Bundesfinanzhof, Beschluss vom 18.03.2013, Az. III B 143/12

3. Senat | REWIS RS 2013, 7334

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Gegenstand

Verletzung der Sachaufklärungspflicht durch Übergehen eines Beweisantrags


Leitsatz

1. NV: Das Finanzgericht verletzt seine ihm nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO obliegende Pflicht zur Sachaufklärung, wenn es einen ordnungsgemäß gestellten Beweisantrag übergeht, sofern nicht das Beweismittel für die zu treffende Entscheidung unerheblich ist, das Beweismittel unerreichbar bzw. unzulässig oder absolut untauglich ist oder die in Frage stehende Tatsache zugunsten des Beweisführenden als wahr unterstellt werden kann .

2. NV: Übergeht das Finanzgericht einen schriftsätzlich gestellten Beweisantrag, verliert auch ein fachkundig vertretener Kläger, der auf mündliche Verhandlung verzichtet hat, sein Recht, eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht des Gerichtes zu rügen, jedenfalls dann nicht, wenn er diesen Beweisantrag nach dem Verzicht auf mündliche Verhandlung bis zur Entscheidung des Gerichts im schriftlichen Verfahren erneut stellt .

Tatbestand

1

I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ist die Mutter eines im Januar 1971 geborenen [X.] ([X.]). Zur Klärung der Frage, ob für [X.] ein Betreuer bestellt werden sollte, wurde auf Veranlassung des zuständigen Amtsgerichts am 30. April 2003 ein psychiatrisches Gutachten erstellt, wonach bei [X.] ein leichtes postremissives Erschöpfungssyndrom nach abgelaufener psychotischer Episode sowie rezidivierende psychotische Episoden bei [X.] bekanntem Abusus von Cannabis und Halluzinogenen diagnostiziert wurden. Ferner kam das Gutachten zu dem Ergebnis, dass insbesondere wegen der bestehenden Rückfallgefährdung eine mindestens zwei Jahre dauernde Betreuung erforderlich sei. Zum 31. Januar 2005 wurde bei [X.] ein Grad der seelischen Behinderung von 50 festgestellt. Nach einer weiteren ärztlichen Bescheinigung vom 30. Mai 2008 leidet [X.] an einer chronischen psychiatrischen Erkrankung, welche bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahres bestanden habe.

2

Den im Oktober 2007 gestellten Antrag der Klägerin auf Gewährung von Kindergeld lehnte die Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) mit [X.] vom 24. Juni 2008 ab. Der hiergegen gerichtete Einspruch wurde durch Einspruchsentscheidung vom 17. Juli 2008 als unbegründet zurückgewiesen.

3

Die hiergegen auf [X.] ab Januar 2003 gerichtete Klage wies das Finanzgericht ([X.]) als unbegründet ab. Zur Begründung verwies es im Wesentlichen darauf, dass die kindergeldrechtliche Berücksichtigung des [X.] nach § 32 Abs. 4 [X.]atz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes ausgeschlossen sei. Insoweit sei zwar davon auszugehen, dass bei [X.] bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahres eine Erkrankung in Form psychotischer Episoden nach Abusus von Cannabis und Halluzinogenen vorgelegen habe. Aus den im Klageverfahren vorgelegten Unterlagen gehe jedoch nicht hervor, dass diese Erkrankung bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahres so schwer gewesen sei, dass von einer Behinderung auszugehen sei. Die insoweit nicht ausgeräumten Zweifel des Gerichts gingen nach den Regeln der objektiven Beweislast (Feststellungslast) zu Lasten der Klägerin.

4

Mit ihrer Beschwerde begehrt die Klägerin die Zulassung der Revision zur [X.]icherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--) und wegen des Vorliegens von Verfahrensmängeln (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O).

Entscheidungsgründe

5

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 [X.]O).

6

Es liegt ein von der Klägerin in der erforderlichen Form (§ 116 Abs. 3 [X.]atz 3 [X.]O) dargelegter Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidung des [X.] beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 [X.]O). Denn das [X.] hat seine aus § 76 Abs. 1 [X.]atz 1 [X.]O folgende Pflicht zur [X.]achaufklärung verletzt.

7

1. Die Klägerin hat einen Verfahrensmangel in der nach § 116 Abs. 3 [X.]atz 3 [X.]O erforderlichen Weise dargelegt.

8

a) Wird das Übergehen von Beweisanträgen gerügt, so muss neben dem Beweisthema und dem angebotenen Beweismittel vorgetragen werden, inwiefern das Urteil des [X.] auf der unterlassenen Beweiserhebung beruhen kann und welches Ergebnis die Beweisaufnahme voraussichtlich ergeben hätte (Beschluss des [X.] --BFH-- vom 9. Dezember 1998 VIII B 54/97, [X.] 1999, 802). Ferner muss dargelegt werden, dass die Nichterhebung des angebotenen Beweises in der mündlichen Verhandlung gerügt wurde oder weshalb diese Rüge nicht möglich war ([X.] vom 16. Dezember 2003 VII B 10/03, [X.] 2004, 529).

9

b) Entgegen der Auffassung der Familienkasse hat die Klägerin im [X.]treitfall diesen Darlegungsanforderungen genügt. Nach ihrem Vortrag wurde zum Beweis der Tatsache, dass bei [X.] bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahres eine Behinderung vorlag, [X.] in Form der [X.] Akten zweier Betreuungsverfahren, Zeugenbeweis durch Vernehmung von drei Ärzten und [X.]achverständigenbeweis durch Einholung eines Gutachtens bei einem dieser Ärzte angeboten. Ferner wurde dargelegt, es ergebe sich aus diesen Beweismitteln, dass bereits vor Vollendung des 27. Lebensjahres die psychotischen [X.]törungen des [X.] ein Ausmaß erreicht hätten, das das Vorliegen einer Behinderung begründe. [X.]chließlich hat die Klägerin dargelegt, dass sie die unterbliebene Beweiserhebung nicht habe [X.] können, weil das [X.] ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden habe.

2. Der gerügte Verfahrensmangel liegt auch tatsächlich vor. Das [X.] hat seine aus § 76 Abs. 1 [X.]O folgende Pflicht zur [X.]achaufklärung verletzt, indem es die gestellten Beweisanträge übergangen hat.

a) aa) Ein ordnungsgemäß gestellter Beweisantrag darf nur unberücksichtigt bleiben, wenn das Beweismittel für die zu treffende Entscheidung unerheblich, das Beweismittel unerreichbar bzw. unzulässig oder absolut untauglich ist oder wenn die in Frage stehende Tatsache zugunsten des Beweisführenden als wahr unterstellt werden kann (ständige höchstrichterliche Rechtsprechung, vgl. [X.] vom 29. Juni 2011 [X.]242/10, [X.] 2011, 1715, m.w.N.).

bb) Die Klägerin hat die dargelegten Beweisanträge mehrfach ordnungsgemäß gestellt, so etwa durch Bezugnahme auf frühere Beweisanträge im [X.]chriftsatz vom 16. Juli 2012 ([X.]. 197 ff. der Finanzgerichtsakte) und explizit im [X.]chriftsatz vom 24. Mai 2012 ([X.]. 183 ff. der Finanzgerichtsakte).

Keiner der o.g. Gründe für eine zulässige Nichtberücksichtigung von Beweismitteln lag hinsichtlich der im [X.]treitfall gestellten Beweisanträge vor. Insbesondere waren die Beweismittel nach dem insoweit maßgeblichen materiellen Rechtsstandpunkt des [X.] (s. hierzu [X.]enatsbeschluss vom 14. Januar 2011 III B 96/09, [X.] 2011, 788) nicht unerheblich, da das [X.] selbst den Nachweis einer vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetretenen Behinderung für erforderlich --wenn auch für nicht geführt-- gehalten hat. Auch durfte das [X.] nicht von einer Untauglichkeit dieser Beweismittel ausgehen. Es ist --wie dem [X.]enat auch aus vergleichbaren Fällen bekannt [X.] nicht auszuschließen, dass sich aus den [X.] Akten und den Zeugenvernehmungen der behandelnden Ärzte Hinweise auf die [X.]chwere und die Dauer der vom [X.] festgestellten Erkrankung im Zeitraum vor Vollendung des 27. Lebensjahres ergeben hätten, die es --im Falle des Fehlens ausreichender eigener [X.]achkunde der Familienkasse und des [X.] zumindest einem [X.]achverständigen erlauben, auch rückblickend eine Einschätzung vorzunehmen, ob im damaligen Zeitraum --wie von der Klägerin [X.] die Erkrankung bereits zum Vorliegen einer Behinderung geführt hat.

b) Die Klägerin hat ihr [X.] nicht nach § 155 [X.]O i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung verloren.

aa) Ein Verfahrensmangel kann hiernach nicht mehr mit Erfolg geltend gemacht werden, wenn er eine Verfahrensvorschrift betrifft, auf deren Beachtung die Prozessbeteiligten verzichten können und verzichtet haben. Zu diesen verzichtbaren Mängeln gehört auch das Übergehen eines Beweisantrags (vgl. z.B. [X.] vom 14. November 2003 VIII B 70/02, [X.] 2004, 513, m.w.N.).

Geht das [X.] einem schriftsätzlich gestellten Beweisantrag nicht nach, dann muss jedenfalls ein rechtskundig vertretener Beteiligter dies in der (nächsten) mündlichen Verhandlung, an welcher er teilnimmt, [X.], weil sonst das [X.] endgültig verloren geht ([X.] vom 15. Juni 2005 [X.]180/03, [X.] 2005, 1843).

bb) Im vorliegenden Fall hat das [X.] mit Einverständnis der Beteiligten ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden. Insoweit kann der [X.]enat dahingestellt sein lassen, ob in dem von der fachkundig vertretenen Klägerin mit [X.]chreiben vom 2. [X.]eptember 2008 erklärten Verzicht auf mündliche Verhandlung zugleich ein Verzicht auf die Rüge der [X.] zuvor beantragten Beweiserhebungen gesehen werden kann. Denn die Klägerin hat jedenfalls durch die danach bis unmittelbar vor Ergehen der angegriffenen Entscheidung erfolgte Wiederholung ihrer Beweisanträge zum Ausdruck gebracht, dass sie auf die Beachtung der Verfahrensvorschrift nicht verzichten will.

c) Die Vorentscheidung kann auf diesem Verfahrensmangel beruhen, da nicht auszuschließen ist, dass das [X.] nach Durchführung der Beweiserhebungen zu einem anderen Ergebnis gelangt wäre. Dem [X.] wird daher Gelegenheit gegeben, die unterbliebenen Beweiserhebungen im zweiten Rechtsgang nachzuholen.

3. Ob die weiteren [X.] des Verfahrensrechts und des materiellen Rechts durchgreifen, bedarf hiernach keiner Entscheidung. Die [X.]ache geht deshalb an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurück (§ 116 Abs. 6 [X.]O).

Meta

III B 143/12

18.03.2013

Bundesfinanzhof 3. Senat

Beschluss

vorgehend Sächsisches Finanzgericht, 17. Oktober 2012, Az: 5 K 1499/08 (Kg), Urteil

§ 115 Abs 2 Nr 3 FGO, § 76 Abs 1 S 1 FGO, § 155 FGO, § 295 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Beschluss vom 18.03.2013, Az. III B 143/12 (REWIS RS 2013, 7334)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2013, 7334

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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7 K 818/15

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