Bundessozialgericht, Beschluss vom 06.04.2011, Az. B 4 AS 188/10 B

4. Senat | REWIS RS 2011, 7911

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Zurückweisung der Berufung durch Beschluss - Ermessensentscheidung - Ermessensfehler - grobe Fehleinschätzung - Beachtung der Europäischen Menschenrechtskonvention - fehlerhafte Gerichtsbesetzung - Richterbank - absoluter Revisionsgrund


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird der Beschluss des [X.] vom 25. November 2010 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Streitig sind höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem [X.] wegen eines von dem Kläger geltend gemachten Mehrbedarfs für kostenaufwendige Ernährung für die [X.] bis 31.8.2009.

2

Der Beklagte bewilligte dem Kläger für diesen Zeitraum weiterhin die Regelleistung sowie Kosten für Unterkunft und Heizung; die Gewährung eines Mehrbedarfs für kostenaufwendige Ernährung lehnte er jedoch ab (Bescheid vom [X.]; Widerspruchsbescheid vom 30.3.2009). Nachdem der Kläger auf Nachfrage des Gerichts mitgeteilt hatte, dass er wegen der Kosten und "eindeutiger miserabler Verfassung seiner Gesundheit" auf eine mündliche Verhandlung verzichte, hat das [X.] die Klage ohne mündliche Verhandlung abgewiesen (Urteil vom [X.]). Im Berufungsverfahren hat die zuständige Berichterstatterin den Kläger mit Schreiben vom 19.10.2010 darauf hingewiesen, dass der Senat nach den vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen keinen Anlass zu weiteren Beweiserhebungen von Amts wegen sehe. Nach § 153 Abs 4 [X.]G könne er die Berufung auch ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung [X.] durch Beschluss zurückweisen, wenn er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich halte. Diese Verfahrensweise sei aufgrund des derzeitigen Sach- und Streitstandes beabsichtigt. Der Kläger hat daraufhin unter Hinweis auf die beim B[X.] anhängigen Verfahren [X.] AS 100/10 R und [X.] AS 138/10 R angeregt, die Entscheidung zurückzustellen (Schreiben vom 17.11.2010). Mit Beschluss vom 25.11.2010 hat das L[X.] Baden-Württemberg die Berufung des [X.] zurückgewiesen.

3

Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt der Kläger eine Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör. Das Urteil des [X.] vom [X.] sei ohne mündliche Verhandlung ergangen. Mit Schreiben vom [X.] habe er sich hiermit einverstanden erklärt, sei aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht anwaltlich vertreten gewesen. Wäre er darüber belehrt worden, dass eine mündliche Verhandlung für ihn nicht mit Kosten verbunden sei, hätte er auf deren Durchführung bestanden. Seine Prozessbevollmächtigte habe gegenüber dem [X.] mit Schriftsatz vom [X.] angezeigt, dass er nunmehr anwaltlich vertreten sei. Ausweislich der richterlichen Verfügung vom [X.] sei diese Vertretungsanzeige jedoch erst zu den Akten gelangt, als der Rechtsstreit erstinstanzlich bereits entschieden worden sei. Auch der Beschluss des L[X.] Baden-Württemberg vom 25.11.2010 sei ohne mündliche Verhandlung ergangen. Nachdem er mit Schriftsatz vom 17.11.2010 angeregt habe, die beabsichtigte Entscheidung wegen anhängiger Verfahren beim B[X.] zurückzustellen, habe das L[X.] hierzu keine Stellung mehr genommen, sondern durch den streitgegenständlichen Beschluss entschieden. Er habe aber darauf vertrauen dürfen, dass es zu einem weiteren richterlichen Hinweis kommen würde, falls das L[X.] an der angekündigten Verfahrensweise festhalte. Die Entscheidung des L[X.] beruhe auf diesem Verfahrensfehler.

4

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig und begründet. Der gerügte Verfahrensmangel liegt vor, weil der Beschluss des L[X.] unter Verletzung des § 153 Abs 4 [X.]G und damit in nicht vorschriftsmäßiger Besetzung (§ 33 [X.]G) ergangen ist. Das L[X.] durfte nicht durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung und ohne [X.] entscheiden, sondern hätte aufgrund mündlicher Verhandlung entscheiden müssen.

5

Nach § 153 Abs 4 [X.]G kann das L[X.], außer in den Fällen des § 105 Abs 2 Satz 1 [X.]G, die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Voraussetzung für ein Vorgehen des L[X.] nach § 153 Abs 4 [X.]G ist also neben den Erfordernissen der Einstimmigkeit und der Ausübung des eingeräumten Ermessens, dass die Tatbestandsvoraussetzung "mündliche Verhandlung nicht erforderlich" erfüllt ist. Zwar steht die Entscheidung, die Berufung ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss gemäß § 153 Abs 4 Satz 1 [X.]G zurückzuweisen, im pflichtgemäßen Ermessen des Berufungsgerichts und kann nur auf fehlerhaften Gebrauch, dh sachfremde Erwägungen und grobe Fehleinschätzung überprüft werden (B[X.] [X.] 3-1500 § 153 [X.]; B[X.] Beschluss vom [X.] - B 5 R 386/07 B - [X.] 4-1500 § 153 [X.]; B[X.] Beschluss vom 8.10.2010 - [X.] [X.]/10 B). Insofern kann allein der Vortrag des [X.], er habe auf das Schreiben der Berichterstatterin beim L[X.] angeregt, wegen der beim B[X.] anhängigen Verfahren zum ernährungsbedingten Mehrbedarf die Entscheidung zurückzustellen, die Erforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung nicht begründen. Die Einschätzung des L[X.], nach § 153 Abs 4 [X.]G entscheiden zu können, beruht jedoch deshalb auf einer groben Fehleinschätzung, weil es nicht ausreichend beachtet hat, dass (bereits) das [X.] ohne mündliche Verhandlung entschieden hatte, obwohl dies nicht zulässig war. Es liegt daher eine Konstellation vor, in der ausnahmsweise ein Verfahrensmangel des sozialgerichtlichen Klageverfahrens für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde zum B[X.] bedeutsam bleibt.

6

Bei der Beurteilung, ob eine mündliche Verhandlung erforderlich ist, ist zu beachten, dass diese das "Kernstück" des gerichtlichen Verfahrens ist (B[X.]E 44, 292 = [X.] 1500 § 124 [X.]; B[X.] [X.] 3-1500 § 160 [X.]) und den Zweck verfolgt, dem Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen und mit ihm den Streitstoff erschöpfend zu erörtern. Unter Beachtung der prozessrechtlichen Garantie des Art 6 Abs 1 [X.] (vgl hierzu auch [X.] in [X.], [X.]G, § 124 Rd[X.] 6, Stand September 2010) ist die Möglichkeit, nach § 153 Abs 4 [X.]G ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, eng und in einer für die Beteiligten möglichst schonenden Weise auszulegen und anzuwenden. Entsprechend gilt der Grundsatz, dass von einer Verfahrensweise nach § 153 Abs 4 [X.]G in Fallgestaltungen abzusehen ist, in denen ein Verfahrensbeteiligter noch nicht die Möglichkeit hatte, sein Anliegen persönlich vorzutragen (Beschluss vom 8.11.2005 - B 1 KR 76/05 B - [X.] 4-1500 § 158 [X.] Rd[X.]; B[X.] Beschluss vom 14.4.2010 - B 8 [X.] 22/09 B - Rd[X.] 6).

7

Zwar ist eine Ausnahme von diesem Grundsatz für möglich gehalten worden, wenn in erster Instanz ein Einverständnis der Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung vorliegt und ein Widerruf der Erklärung mangels wesentlicher Änderung der Verfahrenslage nicht in Betracht kommt (vgl B[X.] Beschluss vom 14.10.2005 - B 11a [X.] 45/05 B; B[X.] Beschluss vom 16.2.2007 - B 6 [X.]/06 B - Rd[X.] 10). Es ist bereits zweifelhaft, ob die Mitteilung des [X.] gegenüber dem [X.] vom [X.] nach Eingang des Schreibens der neu beauftragten Bevollmächtigten des [X.] vom [X.] am 31.5.2010 noch als wirksame Einverständniserklärung angesehen werden konnte (vgl zum "Verbrauch" einer Einverständniserklärung bei einer Änderung der Prozess-, Beweis- oder Rechtslage B[X.] Urteil vom 6.10.1999 - B 1 KR 17/99 R - [X.] 3-1500 § 124 [X.]; B[X.] Beschluss vom 20.10.2010 - [X.] R 63/10 B - Rd[X.]), weil die Bevollmächtigte mit diesem Schreiben ihre Interessenvertretung des [X.] unter Beifügung einer Originalvollmacht angezeigt und eine weitere Begründung der Klage angekündigt hat. Gleichzeitig bat sie um Akteneinsicht in die Verwaltungs- sowie die Gerichtsakte.

8

Das [X.] hat aber jedenfalls ermessenswidrig gehandelt, indem es am [X.] durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entschieden hat, weil es auch bei Vorliegen einer Einverständniserklärung der Beteiligten im Ermessen des Gerichts liegt, ob es dennoch eine mündliche Verhandlung durchführt (B[X.] Urteil vom 21.2.1989 - 1 RA 65/88 - [X.] 1989, 313; B[X.]E 44, 292, 294 = [X.] 1500 § 124 [X.]). Das Gericht muss sein Ermessen dahin ausüben, trotz vorliegender Einverständniserklärung aufgrund mündlicher Verhandlung zu entscheiden, wenn eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach der Verfahrenslage höherrangige Prozessgrundrechte (zB den Anspruch auf rechtliches Gehör) verletzen würde ([X.] in [X.], [X.]G, § 124 Rd[X.] 43, Stand September 2010). Ein solcher Fall liegt hier vor. Der Umstand, dass das Schreiben der Bevollmächtigten des [X.] vom [X.] trotz Eingang am 31.5.2010 nach dem Inhalt des Vermerks des Kammervorsitzenden in erster Instanz vom [X.] erst nach der Entscheidung vom gleichen Tag zu den Akten gelangte, begründet ein Organisationsverschulden des Gerichts. Bei ordnungsgemäßer Prozessführung hätte das [X.] der Prozessbevollmächtigen Akteneinsicht gewähren und ausreichend Zeit zur Einarbeitung in den Sach- und Streitstand sowie für den bereits angekündigten ergänzenden Sachvortrag einräumen müssen. Mit der - ohne weiteren Hinweis an die Bevollmächtigte - erfolgten Entscheidung ohne mündliche Verhandlung hat das [X.] pflichtwidrig gehandelt. Unter Berücksichtigung dieses Verfahrensverstoßes des [X.] durfte das L[X.] nicht von dem Grundsatz, dass im Laufe des sozialgerichtlichen Verfahrens zumindest eine mündliche Verhandlung durchzuführen ist, abweichen.

9

Die angefochtene Entscheidung kann auf dem festgestellten Verfahrensmangel beruhen. Es entspricht ständiger Rechtsprechung des B[X.], bei einem Verstoß gegen § 153 Abs 4 [X.]G wegen der fehlerhaften Besetzung der Richterbank einen absoluten Revisionsgrund (§ 202 [X.]G iVm § 547 [X.] 1 ZPO) anzunehmen, bei dem nähere Ausführungen zur Kausalität entbehrlich sind (vgl B[X.] Urteil vom [X.] - B 2 U 29/00 R - [X.] 3-1500 § 153 [X.]; B[X.] Beschluss vom 29.8.2006 - [X.] R 37/06 B - [X.] 4-1500 § 153 [X.] 5 Rd[X.] 10 mwN; B[X.] Beschluss vom 20.10.2010 - [X.] R 63/10 B - Rd[X.] 17). Auf der Grundlage von § 160a Abs 5 [X.]G macht der Senat daher von der Möglichkeit Gebrauch, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurückzuverweisen.

Die Entscheidung über die Kosten unter Einbeziehung der Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung des L[X.] vorbehalten.

Meta

B 4 AS 188/10 B

06.04.2011

Bundessozialgericht 4. Senat

Beschluss

Sachgebiet: AS

vorgehend SG Karlsruhe, 10. Juni 2010, Az: S 15 AS 1899/09, Urteil

§ 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160a Abs 5 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 153 Abs 4 S 1 SGG, § 33 SGG, § 202 SGG, § 547 Nr 1 ZPO, Art 6 Abs 1 MRK

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 06.04.2011, Az. B 4 AS 188/10 B (REWIS RS 2011, 7911)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 7911

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