2012 gegen den Einkommensteuerbescheid für 2003 vom 29. Dezember 2009 als unzulässig und führte zur Begründung u.a. aus, der Zustellungsmangel sei nicht durch Weiterleitung geheilt worden. Durch die vorherige wirksame Bekanntgabe des Änderungsbescheids vom 6. September 2011 habe das [X.] den Bekanntgabewillen hinsichtlich des Bescheids vom 29. Dezember 2009 aufgegeben und den Rechtsschein beseitigt, denn der Änderungsbescheid nehme den ursprünglichen Steuerbescheid in seinen Regelungsgehalt mit auf. Solange der Änderungsbescheid Bestand habe, entfalte der ursprüngliche Bescheid keine Wirkungen mehr (Einspruchsentscheidung vom 17. Oktober 2012).

Dagegen hat der Kläger Klage erhoben mit dem Antrag,

1.  

festzustellen, dass der Einspruch gegen die Einkommensteuerfestsetzung 2003 zulässig ist und

2.  

die Einkommensteuerfestsetzung 2003 dahin zu ändern, dass die Einkünfte i.S. des § 17 EStG mit einem Verlust in Höhe von ./. 3.570.860,50 € festgestellt werden.

Das Finanzgericht ([X.]) hat die Klage abgewiesen. Der Feststellungsantrag sei unzulässig; im Übrigen sei die Klage unbegründet.

Mit der Revision erhebt der Kläger Verfahrensrügen und die Sachrüge.

Der Kläger beantragt,

1.   

unter Abänderung des angefochtenen Urteils des [X.] Baden-Württemberg vom 22. Januar 2015  12 K 3631/12 nach dem Antrag des Klägers bei der Einkommensteuerfestsetzung 2003 einen Veräußerungsverlust i.S. des § 17 EStG in Höhe von 3.570.860 € zu erkennen und dem [X.] die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen,

   

hilfsweise,

2   

das Urteil des [X.] Baden-Württemberg vom 22. Januar 2015  12 K 3631/12 aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] Baden-Württemberg zurückzuverweisen und die Entscheidung über die Kosten dem [X.] zu übertragen.

Das [X.] beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II. Die Revision ist mit dem Hilfsantrag begründet. Sie führt zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.] (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--).

1. Das [X.] hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, der Gegenstand des Klagebegehrens sei darauf gerichtet, "den Einkommensteuerbescheid 2003 vom 6. September 2011, zuletzt geändert durch Bescheid vom 19. April 2012, sowie die Einspruchsentscheidung vom 17. Oktober 2012 zu ändern und einen [X.] des [X.] gemäß § 17 EStG in Höhe von 3.570.860 € steuermindernd zu berücksichtigen".

a) Der Einspruch vom 13. August 2012 gegen den Einkommensteuerbescheid 2003 vom 29. Dezember 2009 sei unzulässig gewesen. Zum einen habe der Kläger bereits gegen den Änderungsbescheid vom 6. September 2011 Einspruch eingelegt, was einen weiteren Einspruch in derselben Sache ausschließe. Zum andern habe das [X.] den Bekanntgabewillen hinsichtlich des Bescheids vom 29. Dezember 2009 erkennbar vor dessen Weiterleitung an den Steuerberater des [X.] aufgegeben, so dass der Mangel der Zustellung nicht geheilt worden sei. Zu Recht habe das [X.] angenommen, den Bescheid nach Ablauf der Festsetzungsfrist nicht mehr selbst wirksam bekannt geben zu können. Darin liege zugleich und zwingend die Aufgabe des Bekanntgabewillens. Ansonsten müsste unterstellt werden, die Behörde wolle sehenden Auges gegen geltendes Recht verstoßen. Der Bescheid vom 29. Dezember 2009 sei außerdem durch die Bekanntgabe der [X.] vom 6. September 2011 und vom 19. April 2012 unwirksam geworden (§ 124 Abs. 2 der Abgabenordnung --[X.]--) und hätte nicht noch einmal bekannt gegeben werden dürfen.

b) Der Einspruch gegen den Änderungsbescheid vom 6. September 2011 gehe ins Leere, denn der Bescheid sei nach Ablauf der Festsetzungsfrist ergangen und deshalb unwirksam und ein anderer wirksamer Bescheid, auf den sich der Einspruch hätte beziehen können, sei zu diesem Zeitpunkt nicht ergangen.

c) Die Klage könne schließlich auch aus sachlichen Gründen keinen Erfolg haben.

2. Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Das [X.]-Urteil ist bereits deshalb aufzuheben, weil das [X.] seiner Entscheidung ein Klagebegehren zugrunde gelegt hat, welches über das Begehren des [X.] hinausgeht.

a) Nach § 96 Abs. 1 Satz 2 [X.]O darf das Gericht über das Klagebegehren nicht hinausgehen, ist aber an die Fassung der Anträge nicht gebunden. Das Gericht darf dem Kläger nicht etwas zusprechen, was dieser nicht beantragt hat, und auch nicht über etwas anderes entscheiden, als was der Kläger zur Entscheidung gestellt hat (vgl. nur Urteil des [X.] --[X.]-- vom 14. Mai 2014 VIII R 31/11, [X.], 531, [X.], 995). Dabei wird der Gegenstand des Klagebegehrens nicht durch den Klageantrag, sondern durch den begehrten richterlichen Ausspruch bestimmt (vgl. [X.]-Urteil vom 31. Januar 2013 III R 15/10, [X.], 1071, m.w.N.). Kommt das Klagebegehren im Klageantrag nicht zutreffend zum Ausdruck, hat das Gericht den wahren Willen der [X.] anhand der erkennbaren Umstände zu ermitteln. Der Vorsitzende hat sodann darauf hinzuwirken, dass sachdienliche Anträge gestellt werden (§ 76 Abs. 2 Satz 1 [X.]O). Im Revisionsverfahren kann der [X.] das Klagebegehren ohne Bindung an die Feststellungen des [X.] selbst ermitteln ([X.]-Urteil vom 20. August 2015 IV R 12/12, [X.]/NV 2016, 412). Der Grundsatz der Bindung an das Klagebegehren (§ 96 Abs. 1 Satz 2 [X.]O) gehört zur Grundordnung des Verfahrens (vgl. [X.]-Urteil vom 19. Februar 2009 II R 49/07, [X.]E 225, 1, [X.], 932). Ein Verstoß führt deshalb auch ohne Rüge zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.

b) Gegenstand des Klagebegehrens war entgegen der Annahme des [X.] nicht die Änderung des geänderten Einkommensteuerbescheids vom 6. September 2011. Diese Annahme des [X.] ist schon deshalb nicht möglich, weil die Einkommensteuer für 2003 im Einkommensteuerbescheid vom 6. September 2011 auf 0 € festgesetzt worden ist und der Kläger der Sache nach die Feststellung eines höheren verbleibenden Verlustvortrags begehrt. Sie verkennt darüber hinaus auch das Anliegen des [X.] in verfahrensrechtlicher Hinsicht. Aus der Argumentation des [X.] und seinem --vom [X.] allerdings zu Recht als unzulässig behandeltem-- Feststellungsantrag ergibt sich zweifelsfrei, dass es dem Kläger vor allem um die Zulässigkeit des Einspruchs vom 13. August 2012 gegen den Einkommensteuerbescheid vom 29. Dezember 2009 ging.

c) Das angefochtene Urteil kann deshalb keinen Bestand haben. Unerheblich ist, dass das [X.] im Urteil auch die Frage behandelt hat, ob der Einspruch vom 13. August 2012 zulässig war. Das [X.] hat das nicht richtig verstandene Klagebegehren klar und eindeutig an den Anfang seiner rechtlichen Ausführungen gestellt und damit dokumentiert, dass es das Begehren des [X.] verkannt hat.

3. Die Sache ist nicht spruchreif. Von seinem Standpunkt aus zu Recht hat das [X.] keine tatsächlichen Feststellungen zu dem vom Kläger geltend gemachten [X.] getroffen. Dies wird es nachzuholen haben, sofern nicht der Kläger nach der Zurückverweisung beantragt, die Einspruchsentscheidung isoliert aufzuheben. Dieser Antrag ist z.B. zulässig, wenn das [X.] --wie hier-- den Einspruch zu Unrecht als unzulässig behandelt und dem Kläger damit eine sachliche Überprüfung seines Anliegens verweigert hat (vgl. nur Gräber/Stapperfend, Finanzgerichtsordnung, 8. Aufl., § 100 Rz 21, m.w.N.).

4. Zur weiteren Sachbehandlung weist der [X.] auf Folgendes hin:

a) Nach Lage der Akten ist der Einspruch des [X.] vom 13. August 2012 gegen den Einkommensteuerbescheid vom 29. Dezember 2009 zulässig.

aa) Die Einspruchsfrist ist gewahrt. Der Einkommensteuerbescheid vom 29. Dezember 2009 ist am 13. August 2012 wirksam geworden. An diesem Tag begann die Einspruchsfrist zu laufen. Der Einspruch vom 13. August 2012 ist rechtzeitig eingelegt worden.

Ein Verwaltungsakt wird in dem Zeitpunkt wirksam, indem er demjenigen bekannt gegeben wird, für den er bestimmt ist (§ 124 Abs. 1 Satz 1 [X.]). Als Bekanntgabe kommt die förmliche Zustellung in Betracht. Sie richtet sich nach den Vorschriften des Verwaltungszustellungsgesetzes (§ 122 Abs. 5 [X.]). Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 [X.] ist die Zustellung an den Bevollmächtigten zu richten, wenn er eine schriftliche Vollmacht vorgelegt hat. Das war hier der Fall. Stellt das [X.] stattdessen unter Missachtung von § 7 Abs. 1 Satz 2 [X.] an den Steuerpflichtigen zu, sind die Zustellung und die darin liegende Bekanntgabe nach der Rechtsprechung des [X.] unwirksam. Die Zustellung wird aber geheilt, wenn der Bescheid an den [X.] weitergeleitet wird (ständige Rechtsprechung, vgl. [X.]-Urteile vom 8. Dezember 1988 IV R 24/87, [X.]E 155, 472, [X.] 1989, 346; vom 12. Mai 2009 IX R 37/08, [X.]/NV 2009, 1610) und diesem zugeht (vgl. Beschluss des Großen [X.]s des [X.] vom 25. November 2002 GrS 2/01, [X.]E 201, 1, [X.] 2003, 548). Die Einspruchsfrist beginnt mit dem Erhalt des Bescheids durch den Bevollmächtigten ([X.]-Urteil in [X.]E 155, 472, [X.] 1989, 346). Das war nach Aktenlage am 13. August 2012 der Fall. Die entsprechenden Eingangsstempel des Steuerberaters auf dem Bescheid und dem Zustellungsumschlag stützen seine Behauptung, dass ihm der Bescheid erst an diesem Tag zugegangen ist. Sollte das [X.] im weiteren Verlauf des Verfahrens seine Zweifel daran aufrechterhalten, wird der Kläger seine diesbezügliche Behauptung nachweisen müssen, z.B. durch Vorlage des Originals dieser Urkunden.

bb) [X.] ist nicht deshalb unwirksam, weil das [X.] zuvor seinen Bekanntgabewillen aufgegeben hat. Eine Zustellung muss vom [X.] desjenigen getragen sein, der sie veranlasst.

Es erscheint allerdings fraglich, ob auch die Heilung einer mangelbehafteten und deshalb unwirksamen Zustellung durch Weiterleitung an den richtigen Zustellungsempfänger vom [X.] getragen sein muss (verneinend wohl [X.]-Urteil vom 28. August 1990 VII R 59/89, [X.]/NV 1991, 215; [X.] Hamburg, Urteil vom 23. Mai 2013  2 K 348/12, Entscheidungen der Finanzgerichte 2013, 1630, rechtskräftig, zur Bekanntgabe). Dagegen spricht, dass der Zustellende ersichtlich keinen Einfluss auf die Handlungen hat, die zu der Heilung führen können. Die vom [X.] verneinte Frage, ob das [X.] etwas wollen kann, was es selbst nicht tun dürfte, stellt sich nicht. Denn jedenfalls wirkt der ursprünglich unzweifelhaft vorhandene [X.] fort, solange er nicht durch ausdrückliche Erklärung oder konkludentes Verhalten zurückgenommen worden ist ([X.]-Urteil vom 6. Juni 2000 VII R 55/99, [X.]E 192, 200, [X.] 2000, 560, m.w.N.). Die Aufgabe des [X.]s muss dabei hinreichend eindeutig sein. Das wäre etwa der Fall, wenn das [X.] vom Kläger die ihm unwirksam zugestellte Ausfertigung des Steuerbescheids zurückverlangt hätte, um deren Weiterleitung zu verhindern (vgl. Beschluss des [X.] --[X.]-- vom 25. September 1991 XII ZB 98/91, Neue Juristische [X.] Zivilrecht --NJW-RR-- 1992, 251, zur Rückforderung des unausgefüllten [X.] als Widerruf des [X.]s). Das ist jedoch nicht geschehen.

Weder aus der schriftlichen Äußerung des [X.], wonach es selbst gehindert sei, die Bekanntgabe nach Ablauf der Festsetzungsfrist zu wiederholen noch aus dem Erlass von [X.]n nach Ablauf der Festsetzungsfrist ergibt sich ein Widerruf des [X.]s. Die gegenteiligen Schlüsse des [X.] entbehren der tatsächlichen und rechtlichen Grundlage. Die Äußerung des [X.] vom 3. August 2012 bezieht sich nur auf eine erneute Bekanntgabe durch das [X.] und nicht auf die Heilung eines [X.]. Die Ansicht des [X.], im Erlass eines Änderungsbescheids liege der Widerruf des [X.]s hinsichtlich des noch nicht wirksam gewordenen Ausgangsbescheids geht in rechtlicher Hinsicht fehl. Entgegen der Ansicht des [X.] wird der geänderte Bescheid nicht nach § 124 [X.] unwirksam. Der ursprüngliche Bescheid ist in dem Umfang, in dem er in den Änderungsbescheid aufgenommen ist, suspendiert und bleibt dies für die Dauer der Wirksamkeit des Berichtigungsbescheids. Er tritt jedoch (ohne erneute Bekanntgabe) wieder in [X.], wenn der Berichtigungsbescheid aufgehoben wird (Beschluss des Großen [X.]s des [X.] vom 25. Oktober 1972 GrS 1/72, [X.]E 108, 1, [X.] 1973, 231). Daraus ergibt sich, dass der ursprüngliche Bescheid während der Dauer seiner Suspendierung wirksam bleibt. Im Übrigen hat die Aufgabe des Bekanntgabewillens keine Auswirkungen mehr, wenn die Bekanntgabe bewirkt ist. Auch deshalb hat die Bekanntgabe eines Änderungsbescheids keine Auswirkungen auf den Bekanntgabewillen hinsichtlich des Erstbescheids. Das gilt auch dann, wenn der Erstbescheid, wie hier, nicht wirksam bekannt gegeben worden ist.

Letztlich wäre die behauptete Aufgabe des [X.]s auch aus rechtlichen Gründen unbeachtlich (unzulässige Rechtsausübung). Das [X.] hat einen nachvollziehbaren Grund für die angebliche Aufgabe des [X.]s nicht dargetan. Das denkbare Ziel, die Feststellung von Verlusten zu verhindern, wäre jedenfalls mit dem gesetzlichen Auftrag, die Steuern gleichmäßig festzustellen, nicht vereinbar (§ 85 Satz 1 [X.]).

cc) Etwas anderes ergibt sich nicht daraus, dass die Festsetzungsfrist am 31. Dezember 2010 regulär abgelaufen wäre. Davon ist das [X.] im Ausgangspunkt zu Recht ausgegangen. Die Festsetzungsfrist ist aber gewahrt, wenn der Steuerbescheid vor Ablauf der Frist den Bereich der zuständigen Finanzbehörde verlassen hat (§ 169 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 [X.]), sofern er dem Empfänger später tatsächlich zugeht. Das gilt nicht nur, wenn der Bescheid dem Empfänger nach Ablauf der Frist zugeht, sondern auch, wenn er zu seiner wirksamen Bekanntgabe an den richtigen [X.] weitergeleitet werden muss ([X.]-Urteil vom 1. Juli 2003 VIII R 29/02, [X.]/NV 2003, 1397). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.

b) Der Zulässigkeit des Einspruchs steht nicht entgegen, dass der Kläger auch gegen den Änderungsbescheid vom 6. September 2011 Einspruch eingelegt hat. Zwar wäre, wie das [X.] im Ausgangspunkt zu Recht annimmt, ein zweiter Einspruch in derselben Sache nicht zulässig. Das ist hier aber nicht der Fall.

Der Einspruch gegen den Änderungsbescheid vom 6. September 2011 richtet sich nicht gegen die Einkommensteuerfestsetzung für 2003, sondern gegen einen nichtigen Verwaltungsakt. Ein nichtiger Verwaltungsakt kann mit dem Einspruch angefochten werden. Die Aufhebung des nichtigen Verwaltungsakts dient der Klarstellung. Der Änderungsbescheid vom 6. September 2011 ist schon deshalb nichtig, weil im Zeitpunkt seines Ergehens der Bescheid fehlte, den er ändern sollte. Ein Änderungsbescheid, der sich auf einen noch nicht wirksamen Bescheid bezieht, ist gegenstandslos und nichtig. Der Änderungsbescheid vom 6. September 2011 ist auch deshalb nichtig, weil er nach Ablauf der Festsetzungsfrist ergangen ist. Im Zeitpunkt seines Erlasses war die (reguläre) Festsetzungsfrist abgelaufen. Dass sie durch Heilung des Bekanntgabemangels noch gewahrt werden konnte, legitimiert den Änderungsbescheid nicht. Die Möglichkeit der Heilung bezieht sich nur auf den ursprünglichen Steuerbescheid, dessen Bekanntgabe noch nicht abgeschlossen ist. Die Heilung wirkt auch nicht zurück. Die Wirksamkeit des Bescheids tritt erst mit der Heilung des Bekanntgabemangels ein; die Einspruchsfrist beginnt in diesem Moment zu laufen. Ein bereits früher ergangener Änderungsbescheid bleibt wirkungslos. Über den Einspruch gegen diesen Bescheid hat das [X.] noch nicht entschieden.

c) Nach allem wird das [X.], sollten sich keine weiteren Erkenntnisse ergeben, auf entsprechenden Antrag des [X.] hin der Klage stattgeben und die Einspruchsentscheidung vom 17. Oktober 2012 isoliert aufheben oder im weiteren Verlauf des Verfahrens jedenfalls von der Zulässigkeit des Einspruchs auszugehen haben.

Gegenstand des Verfahrens ist damit der Einkommensteuerbescheid vom 29. Dezember 2009. Alle [X.], die sich auf diesen Bescheid beziehen, sind unwirksam und als nicht ergangen zu betrachten bzw. vom [X.] zur Klarstellung aufzuheben. Die Festsetzungsfrist ist nach § 171 Abs. 3a [X.] gehemmt. [X.] kommt nicht in Betracht; das Verfahren ist inhaltlich insgesamt offen. Ein [X.] kann ebenfalls noch ergehen (§ 10d Abs. 4 Satz 6 EStG in der anwendbaren Fassung). Dem entsprechend schadet es nicht, dass der Kläger bisher sein Begehren auf Feststellung eines höheren verbleibenden Verlustvortrags nicht mit dem Einspruch gegen den [X.], sondern möglicherweise zu Unrecht mit dem Einspruch gegen einen auf 0 € lautenden Einkommensteuerbescheid verfolgt hat.

Der Bescheid über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer zum 31. Dezember 2003 vom 6. September 2011 ist unwirksam. Er ist zwar ebenfalls fehlerhaft, nämlich gegenüber dem Kläger persönlich, bekannt gegeben worden. Dieser Mangel kann jedoch nicht durch Weiterleitung an den Bevollmächtigten geheilt werden, denn der Bescheid hat das [X.] nicht vor Ablauf der insoweit geltenden Feststellungsfrist verlassen, so dass in diesem Fall durch die Heilung des Bekanntgabemangels die Feststellungsfrist nicht gewahrt werden kann. Entsprechendes gilt für die Bescheide, durch die der [X.] nachträglich geändert worden ist (Bescheide vom 13. September 2011 und vom 19. April 2012). Auch sie sind wirkungslos. Es fehlte im Zeitpunkt ihres Erlasses der Bescheid, auf dessen Änderung sich die Bescheide beziehen und sie sind nach Ablauf der Feststellungsfrist ergangen. Das [X.] wird die Bescheide deshalb aus Gründen der Klarstellung von Amts wegen aufheben und gegebenenfalls einen neuen [X.] erlassen.

5. In materiell-rechtlicher Hinsicht gibt der [X.] schließlich zu bedenken, dass der Kläger kraft der ihm von seinem Bruder am 23. August 1996 erteilten [X.] nach Aktenlage frei über 48 % der Stimmrechte verfügen konnte, wodurch er jedenfalls über eine aktienrechtliche Sperrminorität von 25 % der Stimmen verfügte (vgl. zur Zurechnung von Stimmrechten aufgrund einer [X.] z.B. [X.] vom 5. April 2011 II ZR 173/10, NJW-RR 2011, 1061). Die gegenteilige Annahme des [X.] ist für den [X.] nicht nachvollziehbar. Dem steht auch nicht entgegen, dass sich die Parteien des [X.] vom 15. November 1996 verständigt hatten, wichtige Entscheidungen in der [X.] einstimmig zu treffen. Auch diese Entscheidung der [X.]er bewirkt nach der Rechtsprechung des [X.], dass ein [X.]er, der für sich genommen nicht über eine Sperrminorität verfügt, in die Finanzierungsverantwortung der [X.] einbezogen wird, denn ihm werden insofern sämtliche durch den Konsortialvertrag gebundenen Stimmrechte als eigene zugerechnet (vgl. [X.]-Urteil vom 9. Mai 2005 II ZR 66/03, [X.], 1416). Auf dieses Urteil bezieht sich die Rechtsprechung des [X.]s zu eigenkapitalersetzenden Finanzierungsleistungen eines Aktionärs stets ohne jede Einschränkung (vgl. [X.]surteile vom 2. April 2008 IX R 76/06, [X.]E 221, 7, [X.] 2008, 706; vom 8. Februar 2011 IX R 53/10, [X.] 2011, 721, und vom 6. Dezember 2016 IX R 12/15, [X.]E 256, 129, [X.] 2017, 388). Daran ist festzuhalten.

6. [X.] beruht auf § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

IX R 50/15

11.04.2017

Bundesfinanzhof 9. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg, 22. Januar 2015, Az: 12 K 3631/12, Urteil

§ 96 Abs 1 S 2 FGO, § 122 Abs 5 AO, § 169 Abs 1 S 3 Nr 1 AO, § 7 Abs 1 S 2 VwZG, § 17 Abs 1 S 1 EStG 2002

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 11.04.2017, Az. IX R 50/15 (REWIS RS 2017, 12559)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2017, 12559

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Zur Rechtskraftwirkung gerichtlicher Urteile


VIII R 19/19 (Bundesfinanzhof)

Ordnungsgemäße Bekanntgabe eines Steuerbescheids bei vermuteter Bevollmächtigung


X R 53/14 (Bundesfinanzhof)

Ergehen eines Grundlagenbescheids nach Ablauf der regulären Festsetzungsfrist für den Folgebescheid


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