Bundesgerichtshof, Vorlagebeschluss vom 24.02.2010, Az. 1 StR 260/09

1. Strafsenat | REWIS RS 2010, 9029

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Gegenstand

Verlesung des Anklagesatzes in der Hauptverhandlung bei einer Vielzahl gleichförmiger Taten oder Tateinzelakten


Tenor

Dem [X.] wird gemäß § 132 Abs. 2 und 4 [X.] folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:

Genügt, wenn einem Angeklagten eine große Zahl von [X.] zur Last gelegt wird, die einem einheitlichen modus operandi folgen, der [X.] den Anforderungen des § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO, wenn in diesem, der allein in der Hauptverhandlung nach § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO zu verlesen ist, neben der Schilderung der gleichartigen Tatausführung, die die Merkmale des jeweiligen Straftatbestandes erfüllt, die Gesamtzahl der Taten, der Tatzeitraum sowie der Gesamtschaden bezeichnet werden und die Einzelheiten der Taten, d.h. die konkreten Tatzeitpunkte, die Tatorte, die Tatopfer und die jeweiligen Einzelschäden, ergänzend in einem anderen nicht zu verlesenden Teil der Anklageschrift detailliert beschrieben sind?

Gründe

I.

1

Das Landgericht Mannheim hat den Angeklagten [X.] wegen Betruges in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und den Angeklagten M. wegen Betruges in 369 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen wenden sich die Angeklagten mit ihren Revisionen, mit denen sie die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügen.

2

Die Revisionen beanstanden mit einer im Wesentlichen inhaltsgleichen Verfahrensrüge, dass der in der Hauptverhandlung verlesene [X.] keine ausreichende Konkretisierung der einzelnen Tatvorwürfe und Tatumstände enthalte und daher nicht den Anforderungen des § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO genüge. Insoweit sei zwar kein die Umgrenzungsfunktion berührender Mangel der Anklageschrift gegeben, indes genüge die Anklage nicht der ihr zukommenden Informationsfunktion. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes, der dieser Rüge zu Grunde liegt, wird auf den [X.] des [X.]s in dieser Sache vom 2. September 2009 ([X.]. 4 bis 10) verwiesen. [X.] wird der Sachverhalt insoweit ergänzt, dass die als „Anlagen“ bezeichneten Tabellen, in denen die einzelnen Taten hinsichtlich der Person der jeweils Geschädigten, der [X.]e und der Tatzeit sowie der [X.] konkretisiert werden, ein Teil der Anklageschrift sind. Dies wird insbesondere dadurch bestätigt, dass die Anlagen von dem die Anklage verfassenden Oberstaatsanwalt unterschrieben sind.

3

Der [X.] hält die Rüge für zulässig und das diesbezügliche Sachvorbringen für erwiesen.

4

Der [X.] möchte die Revisionen - dem Beschlussantrag des [X.] folgend - im Wesentlichen verwerfen. Lediglich soweit sowohl im Original der Anklage als auch in den Anlagen, die den [X.] ausgehändigt wurden, einzelne Seiten der Tabellen fehlten und aufgrund dieses Versehens einzelne Taten nicht in der zugelassenen Anklage angeführt waren, beabsichtigt der [X.], das Verfahren teilweise einzustellen bzw. die Verfolgung nach § 154a Abs. 2 StPO zu beschränken. Gleiches ist hinsichtlich der Tat Nr. 287 des Angeklagten M. beabsichtigt. Nach den bisherigen Feststellungen trat bei dieser Tat eine G. und nicht der Angeklagte M. als Vermittlerin auf, so dass die Tat dem Angeklagten nicht ohne weiteres zugerechnet werden kann.

5

Im Übrigen erachtet der [X.] die Sachrüge und die sonstigen Verfahrensrügen für unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. An der Verwerfung der vorstehend geschilderten Verfahrensrüge, die auf Verletzung von § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO gestützt ist und die der [X.] ebenfalls für unbegründet hält, sieht er sich nach Durchführung des [X.] ohne Vorlage an den Großen [X.] für Strafsachen gemäß § 132 Abs. 2 [X.] aufgrund des [X.]eils des [X.] vom 28. April 2006 (2 [X.] = [X.], 649) gehindert. In dieser Entscheidung hatte der 2. Strafsenat erkannt, dass bei einer Serie von Straftaten grundsätzlich erforderlich sei, dass die dem Angeklagten im einzelnen vorgeworfenen Tathandlungen nach Tatzeit, [X.], Tatausführung und anderen individualisierenden Merkmalen ausreichend beschrieben und dargelegt werden. Dies sei nach der genannten Entscheidung nicht der Fall, wenn bei einer Tatserie im [X.] nur der [X.] sowie die Tatausführung allgemein beschrieben und die individualisierenden Merkmale der Einzeltat im wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen aufgeführt sind. Danach wäre hier ein Verfahrensfehler gegeben. Da der 2. Strafsenat in dem vorgenannten [X.]eil entschieden hat, dass in Fällen wie dem vorliegenden aufgrund des Umfanges des Verfahrensstoffes ein Beruhen des [X.]eils regelmäßig nicht ausgeschlossen werden kann, wäre auf der Grundlage dieser Entscheidung die Rüge auch im vorliegenden Fall begründet.

6

Mit dem vorgenannten Beschluss vom 2. September 2009 hat der [X.] bei dem 2. Strafsenat des [X.] angefragt, ob er an seiner entgegenstehenden Entscheidung festhält, bei den übrigen Strafsenaten, ob der beabsichtigten Entscheidung dortige Rechtsprechung entgegensteht und ob gegebenenfalls an dieser festgehalten wird.

7

Der 2. Strafsenat hat mit Beschluss vom 25. November 2009 (2 [X.]) ausgesprochen, dass er an seiner bisherigen Rechtsprechung festhält. Die übrigen Strafsenate des [X.] haben mitgeteilt, dass dortige Rechtsprechung der beabsichtigten Entscheidung nicht entgegensteht. Während der 4. Strafsenat (Beschl. vom 8. Dezember 2009 - 4 ARs 17/09) und der 5. Strafsenat (Beschl. vom 28. Oktober 2009 - 5 [X.]) der Rechtsansicht des [X.]s zustimmen, hat der 3. Strafsenat mit Beschluss vom 17. November 2009 (3 [X.]) Zweifel geäußert, ob sich die beabsichtigte Verfahrensweise ohne Tätigwerden des Gesetzgebers allein auf der Grundlage des geltenden Strafprozessrechts umsetzen lässt.

II.

8

1. Der [X.] legt die streitige Rechtsfrage dem Großen [X.] für Strafsachen zur Entscheidung vor. Die Vorlage erfolgt sowohl aus Gründen der Divergenz zur Rechtsprechung des [X.] (§ 132 Abs. 2 [X.]) als auch nach § 132 Abs. 4 [X.], da die Rechtsfrage nach Auffassung des [X.]s auch zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist.

9

a) In Abweichung von dem Rechtssatz, der in dem [X.] aufgestellt wurde, konkretisiert der [X.] die Rechtsfrage in zwei Punkten. Im Hinblick auf die Bedenken des [X.], wonach der Begriff der „zahlreichen Vermögensdelikte“ einen „Quell zukünftiger Unklarheiten, [X.] und Rechtsstreitigkeiten enthalte“, wird nunmehr - in Anlehnung an die vom Gesetzgeber in § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 Alt. 2 StGB; § 267 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 StGB; § 306b Abs. 1 Alt. 2 StGB; § 330 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 StGB gewählten Tatbestandsmerkmale - vorausgesetzt, dass eine „große Zahl“ von [X.] gegeben ist [vgl. dazu nachfolgend [X.]) aa]. Zudem wird klargestellt, dass es sich bei der - regelmäßig tabellarisch erfolgenden - Auflistung der Einzelheiten der Taten, d.h. den konkreten Tatzeitpunkten, der Tatopfer und der jeweiligen [X.], um einen Teil der Anklageschrift handelt, der lediglich - wie das wesentliche Ergebnis der Ermittlungen - nicht nach § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO zu verlesen ist.

b) In Abkehr von der Rechtsprechung des [X.] genügt nach Auffassung des [X.]s, wenn einem Angeklagten eine große Zahl von [X.] zur Last gelegt wird, die einem einheitlichen modus operandi folgen, die Anklageschrift den Anforderungen des § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO, wenn im konkreten [X.], der allein in der Hauptverhandlung nach § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO zu verlesen ist, neben der Schilderung der gleichartigen Tatausführung, die die Merkmale des jeweiligen Straftatbestandes erfüllt, die Gesamtzahl der Taten, der Tatzeitraum sowie der Gesamtschaden bezeichnet werden und die Einzelheiten der Taten, d.h. die konkreten Tatzeitpunkte, die [X.]e, die Tatopfer und die jeweiligen [X.], ergänzend in einem eigenständigen Abschnitt der Anklageschrift, der nicht nach § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO zu verlesen ist, detailliert beschrieben sind.

2. Dies ergibt sich nach Auffassung des [X.]s aus folgendem:

a) Insbesondere im Hinblick auf die zunehmende Verfolgungsdichte im Bereich der Wirtschaftskriminalität (z.B. im Bereich des ärztlichen Abrechnungsbetruges) einerseits und neuer Formen der Tatbegehung - namentlich unter Ausnutzung der Möglichkeiten des [X.] - andererseits, besteht in Verfahren, bei denen massenweise und gleichförmig begangene Vermögensdelikte zur Anklage kommen, das praktische Bedürfnis, die Hauptverhandlung von der zeitaufwändigen Verlesung der Aufstellung der einzelnen Taten zu entlasten (so ausdrücklich der 3. Strafsenat im Antwortbeschluss vom 17. November 2009 - 3 [X.] - unter Hinweis auf die [X.]. vom [X.] NStZ 2007, 358 zur Entscheidung des [X.] NStZ aaO; vgl. insoweit auch die Fallschilderung von [X.] 2009, 3745, 3746).

Dem [X.] ist darüber hinaus zum Beispiel ein Verfahren bekannt, in dem der zu verlesende [X.] auf der Grundlage des [X.]eils des [X.] einen Umfang von knapp 6.000 Seiten hätte. Die insoweit erforderliche Verlesung würde mehrere Verhandlungstage in Anspruch nehmen, was eine erhebliche Beeinträchtigung der Ressourcen der Justiz sowie der weiteren Verfahrensbeteiligten mit sich bringen würde. Dem kann nach Auffassung des [X.]s mit einer sinnhaften Auslegung von § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO nach Maßgabe der Vorlagefrage begegnet werden.

b) Entgegen der Zweifel, die der 3. Strafsenat in seinem Antwortbeschluss geäußert hat und entgegen der Rechtsauffassung von Teilen des [X.], die eine konzentrierte Fassung des konkreten [X.]es nicht mit den Vorschriften des § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO für vereinbar erachten (2. Strafsenat, Beschl. vom 25. November 2009 - 2 [X.]/09 - dort [X.]. 8 ff.), ist die Auffassung des [X.]s zwanglos sowohl mit Wortlaut als auch mit Sinn und Zweck der einschlägigen Vorschriften in Einklang zu bringen, die der Gesetzgeber bei der Neufassung von § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO im Blick hatte [X.]). Es bedarf daher weder einer Gesetzesänderung, noch ist - wie andere Teile des [X.] erwägen (Beschl. vom 25. November 2009 - 2 [X.]/09 - dort [X.]. 12) - eine entsprechende Anwendung des § 249 Abs. 2 StPO erforderlich. Vielmehr wird die Auffassung des [X.]s den Funktionen, die der Fassung des [X.]es und dessen Verlesung im Strafverfahren zukommt, gerecht (nachfolgend [X.]).

aa) § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO und § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO in ihrer heutigen Fassung gehen zurück auf das Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 19. Dezember 1964 ([X.] I 1067). Mit diesem wurde § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO dahingehend geändert, dass die Verlesung des [X.], in dem nach der Neufassung des Gesetzes nur noch über die Zulassung der Anklage zu entscheiden ist, durch die Verlesung des [X.]es ersetzt wurde. Gleichzeitig wurde § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO neugefasst. An Stelle der bisherigen Formulierung, wonach „die dem Angeschuldigten zur Last gelegte Tat unter Hervorhebung ihrer gesetzlichen Merkmale und des anzuwendenden Strafgesetzes zu bezeichnen“ war, trat die noch heute gültige Legaldefinition des Begriffes „[X.]“, der sich auch in § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO wieder findet.

Nach dem Willen des Gesetzgebers kommt dabei dem [X.] besondere Bedeutung zu (vgl. Anlage zur Kabinettsvorlage des [X.] vom 10. Juni 1960 - 4100/1B - O - 22 872/60 - S. 76). Demgemäß forderte die damalige Kommentarliteratur im [X.] an die Gesetzesänderung, dass die Tat als klarer Lebensvorgang so geschildert werden müsse, dass dem Leser (auch dem juristisch nicht vorgebildeten) erkennbar werde, [X.] oder Unterlassen Gegenstand der Aburteilung sein soll ([X.] in [X.]. § 200 [X.]. 4). Weiter wurde als erforderlich angesehen, dass die rechtliche Subsumtion klar und erschöpfend sein soll, was aber nicht auf Kosten der allgemeinen Verständlichkeit gehen dürfe. Namentlich im Hinblick auf die Fortsetzungstat wurde als notwendig, aber auch ausreichend angesehen, dass die [X.]e aus der Anklageschrift zu erkennen sind, wobei es als ausreichend angesehen wurde, wenn einzelne Akte konkret bezeichnet werden und auf den Fortsetzungszusammenhang verwiesen wird ([X.] aaO [X.]. 5). Insoweit hatte sich die Literatur an der bereits vor der Gesetzesänderung ergangenen Rechtsprechung und Literatur orientiert, nach der nicht notwendig war, bei fortgesetzter Handlung jeden [X.] in individualisierter Eigenart anzugeben (vgl. [X.] NJW 1952, 990; [X.] zur Strafprozessordnung 1957 § 200 [X.]. 10).

[X.]) Vor diesem Hintergrund kann nicht angenommen werden, dass es der Gesetzgeber bei der Neufassung der einschlägigen Vorschriften für erforderlich erachtete, bei [X.] sämtliche [X.] in den Teil der Anklage aufzunehmen, der in der Hauptverhandlung zu verlesen ist ([X.]). Vielmehr ist - auch gemessen an der Funktion und der Stellung der Verlesung des [X.]es in der Hauptverhandlung - davon auszugehen, dass der zu verlesende [X.] nach dem Willen des Gesetzgebers geeignet sein soll, die wesentlichen Gesichtpunkte der zur Aburteilung stehenden Lebenssachverhalte für alle Verfahrensbeteiligten und die Öffentlichkeit in einer solchen Form zu präsentieren, dass der weitere Gang der Hauptverhandlung nachvollzogen werden kann. Hierfür ist die Mitteilung aller [X.] in der Verlesung weder erforderlich, noch geeignet, zumindest in den Fällen, in denen die zu verlesenden Details allein aufgrund der schlichten Menge der Information intellektuell nicht erfasst und gespeichert werden können. Der Zweck, der mit der Verlesung des [X.]es nach § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO verbunden ist, gebietet vielmehr, den konkreten [X.] so zu fassen, dass er bei Verlesung in der Hauptverhandlung für alle Verfahrensbeteiligte sowie die Öffentlichkeit verständlich und erfassbar ist (vgl. auch Nr. 110 Abs. 1 [X.], im Ansatz ebenso [X.] in [X.], 2008, [X.], 111 f., der zutreffend von der „Hörverständlichkeit“ des zu verlesenden [X.]es spricht). Verständlichkeit und Erfassbarkeit des Inhaltes ist bei Tabellenwerken, die mehrere hundert Seiten füllen und über viele Stunden oder Tage verlesen werden, aber gerade nicht gegeben.

cc) Auch die Rechtsprechung des [X.] trug diesen Gesichtspunkten in der Folge Rechnung, indem sie bei der Anklage einer fortgesetzten Handlung anerkannte, dass bei ausreichender Konkretisierung eines [X.] innerhalb der gesamten Anklage nicht einmal die Darstellung der [X.]e erforderlich war ([X.], [X.]. vom 27. Mai 1975 - 5 [X.]; [X.]. vom 2. Mai 1985 - 4 [X.]/85).

dd) Ein solches Verständnis vom Wesen des [X.]es steht auch im Einklang mit dem allgemeinen Wortsinn des Begriffes „Satz“, der eine knappe, alle wesentlichen Gesichtspunkte erfassende Schilderung des angeklagten [X.] nahe legt. Mit der Neufassung des § 200 Abs. 1 Satz 1 wollte der Gesetzgeber einen zu schleppenden und zu schwer verständlichen Aufbau vermeiden.

ee) In Anbetracht der in der Praxis aufgrund der bisherigen Auslegung von § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO bestehenden Probleme, die sich nicht bei der Abfassung der Anklage, sondern vielmehr bei deren Verlesung in der Hauptverhandlung stellen, reduziert sich die aufgeworfene Rechtsfrage im Ergebnis letztlich darauf, ob die Verlesung der Einzelheiten der Taten, d.h. die konkreten Tatzeitpunkte, die [X.]e, die Tatopfer und die jeweiligen [X.], im Hinblick auf die Funktionen, die dem [X.] zukommen, geboten ist. Insoweit ist folgendes zu sehen:

(1) Die Anklage dient zunächst dazu, die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat sowie Zeit und Ort ihrer Begehung so genau zu bezeichnen, dass die Identität des geschichtlichen Vorgangs klargestellt und erkennbar wird, welche bestimmte Tat gemeint ist; sie muss sich von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen desselben [X.] unterscheiden lassen. Es darf nicht unklar bleiben, über welchen Sachverhalt das Gericht nach dem Willen der Staatsanwaltschaft urteilen soll (Umgrenzungsfunktion, vgl. [X.]St 40, 390, 392).

Dieser Umgrenzungsfunktion wird die Anklage, die in der nach Auffassung des [X.]s gebotenen Art und Weise abgefasst (oben 1. b) ist, gerecht. Durch die Angabe der Zahl der [X.], die in einem umgrenzten Tatzeitraum begangen wurden und die zudem in den Tabellen der [X.] konkretisiert werden, ist eine hinreichende Individualisierung der Taten gegeben. Für die Beteiligten des konkreten Verfahrens bleibt bei einer solchen Vorgehensweise nicht unklar, welche [X.] nach dem Willen der Staatsanwaltschaft zur Aburteilung stehen. Auch in anderen Verfahren, in denen der Umfang der angeklagten Taten im Hinblick auf Fragen des Strafklageverbrauchs o.ä. bedeutsam sein könnte, kann zweifelsfrei festgestellt werden, welche [X.] von der Anklage umfasst sind.

In diesem Sinn machen die Revisionen im vorliegenden Verfahren auch zu Recht kein Verfahrenshindernis geltend, das gegeben wäre, wenn die vorliegende Anklage nicht der Umgrenzungsfunktion entsprechen würde. Auch der 2. Strafsenat erachtete in der Entscheidung, von der abgewichen werden soll, die Umgrenzungsfunktion noch als hinreichend gewahrt. Den durchgreifenden Rechtsfehler erkennt der 2. Strafsenat vielmehr darin, dass der Informationsfunktion der Anklage nicht entsprochen wurde, da die Einzelheiten, die die dem Angeklagten zur Last gelegten Taten konkretisieren, nicht nach § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO in der Hauptverhandlung verlesen wurden (2. Strafsenat, [X.]. vom 28. April 2006 - 2 [X.] - [X.]. 7).

(2) Entscheidend ist daher, ob im Hinblick auf die Informationsfunktion der Anklage über die Verlesung des [X.]es hinaus, in dem neben der Schilderung der gleichartigen Tatausführung, die die Merkmale des jeweiligen Straftatbestandes erfüllt, die Gesamtzahl der Taten, der Tatzeitraum sowie der Gesamtschaden bezeichnet werden, die Verlesung der Einzelheiten der Taten, d.h. die konkreten Tatzeitpunkte, die [X.]e, die Tatopfer und die jeweiligen [X.], geboten ist. Dies ist nach der Auffassung des [X.]s zu verneinen.

Im Hinblick auf die Informationsfunktion kommt der Anklage die Aufgabe zu, den Angeklagten und die übrigen Verfahrensbeteiligten über weitere Einzelheiten des Vorwurfs zu unterrichten, um ihnen Gelegenheit zu geben, ihr Prozessverhalten auf den mit der Anklage erhobenen Vorwurf einzustellen (vgl. [X.]St 40, 44, 47 f.).

(a) Der Informationsfunktion gegenüber dem Angeklagten entspricht das Gesetz dabei zunächst insoweit, als die Anklageschrift dem Angeschuldigten nach § 201 Abs. 1 StPO zugestellt wird. Bereits dadurch soll die umfassende und zuverlässige Unterrichtung des Angeschuldigten gewährleistet werden, um ihm rechtliches Gehör bereits vor der Eröffnung des Hauptverfahrens und die Möglichkeit zur Vorbereitung seiner Verteidigung zu geben (vgl. [X.] in [X.]. § 201 [X.]. 1 m.w.N.). Diese, die Informationsfunktion gegenüber dem Angeklagten prägenden Gesichtspunkte, werden durch die Abfassung der Anklage in der vorliegenden Art und Weise aber nicht beeinträchtigt, da dem Angeklagten die gesamte Anklage zugestellt wird. Insoweit ist auch - verfassungsrechtlich unbedenklich (vgl. [X.] NStZ 2004, 214) - anerkannt, dass die Übersetzung der Anklage in der Hauptverhandlung nicht erforderlich ist, wenn dem des Lesens Kundigen eine schriftliche Übersetzung überlassen wird ([X.] in [X.]. § 243 [X.]. 21, [X.] 52. Aufl. § 243 [X.]. 13).

Soweit darüber hinaus dem Angeklagten in der Hauptverhandlung durch die Verlesung nochmals die gegen ihn erhobenen Vorwürfe verdeutlicht werden sollen, wird diesem Zweck durch die Verlesung (und ggfs. Übersetzung) der- quasi vor [X.] gezogenen - [X.] ausreichend Rechnung getragen. Eine Einschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten ist hierin nicht zu sehen.

(b) Auch gegenüber den weiteren Verfahrensbeteiligten, die die gesamte Anklage ausgehändigt erhalten, wird der Informationsfunktion durch die Überlassung der Anklage entsprochen. Der Fassung des zu verlesenden [X.]es kommt daher im Hinblick auf die Informationsfunktion nur noch insoweit Bedeutung zu, als die [X.] über den Verfahrensgegenstand informiert werden. Daneben tritt die Information der Öffentlichkeit. Insoweit ist die relevante Problematik weiter darauf einzugrenzen, ob durch die Verlesung eines unüberschaubaren [X.]es, der auch die Tateinzelheiten in Tabellen umfasst, der Information der [X.] und der Öffentlichkeit besser entsprochen werden kann. Dies ist im Hinblick auf die eingeschränkte Verständlichkeit und Erfassbarkeit der in Rede stehenden Tabellenwerke zu verneinen.

(aa) Die [X.] sollen durch die Verlesung des [X.]es mit dem Gegenstand der Verhandlung und mit den Grenzen, in denen sich diese und die [X.]eilsfindung zu bewegen hat, bekannt gemacht werden. Sie sollen so über den erhobenen Tatvorwurf informiert werden, dass sie ihr Amt ausüben können. An diesen Funktionen gemessen ist der Informationswert einer gruppierten Darstellung gegenüber der bloß chronologischen Auflistung der [X.] weitaus höher. Die für die Beurteilung der Sachverhalte maßgeblichen Gesichtspunkte können von allen Verfahrensbeteiligten schneller erfasst und bewertet werden. Demgegenüber bringt die stunden- oder tagelange Verlesung (vgl. oben II. 2. a) hunderter, zuweilen tausender von Datensätzen, bei dem die Aufmerksamkeit der Verfahrensbeteiligten und der Öffentlichkeit regelmäßig rasch erlahmt, keinen weitergehenden Erkenntnisgewinn. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass die [X.] im Laufe der Hauptverhandlung ohnehin im Detail eingeführt werden müssen. Bereits dadurch ist ausgeschlossen, dass die [X.] bei der [X.]eilsfindung nicht über die Tateinzelheiten informiert sind.

Daneben können die - nicht zu verlesenden - Tabellenwerke den [X.] ausgehändigt werden (s.a. [X.] NStZ 2008, 525, 526), ohne dass dies freilich für eine hinreichende Anklageverlesung i.S.v. § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO erforderlich wäre. So kann den [X.] das Nachvollziehen der einzelnen Feststellungen in der Hauptverhandlung erleichtert werden. Die Aushändigung des [X.]es wird grundsätzlich als zulässig angesehen (vgl. Häger in [X.]. für [X.], 1990, [X.], 172 ff.; [X.] in [X.]. § 243 [X.]. 21; [X.] 52. Aufl. § 243 [X.]. 13) und auch seitens des [X.] im Antwortbeschluss befürwortet. Sie widerspricht auch nicht dem Grundsatz des fairen Verfahrens ([X.], 2871, 2873). Durch die Aushändigung der gesamten Anklage einschließlich der Tabellen mit den [X.] wird den [X.] ermöglicht, der weiteren Hauptverhandlung - namentlich der Beweisaufnahme - anhand der schriftlich vorliegenden Anklage zu folgen. Jeweils dann, wenn der Gang der Hauptverhandlung dies erforderlich macht, kann der Schöffe auf die maßgeblichen Punkte zurückgreifen. Gerade dann wird er auch die Einzelheiten des konkret nachzuweisenden Falles am besten erfassen können.

Deshalb ist - orientiert an den Zwecken, die der Anklage zukommen - die Auffassung des [X.]s auch vorzugswürdig gegenüber einer Einführung der Anklage in entsprechender Anwendung des § 249 Abs. 2 StPO, wie sie ein Teil des [X.] befürwortet (2. Strafsenat, Beschl. vom 25. November 2009 - 2 [X.]/09 - dort [X.]. 12). Denn die Einführung der Anklage in entsprechender Anwendung des § 249 Abs. 2 StPO müsste - den Vorgaben des § 243 Abs. 3 StPO folgend - vor Eintritt in die Beweisaufnahme erfolgen. Zu diesem Zeitpunkt bestehen indes die nämlichen Bedenken im Hinblick auf die intellektuelle Erfassbarkeit der Einzeldaten der Taten, wie sie im Hinblick auf die Verlesung des gesamten [X.]es bestehen. Der eigentliche Erkenntnisgewinn kommt den Daten der [X.] erst dann zu, wenn diese Gegenstand der Beweisaufnahme sind.

([X.]) Auch die Öffentlichkeit wird durch die Verlesung des konkreten [X.]es, wie er nach Auffassung des [X.]s gefasst sein kann, hinreichend informiert. Eine Bekanntgabe der Daten, die die Einzelfälle konkretisieren, ist demgegenüber nicht erforderlich (so wohl auch [X.] aaO). Denn Zweck des Öffentlichkeitsprinzips ist einerseits die Kontrolle des [X.] durch die Allgemeinheit. Daneben dient sie dem Informationsinteresse des Publikums sowie spezial- und generalpräventiven Zwecken (vgl. [X.] in [X.]. [X.] § 169 [X.]. 2). Diese Zwecke werden aber auch gewahrt, ohne dass eine dem Formalismus, nicht mehr aber dem eigentlichen Sinn der Vorschriften Rechnung tragende langatmige Verlesung des [X.]es erfolgt, die allenfalls dessen akustische Wahrnehmung, nicht aber seine Aufnahme oder ein intellektuelles Verarbeiten durch die Zuhörer bewirkt. Zudem ist auch an dieser Stelle zu berücksichtigen, dass die [X.] im Laufe der Hauptverhandlung ohnehin im Detail eingeführt werden müssen. Auch die Öffentlichkeit wird dadurch hinreichend über die weiteren Tateinzelheiten informiert.

Daher erweist sich auch im Hinblick auf die Information der Öffentlichkeit eine Einführung der Anklage in entsprechender Anwendung des § 249 Abs. 2 StPO gerade nicht als die geeignetere Verfahrensweise. Die vollständige Ersetzung der Verlesung würde dazu führen, dass jegliche Information der Öffentlichkeit über den Verfahrensgegenstand entfiele. Sollte nur die Verlesung der Einzeldaten ersetzt werden, ergäbe sich kein weitergehender Erkenntnisgewinn.

c) Nach Auffassung des [X.]s bestehen daher weder im Hinblick auf den Wortlaut des Gesetzes noch auf den Zweck, den das Gesetz mit der Fassung und der Verlesung des [X.]es verfolgt, Bedenken gegen die vom [X.] vertretene Auslegung von § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO. Vor diesem Hintergrund ist - entgegen der Vorbehalte des [X.] (Beschl. vom 17. November 2009 - 3 [X.] - [X.]. 7) - eine sinnhafte Auslegung auch möglich, so dass es einer Gesetzesänderung nicht bedarf.

Darüber hinaus erachtet der [X.] auch die weiteren Gesichtspunkte, die der 2. Strafsenat in seinem Antwortbeschluss vom 25. November 2009 und der 3. Strafsenat in seinem Antwortbeschluss vom 17. November 2009 anführen, nicht als durchschlagend:

aa) Soweit in den Antwortbeschlüssen das im [X.] angeführte Abgrenzungskriterium der „zahlreichen“ Vermögensdelikte als zu unbestimmt erachtet wird, kann dem nach Auffassung des [X.]s dadurch begegnet werden, dass in Anlehnung an § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 Alt. 2 StGB; § 267 Abs. 3 Satz 2 Nr. 3 StGB; § 306b Abs. 1 Alt. 2 StGB; § 330 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 StGB auf eine große Zahl von [X.] abgestellt wird. Diese wird ab 20 Taten gegeben sein (vgl. Fischer StGB 57. Aufl. § 267 [X.]. 40; § 330 [X.]. 8). Werden insoweit bereits im materiellen Strafrecht keine Bedenken gegen die hinreichende Bestimmtheit der dortigen Tatbestandsmerkmale erhoben, können nach Auffassung des [X.]s auch keine weitergehenden Bedenken gegen die Bestimmtheit der für die in strafprozessualer Hinsicht erforderlichen Voraussetzungen bestehen. Die Anforderungen an den Begriff der „großen Zahl“ kann daher durch die Rechtsprechung hinreichend konkretisiert werden.

[X.]) Auch der als weiteres Abgrenzungsmerkmal aufgenommene Begriff des „einheitlichen modus operandi“ ist nach Auffassung des [X.]s hinreichend bestimmt, um in der Praxis eine sachgerechte Handhabung zu ermöglichen. Denn ein einheitlicher modus operandi ist nur dann gegeben, wenn die vom [X.] für erforderlich erachtete Gruppierung möglich ist. Nur dann, wenn für die große Zahl von Taten eine allgemeingültige Beschreibung der Tatbegehung, die quasi vor [X.] gezogen wird, erfolgen kann, ist eine Konkretisierung des [X.]es einerseits möglich und andererseits auch sinnvoll.

cc) Durch das Erfordernis der Gruppierungsmöglichkeit aufgrund eines einheitlichen modus operandi ist zuletzt nach Auffassung des [X.]s auch den seitens des [X.] gehegten Befürchtungen, dass die Aufstellungen der [X.] in tabellarischer Form besonders fehleranfällig seien, hinreichend begegnet. Ohnehin ist für die Frage, welchen Umfang der nach § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO i.V.m. § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO zu verlesende [X.] im Hinblick auf die Informationsfunktion aufweisen muss, die Frage der Fehleranfälligkeit des Erstellens von Tabellen ohne Belang. Allenfalls für die Frage, ob [X.] überhaupt in der Anklage tabellarisch erfasst werden dürfen, kann die Fehlerhaftigkeit eines solchen Vorgehens von Bedeutung sein. Dessen ungeachtet ist aber gerade dadurch, dass die Gruppierung der einzelnen Taten einerseits dazu zwingt, die Besonderheiten des Einzelfalles genauer in den Blick zu nehmen, andererseits aber auch die Möglichkeit schafft, die für mehrere Taten übereinstimmenden Gesichtspunkte herauszustellen, eine sachgerechte tatsächliche und rechtliche Erfassung des Einzelfalles möglich.

[X.]                            Wahl                               Rothfuß

                   Jäger                            [X.]

Meta

1 StR 260/09

24.02.2010

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Vorlagebeschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend BGH, 8. Dezember 2009, Az: 4 ARs 17/09, Beschluss

§ 200 Abs 1 S 1 StPO, § 243 Abs 3 S 1 StPO, § 132 Abs 2 GVG, § 132 Abs 4 GVG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Vorlagebeschluss vom 24.02.2010, Az. 1 StR 260/09 (REWIS RS 2010, 9029)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 9029

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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