Bundesverfassungsgericht, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 16.10.2010, Az. 1 BvQ 39/10

1. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2010, 2327

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Ablehnung des Erlasses einer eA: Beschränkung einer als Aufzug angemeldeten Versammlung auf ortsfeste Kundgebung - Sicherung einer mehrere Wochen vorher angemeldeten Versammlung vor Gegendemonstranten - gewichtigere Nachteile bei Erlass der eA, da Öffentlichkeitswirksamkeit der Versammlung trotz Auflagen gewährleistet


Gründe

1

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, der die Beschränkung einer als Aufzug angemeldeten Versammlung auf eine ortsfeste Kundgebung betrifft, hat keinen Erfolg.

2

Nach § 32 Abs. 1 [X.] kann das [X.] im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Wegen der meist weit tragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 [X.] ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. [X.] 87, 107 <111>; stRspr). Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn die Verfassungsbeschwerde erweist sich von vornherein als unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. [X.] 71, 158 <161>; 88, 185 <186>; 91, 252 <257 f.>; stRspr). Ist die Verfassungsbeschwerde weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet, sind vielmehr die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. [X.] 71, 158 <161>; 96, 120 <128 f.>; stRspr).

3

Es ist nicht ersichtlich, dass die noch einzulegende Verfassungsbeschwerde von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet wäre. Zum einen ist die Verfügung, nach der es dem [X.] auch im Zusammenwirken der Versammlungsbehörde mit der Landespolizei bei Aufbietung aller Kräfte angeblich nicht möglich ist, einen etwa sechs Wochen vorher angemeldeten Aufzug von laut Anmeldung erwarteten 600 Personen gegenüber Gegendemonstranten polizeilich zu sichern, nicht offensichtlich rechtmäßig. Es erscheint fraglich, ob die Verhinderung von Versammlungen in Form von Aufzügen in dieser Weise hingenommen werden kann und ob die Polizei und die Versammlungsbehörde - hier unter Verantwortung des Oberbürgermeisters der [X.] - alle Möglichkeiten ausgeschöpft haben, in Kooperation mit den Veranstaltern durch eine Gestaltung der Versammlungsorte und Aufzugstrecken unter Einbeziehung von Maßnahmen auch gegenüber den Gegendemonstranten Lösungen zu finden, in deren Rahmen das Versammlungsrecht gesichert werden kann. Zum anderen ist es nicht ausgeschlossen, dass die Verwaltungsgerichte die Anforderungen von Art. 19 Abs. 4 GG im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes verkannt haben. Dies kann allerdings nur in einem etwaigen Verfassungsbeschwerdeverfahren geklärt werden.

4

Wäre die Verfassungsbeschwerde danach weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden. Diese führt hier zu dem Ergebnis, dass der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 32 Abs. 1 [X.] abzulehnen ist. Denn die Folgen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, sind weniger gravierend als die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre. Angesichts der Aufgaben des [X.]s ist hierbei ein strenger, mit den verwaltungsgerichtlichen Kriterien nicht deckungsgleicher Maßstab anzulegen. Die außerhalb der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG liegenden Rechtsbehelfe vor dem [X.] sind nicht die Verlängerung des einstweiligen Rechtsschutzes vor den Fachgerichten.

5

Erginge eine einstweilige Anordnung, erwiese sich die Annahme der Versammlungsbehörde und des [X.], dass sich die Versammlung als Aufzug mit den verfügbaren Polizeikräften nicht hinreichend schützen lasse, jedoch als zutreffend, so entstünden erhebliche Nachteile, weil dann davon ausgegangen werden müsste, dass sowohl Demonstranten als auch Gegendemonstranten, Polizeibeamte oder Dritte zu Schaden kommen könnten.

6

Demgegenüber wiegen die Folgen für die Antragsteller, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, nicht so schwer, dass hier eine verfassungsgerichtliche Anordnung geboten wäre. Die angemeldete Veranstaltung könnte unter dem beabsichtigten Motto stattfinden. Mit dem ihr als Versammlungsort zugewiesenen Bereich am [X.] kann die Versammlung darüber hinaus an einem Ort stattfinden, der zentral gelegen ist und damit ihre Öffentlichkeitswirksamkeit gewährleistet. Dies gilt umso mehr, als Anhaltspunkte dafür nicht ersichtlich sind, dass die Polizei, wie die Antragsteller unterstellen, die Versammlung dort von der Außenwelt abschneiden würde oder nicht bereit oder in der Lage wäre, sie dort wirksam vor Störungen zu schützen.

7

Hinzu kommt, dass dem [X.] in der Kürze der für die Entscheidung zur Verfügung stehenden [X.] eine Nachprüfung der Gefahrenprognose, die der Beschränkung der Versammlung auf eine ortsfeste Kundgebung zugrunde liegt, ebenso wenig verantwortlich möglich ist, wie es beurteilen kann, wie sich die Gefahrenlage bei dem begehrten Verbot anderer Versammlungen im Bereich der angemeldeten Aufzugstrecken oder bei einer Verlegung der Veranstaltung der Antragsteller auf den [X.] darstellen würde.

8

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvQ 39/10

16.10.2010

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 1. Kammer

Ablehnung einstweilige Anordnung

Sachgebiet: BvQ

vorgehend Sächsisches Oberverwaltungsgericht, 15. Oktober 2010, Az: 3 B 307/10, Beschluss

Art 19 Abs 4 GG, Art 8 Abs 1 GG, Art 8 Abs 2 GG, § 32 Abs 1 BVerfGG, § 15 VersammlG

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Ablehnung einstweilige Anordnung vom 16.10.2010, Az. 1 BvQ 39/10 (REWIS RS 2010, 2327)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2010, 2327

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

1 BvQ 4/12 (Bundesverfassungsgericht)

Ablehnung des Erlasses einer eA: versammlungsbehördlich angeordneter Sofortvollzug einer Auflage, mit der die zeitliche Verlegung …


1 BvQ 94/20 (Bundesverfassungsgericht)

Erfolgloser Eilantrag gegen Verbot einer Versammlung in Form einer "Dauermahnwache" gegen staatliche Corona-Eindämmungsmaßnahmen - Unzulässigkeit …


1 BvR 1004/20 (Bundesverfassungsgericht)

Ablehnung eines Eilantrags im Verfassungsbeschwerdeverfahren: infektionsschutzrechtliches Verbot einer Versammlung zum 1. Mai in Bremen – …


1 BvQ 2/20 (Bundesverfassungsgericht)

Ablehnung des Erlasses einer eA gegen die räumliche Verlegung einer Demonstration - "Rote Flora" - …


1 BvQ 29/20 (Bundesverfassungsgericht)

Ablehnung eines Antrags auf Erlass einer eA zur Erlangung einer Ausnahmegenehmigung gem § 1 Abs …


Referenzen
Wird zitiert von

1 BvR 2743/10

2 BvR 2588/18

1 BvR 2794/10

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.