Bundesgerichtshof, Beschluss vom 28.04.2011, Az. V ZB 292/10

5. Zivilsenat | REWIS RS 2011, 7251

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Gegenstand

Freiheitsentziehungsverfahren: Statthaftigkeit der zulassungsfreien Rechtsbeschwerde mit dem Ziel, die Rechtsverletzung des Betroffenen durch die Zurückweisung des Antrags auf Haftaufhebung festzustellen; Auswirkung der rechtskräftigen Entscheidung über die Haftanordnung auf das Haftaufhebungsverfahren


Leitsatz

1. Die Rechtsbeschwerde ist auch dann ohne Zulassung statthaft, wenn sie sich gegen einen Beschluss des Beschwerdegerichts richtet, mit welchem die Beschwerde gegen die Zurückweisung eines Haftaufhebungsantrags zurückgewiesen worden ist .

2. Die formelle Rechtskraft der Entscheidung über die Haftanordnung kann nicht durch ein Haftaufhebungsverfahren durchbrochen werden; hat sich die Haftanordnung erledigt, kann deshalb das Rechtsmittelgericht die Rechtsverletzung erst ab dem Eingang des Haftaufhebungsantrags bei dem Gericht des ersten Rechtszugs feststellen .

Tenor

Auf die Rechtsmittel des Betroffenen werden - unter deren Zurückweisung im Übrigen - der Beschluss der 11. Zivilkammer des [X.] vom 11. November 2010 und der Beschluss des [X.] vom 22. Juli 2010 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als auch für den Zeitraum ab dem 6. November 2009 zum Nachteil des Betroffenen entschieden worden ist.

Es wird festgestellt, dass der Beschluss des [X.] vom 22. Juli 2010 den Betroffenen seit dem 6. November 2009 in seinen Rechten verletzt hat.

Die zweckentsprechenden außergerichtlichen Auslagen des Betroffenen werden zu 1/6 der [X.] auferlegt. Im Übrigen findet eine Auslagenerstattung nicht statt. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 3.000 €.

Gründe

I.

1

Der Betroffene reiste am 22. September 2009 von den [X.] kommend unerlaubt in die [X.] ein. Er hatte am 8. Oktober 2008 in [X.] einen Asylantrag gestellt.

2

Auf Antrag der beteiligten Behörde ordnete das Amtsgericht am 22. September 2009 die Haft zur Sicherung der Zurückschiebung des Betroffenen nach [X.] für die Dauer von längstens zwei Monaten an.

3

Am 6. November 2009 hat der Betroffene bei dem Amtsgericht beantragt, den Beschluss vom 22. September 2009 aufzuheben und festzustellen, dass "die Inhaftierung in Abschiebungshaft" rechtswidrig gewesen ist. Nachdem der Betroffene am 17. November 2009 nach [X.] zurückgeschoben worden war, hat er am 23. November 2009 die Feststellung der Rechtswidrigkeit seiner Inhaftierung beantragt. Diesen Antrag hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 22. Juli 2010 "abgelehnt". Das [X.] hat die Beschwerde mit Beschluss vom 11. November 2010 zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde will der Betroffene im Ergebnis die Feststellung erreichen, dass die Haftanordnung ihn in seinen Rechten verletzt hat.

II.

4

Nach Ansicht des [X.] war die Haftanordnung rechtmäßig. Es hätten die in § 62 Abs. 2 Nr. 1 und 5 [X.] genannten Voraussetzungen vorgelegen. Gegen das Beschleunigungsgebot sei nicht verstoßen worden.

III.

5

Das hält rechtlicher Nachprüfung nicht vollständig stand.

6

1. Die Rechtsbeschwerde ist nach § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 FamFG statthaft und auch im Übrigen zulässig.

7

a) Statthaft ist auch eine Rechtsbeschwerde mit dem Ziel, die Rechtsverletzung des Betroffenen durch die Zurückweisung eines Antrags auf Haftaufhebung nach § 426 Abs. 2 Satz 1 FamFG festzustellen.

8

Für diesen Feststellungsantrag kann nichts anderes gelten als für entsprechende Anträge nach Erledigung gegen die Haftanordnung eingelegter Beschwerden, in denen Feststellungsanträge analog § 62 Abs. 1 FamFG auch im Rechtsbeschwerdeverfahren gestellt werden können, ohne dass es einer Zulassung des Rechtsmittels bedarf (std. Rspr.: vgl. Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - [X.], [X.] 2010, 150, 151 Rn. 9, 10; Beschluss vom 4. März 2010 - [X.], [X.] 2010, 152, 153 Rn. 4). Die besonderen Rechtsschutzmöglichkeiten beruhen auf dem Rehabilitierungsinteresse des Betroffenen nach einem Eingriff in sein Freiheitsgrundrecht und hängen nicht von dem konkreten Ablauf des Verfahrens ab (vgl. [X.] 104, 220, 235).

9

b) Die Rechtsbeschwerde ist auch dann ohne Zulassung statthaft, wenn - wie hier - das Beschwerdegericht über einen Feststellungsantrag nach § 62 Abs. 1 FamFG entschieden hat und in dem Rechtsbeschwerdeverfahren die Überprüfung dieser Entscheidung verlangt wird (Senat, Beschluss vom 22. Juli 2010 - [X.], [X.] 2011, 27 Rn. 4).

2. In der Sache hat die Rechtsbeschwerde teilweise Erfolg. Die Zurückweisung des [X.] hat ab dessen Eingang bei dem Amtsgericht am 6. November 2009 den Betroffenen in seinen Rechten verletzt, weil schon kein zulässiger Haftantrag vorlag.

a) Das Fehlen des nach § 72 Abs. 4 Satz 1 [X.] auch für die Zurückschiebung erforderlichen Einvernehmens der zuständigen Staatsanwaltschaft führt nicht nur zur Unzulässigkeit der Haft, sondern zur Unzulässigkeit des [X.], wenn sich aus ihm oder den ihm beigefügten Unterlagen ohne weiteres ergibt, dass gegen den Betroffenen ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren anhängig ist und der Antrag zu dem Vorliegen des Einvernehmens keine Angaben enthält (Senat, Beschluss vom 24. Februar 2011 - [X.], juris Rn. 7, 10 ff.).

So ist es hier. In dem von der Beteiligten zu 2 am 22. September 2009 gestellten Haftantrag heißt es unter "III. Sachverhalt" u.a.: "Seitens der hiesigen Dienststelle wurde ein Strafverfahren wegen der unerlaubten Einreise und Aufenthalt im [X.] gegen den o.a. afghanischen Staatsangehörigen eingeleitet." Angaben dazu, ob das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft mit der Zurückschiebung vorliegt, enthält der Antrag nicht.

b) Das Vorliegen eines zulässigen [X.] ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen (Senat, Beschluss vom 9. Dezember 2010 - [X.] 136/10, juris Rn. 6 mwN). Es ist deshalb unerheblich, dass der Betroffene das Fehlen dieser Verfahrensvoraussetzung weder in den Vorinstanzen noch in der Rechtsbeschwerdebegründung gerügt hat.

c) Gleichwohl ist die Rechtsbeschwerde unbegründet, soweit es um die Feststellung der Rechtsverletzung durch die Haftanordnung von Anfang geht. Dieser Feststellung steht die formelle Rechtskraft des Beschlusses des Amtsgerichts vom 22. September 2009 (Haftanordnung) entgegen.

aa) Zwar ist vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Vorgaben, die an einen wirkungsvollen Rechtsschutz bei prozessualer Überholung zu stellen sind, ein Rechtsschutzinteresse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit einer freiheitsentziehenden Maßnahme regelmäßig gegeben (siehe nur [X.] 104, 220, 234; Senat, Beschluss vom 20. Januar 2011 - [X.] 116/10, juris Rn. 8 mwN). Dieses rechtliche Interesse erlaubt jedoch nicht die Stellung eines Feststellungsantrags losgelöst von dem jeweils bestehenden Rechtsschutzsystem, sofern es dem Betroffenen zumutbar und möglich war, eine von der Verfahrensordnung bereitgestellte Rechtsschutzmöglichkeit zu ergreifen; besteht eine solche Möglichkeit, kann von dem Betroffenen erwartet werden, dass er diese wahrnimmt (Senat, Beschluss vom 20. Januar 2011 - [X.] 116/10, juris aaO).

bb) Diese Voraussetzung liegt hier vor. Gegen den Beschluss, mit dem das Amtsgericht die Haft angeordnet hat, hat der Betroffene kein Rechtsmittel eingelegt.

d) Die formelle Rechtskraft der Entscheidung über die Haftanordnung kann auch nicht durch das Verfahren auf Aufhebung der Haft nach § 426 Abs. 2 Satz 1 FamFG durchbrochen werden. Zwar sind Entscheidungen über die Anordnung der Haft nicht der materiellen Rechtskraft fähig, so dass ein Betroffener den Haftaufhebungsantrag nicht nur auf neue Umstände, sondern auch auf Einwände gegen die erstmalige Anordnung der Haft stützen kann (Senat, Beschluss vom 18. September 2008 - [X.] 129/08, [X.], 299, 300 zu § 10 Abs. 2 FEVG). Diese Berücksichtigung von Einwänden gegen die Haftanordnung bei der Prüfung der Haftaufhebung führt aber nicht dazu, dass die formelle Rechtskraft unterlaufen werden darf ([X.], [X.] 2005, 276, 277; [X.], FamFG 16. Aufl., § 62 Rn. 5; offengelassen von [X.], NVwZ-RR 2009, 222, 223).

e) Begründet ist die Rechtsbeschwerde jedoch insoweit, als das Beschwerdegericht den Feststellungsantrag auch für den Zeitraum ab dem Eingang des [X.] bei dem Amtsgericht am 6. November 2009 zurückgewiesen hat. Insoweit sind seine Entscheidung und auf die Beschwerde des Betroffenen auch die Entscheidung des Amtsgerichts vom 22. Juli 2010 aufzuheben.

IV.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 81 Abs. 1, 83 Abs. 2, 430 FamFG, § 128c Abs. 3 Satz 2 KostO. Unter Berücksichtung der Regelung in Art. 5 Abs. 5 [X.] entspricht es billigem Ermessen, die [X.] Deutschland, der die beteiligte Behörde angehört, zur Erstattung eines Teils der notwendigen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten. Die Kostenquote entspricht dem Verhältnis des gesamten Haftzeitraums zu dem Zeitraum, für den die Rechtsmittel Erfolg haben.

Der Gegenstandswert bestimmt sich nach §§ 30 Abs. 2, 128c Abs. 2 KostO.

[X.] Prof. Dr. Krüger
ist infolge Urlaub an der
Unterschrift gehindert.

        

[X.]     

        

Schmidt-Räntsch

[X.], den 2. Mai 2011
Der stellv. Vorsitzende
[X.]

                                   
        

     Stresemann     

        

Czub     

        

Meta

V ZB 292/10

28.04.2011

Bundesgerichtshof 5. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Osnabrück, 11. November 2010, Az: 11 T 583/10 (15), Beschluss

§ 45 FamFG, § 62 Abs 1 FamFG, § 70 Abs 3 S 1 Nr 3 FamFG, § 70 Abs 3 S 2 FamFG, § 426 Abs 2 S 1 FamFG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 28.04.2011, Az. V ZB 292/10 (REWIS RS 2011, 7251)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 7251

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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