Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 20.02.2018, Az. 1 AZR 787/16

1. Senat | REWIS RS 2018, 13663

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Gegenstand

Streitgegenstand - Abfindungsanspruch


Tenor

1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des [X.] vom 2. Juni 2016 - 11 [X.] 1344/15 - aufgehoben.

2. Auf die Berufung der Beklagten werden das Urteil des [X.] vom 22. Juli 2015 - 3 [X.]/15 - abgeändert und die Klage abgewiesen.

3. Der Antrag der Beklagten vom 18. Januar 2017 wird abgewiesen.

4. Der Kläger hat die Kosten 1. und 2. Instanz zu tragen. Von den Kosten des Revisionsverfahrens haben der Kläger 1/3 und die Beklagte 2/3 zu tragen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über eine Zahlung nach einem Sozialplan.

2

Der im Februar 1959 geborene Kläger ist schwerbehinderter Mensch und war bei der [X.]eklagten am Produktionsstandort [X.] beschäftigt. Wegen dessen beabsichtigter Schließung vereinbarte die [X.]eklagte am 12. Juni 2014 mit der zuständigen [X.] einen Sozialtarifvertrag ([X.]) und einigte sich am 25. Juni 2014 mit dem [X.]etriebsrat auf einen Interessenausgleich sowie einen Sozialplan ([X.]). Dieser erstreckt nach seiner Nr. 1 den Inhalt des in Abschn. C. des [X.] geregelten Sozialplans auf die Arbeitsverhältnisse aller [X.]etriebsangehörigen. Nach Abschn. H. des [X.] werden dessen [X.] auf solche nach einem betrieblichen Sozialplan angerechnet und Doppelansprüche ausgeschlossen.

3

[X.]eide Vereinbarungen sehen für Arbeitnehmer der Jahrgänge 1949 bis 1959 ein individuelles Angebot zum Ausscheiden zum 31. Dezember 2014 gegen Zahlung einer Abfindung vor. Das Abfindungsangebot ist gemäß Nr. 1 [X.], Abschn. [X.]. 2.6 [X.] so zu bemessen, dass es „unter Anrechnung von Arbeitslosengeld 1 und [X.]ezügen aus der [X.]“ ab dem 60. Lebensjahr eine Absicherung iHv. 80 % des zuletzt bezogenen [X.] im Zeitraum vom 1. Januar 2016 bis zum frühestmöglichen Wechsel in die gesetzliche Rente sicherstellt (sog. „Nettoabsicherung“). Der sich für den abzusichernden Zeitraum ergebende Gesamtbetrag zuzüglich der Aufwendungspauschale für die freiwillige Kranken- und Pflegeversicherung ist unter Zuhilfenahme der dem Arbeitgeber bekannten und angezeigten [X.] auf eine [X.]ruttosumme hochzurechnen (sog. „[X.]ruttoisierung“). Nr. 1 [X.], Abschn. [X.]. 4.1 und 4.6 [X.] legen fest, dass es sich bei dem mit Abschluss des Aufhebungsvertrags entstehenden Abfindungsanspruch um einen [X.]ruttobetrag handelt, der unter [X.]eachtung der gesetzlichen Regelungen mit der Gehaltsabrechnung für Januar 2015 abzurechnen und auszuzahlen ist.

4

Der [X.]erechnung des Abfindungsangebots legte die [X.]eklagte den 1. Mai 2020 zugrunde. Zu diesem Zeitpunkt konnte der Kläger erstmals eine vorzeitige Altersrente für schwerbehinderte Menschen beziehen. Da das Arbeitsverhältnis der Parteien zum 31. Dezember 2014 endete, zahlte die [X.]eklagte eine [X.]ruttoabfindung iHv. 123.000,00 Euro.

5

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, Abschn. [X.]. 2.6 [X.] benachteilige ihn wegen seiner Schwerbehinderung. Nicht schwerbehinderte Arbeitnehmer des identischen [X.] erhielten eine höhere Abfindung, da sie [X.] als er erstmals in die gesetzliche Rente wechseln könnten. Zur Vermeidung einer mittelbaren Diskriminierung wegen [X.]ehinderung sei er nach der Entscheidung des Gerichtshofs der [X.] ([X.]) vom 6. Dezember 2012 (- [X.]/11 - [[X.]]) wie ein nicht schwerbehinderter Arbeitnehmer zu behandeln.

6

Der Kläger hat beantragt,

        

die [X.]eklagte zu verurteilen, an ihn 50.878,96 Euro netto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem [X.]asiszinssatz seit dem 1. Februar 2015 zu zahlen.

7

Die [X.]eklagte hat Klageabweisung beantragt.

8

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Nach der Zustellung des Urteils hat die [X.]eklagte den ausgeurteilten Zahlbetrag nebst Zinsen „bruttoisiert“ und am 1. September 2015 an den Kläger gezahlt. Das [X.] hat die [X.]erufung der [X.]eklagten mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die [X.] ohne den Zusatz „netto“ erfolge. Während des Revisionsverfahrens hat die [X.]eklagte ihr Klageabweisungsbegehren weiterverfolgt und darüber hinaus für den Fall ihres Obsiegens „in der vorliegenden Instanz“ die Rückzahlung des ausgezahlten [X.]etrags iHv. 92.603,24 Euro beantragt.

Entscheidungsgründe

9

Die Revision der [X.] ist begründet. Ein Rückzahlungsanspruch nach § 717 Abs. 3 ZPO steht ihr aber nicht zu.

I. Dem Kläger steht die begehrte Zahlung einer Nettoabsicherung weder nach dem [X.] noch nach dem [X.] zu. Dies hat das [X.] verkannt.

1. Die Klage ist auf Auszahlung der Nettoabsicherung iSv. Nr. 1 [X.], Abschn. [X.]. 2.6 Abs. 1 [X.] gerichtet.

a) Nach dem für das arbeitsgerichtliche Urteilsverfahren geltenden zweigliedrigen [X.] wird der Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens durch den dort gestellten Antrag (Klageantrag) und dem ihm zugrunde liegenden Lebenssachverhalt (Klagegrund) bestimmt. Der Streitgegenstand erfasst alle Tatsachen, die bei einer natürlichen, vom Standpunkt der Parteien ausgehenden, den Sachverhalt seinem Wesen nach erfassenden Betrachtungsweise zu dem zur Entscheidung gestellten [X.] gehören, den der Kläger zur Stützung seines [X.] dem Gericht unterbreitet hat ([X.] 26. Juni 2013 - 5 [X.] - Rn. 16). Das Vorbringen des [X.] oder eigenes Verteidigungsvorbringen des [X.] gegenüber dem [X.] verändert den mit Antrag und Klagevorbringen festgelegten Streitgegenstand nicht ([X.] 18. November 2014 - 1 [X.] - Rn. 15 mwN, [X.]E 150, 50).

b) Mit seinem Klageantrag hat der Kläger ausdrücklich eine [X.] verlangt. In Verbindung mit dem von ihm geschilderten Lebenssachverhalt ergibt sich, dass Streitgegenstand die Nettoabsicherung nach Nr. 1 [X.], Abschn. [X.]. 2.6 Abs. 1 [X.] ist und nicht eine nach Nr. 1 [X.], Abschn. [X.]. 2.6 Abs. 4, Ziff. 4 [X.] zu berechnende Bruttoabfindung. Zwar führt der Kläger zunächst aus, dass er einen Anspruch auf Zahlung der ihm bei diskriminierungsfreier Auslegung des [X.] und des [X.] zustehenden Abfindung geltend mache. Bei der näheren Konkretisierung des Klagebegehrens beschränkt sich der Kläger aber auf die Berechnung des weiteren [X.] für die [X.] von dem seitens der [X.] zugrunde gelegten Renteneintritt am 1. Mai 2020 bis zu dem von ihm als zutreffend angesehenen Renteneintritt am 1. März 2022. Auf diesen Betrag beschränkte er die Klageforderung, weil es Sache der [X.] sei, einen Anspruch auf Nettoabsicherung „zu bruttoisieren“, also den Bruttobetrag zu berechnen und unter Berücksichtigung der entsprechenden Abzüge den verbleibenden Nettobetrag an ihn auszuzahlen. Danach ist Gegenstand der Klage die im Einzelnen bezifferte Nettoabsicherung für die [X.] vom 1. Mai 2020 bis zum 28. Februar 2022. Entgegen der im Revisionsverfahren geäußerten Auffassung des [X.] dient diese nicht bloß der Berechnung einer Bruttoforderung, sondern in ihr erschöpft sich die Klageforderung.

c) Das auf eine Nettoabsicherung gerichtete Klagebegehren konnte das [X.] nicht unter Hinweis auf die Rechtsprechung des [X.] ([X.] 17. Februar 2016 - 5 [X.] 981/15 - Rn. 5, [X.]E 154, 116) in einen Bruttozahlbetrag gleicher Höhe umwandeln. Durch das Streichen des Zusatzes „netto“ hat das [X.] nicht bloß verdeutlicht, was von Gesetzes wegen hinsichtlich der einen Arbeitnehmer treffenden Leistungspflicht für Steuer- und/oder Sozialabgaben gilt (§ 38 Abs. 2 EStG; § 28g SGB IV). Vielmehr hat es den Streitgegenstand ausgewechselt und auf eine Sozialplanforderung erkannt, die der Kläger nicht verlangt hat und die auch der Höhe nach nicht dem sich nach einer Nettoabsicherung von 50.878,96 Euro errechnenden Bruttobetrag entspricht.

2. Der Kläger kann nach Nr. 1 [X.] iVm. Abschn. [X.]. 2.6 Abs. 1 [X.] keine (Aus-)Zahlung der Nettoabsicherung beanspruchen.

a) Nach der ständigen Rechtsprechung des [X.] sind Sozialpläne als Betriebsvereinbarungen eigener Art wegen ihrer normativen Wirkungen (§ 77 Abs. 4 Satz 1, § 112 Abs. 1 Satz 3 BetrVG) wie Tarifverträge auszulegen. Ausgehend vom Wortlaut und dem durch ihn vermittelten Wortsinn kommt es auf den Gesamtzusammenhang und die Systematik der Bestimmung an. Darüber hinaus sind Sinn und Zweck der Regelung von besonderer Bedeutung. Im Zweifel gebührt derjenigen Auslegung der Vorzug, die zu einem sachgerechten, zweckorientierten, praktisch brauchbaren und gesetzeskonformen Verständnis der Regelung führt ([X.] 26. September 2017 - 1 [X.] - Rn. 11 mwN auf [X.] 17. November 2015 - 1 [X.] - Rn. 13 mwN). Dieser [X.] gilt auch, wenn die Betriebsparteien tarifliche Regelungen in eine Betriebsvereinbarung einbeziehen ([X.] 26. September 2017 - 1 [X.] - Rn. 12).

b) Gemäß Ziff. 1 [X.] iVm. Abschn. [X.]. 2.6 Abs. 1 [X.] wird das individuelle Abfindungsangebot so bemessen, dass es für einen bestimmten [X.]raum bis zum frühestmöglichen Wechsel in die gesetzliche Rente eine Absicherung iHv. 80 % des zuletzt bezogenen und sich nach Nr. 1 [X.], Abschn. [X.]. 2.5 Abs. 1 [X.] errechnenden Nettomonatseinkommens sicherstellt. Der aus dem gesamten [X.]raum ermittelte 80 %ige [X.] sowie die Aufwendungspauschale für die freiwillige Kranken- und Pflegeversicherung nach Nr. 1 [X.], Abschn. [X.]. 2.6 Abs. 3 [X.] werden unter Zuhilfenahme der der [X.] bekannten und angezeigten Steuermerkmale nach Maßgabe der Nr. 1 [X.] iVm. Abschn. [X.]. 2.6 Abs. 4 [X.] auf einen Bruttoabfindungsbetrag hochgerechnet. Grundlage dafür sind das zu erwartende steuerpflichtige Bruttoarbeitsentgelt im Jahr 2015 in der Transfergesellschaft und die bekannten Steuerparameter des jeweiligen Mitarbeiters. Nr. 1 [X.] iVm. Abschn. [X.]. 4 [X.] regelt das Entstehen sowie die Fälligkeit des Abfindungsanspruchs. Die Regelung bestimmt weiterhin, dass es sich bei den [X.] um [X.] handelt und etwaige Steuern und Sozialabgaben von den Arbeitnehmern entsprechend der gesetzlichen Bestimmungen zu tragen sind.

c) Hiernach vermittelt der [X.] iVm. dem [X.] keinen Anspruch auf (Aus-)Zahlung der Nettoabsicherung. Sowohl nach seinem Wortlaut als auch nach seiner Systematik handelt es sich bei der Nettoabsicherung lediglich um eine Rechengröße, mit deren Hilfe und auf deren Grundlage eine dem Kläger anzubietende Bruttoabfindung zu berechnen ist. Erst diese unterliegt der Sozialversicherungs- und individuellen Steuerpflicht. Zwangsläufig ist der danach verbleibende Zahlbetrag dividiert durch die Anzahl der abzusichernden Monate rechnerisch nicht identisch mit dem monatlichen (Netto-)Absicherungsbedarf.

3. Die vorstehenden Erwägungen gelten entsprechend, soweit der Kläger seinen Anspruch allein auf Abschn. [X.]. 2.6 Abs. 1 [X.] stützt. Dieser vermittelt keine weitergehenden Ansprüche und schließt zudem eine Doppelzahlung bei identischen Ansprüchen aus (Abschn. [X.]. 2 [X.]).

II. Die Beklagte kann nicht die Rückzahlung des an den Kläger am 1. September 2015 gezahlten Betrags verlangen. Ein Bereicherungsanspruch aus § 717 Abs. 3 ZPO steht ihr nicht zu.

1. Die Beklagte hat ihr Rückzahlungsbegehren in der Revisionsinstanz entsprechend der Antragsbegründung ausschließlich auf § 717 Abs. 3 Sätze 2, 3 ZPO iVm. § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB gestützt. Ein solcher Antrag konnte von ihr wirksam in das Verfahren eingeführt werden. § 717 Abs. 3 ZPO lässt als gesetzliche Ausnahme des Grundsatzes der Unzulässigkeit einer Klageerweiterung in der Revision (vgl. [X.] 26. August 2015 - 4 [X.] - Rn. 12 mwN) die Geltendmachung eines [X.] nach Aufhebung oder Abänderung eines vorläufig vollstreckbaren Urteils des [X.]s in vermögensrechtlichen Streitigkeiten in der Revisionsinstanz zu, soweit der [X.] noch rechtshängig ist ([X.] 14. April 2011 - 6 [X.] - Rn. 16 mwN, [X.]E 137, 347).

2. Der Antrag ist unbegründet. Nach § 717 Abs. 3 Satz 2 ZPO ist der Kläger zur Erstattung des vom [X.] aufgrund des Urteils [X.] oder Geleisteten zu verurteilen, soweit „ein solches Urteil“ aufgehoben oder abgeändert wird. Der Anspruch setzt, wie die Bezugnahme auf Satz 1 zeigt, mithin voraus, dass der Beklagte aufgrund des Berufungsurteils gezahlt oder geleistet hat. Dies ist nicht der Fall. Die Beklagte hat am 1. September 2015 auf das erstinstanzliche Urteil gezahlt, das Urteil des [X.]s erging erst am 2. Juni 2016.

3. Der vor dem [X.] mit Schriftsatz vom 25. Mai 2016 geltend gemachte Rückzahlungsanspruch nach § 717 Abs. 2 ZPO fiel dem Senat nicht zur Entscheidung an. Diesen hat die Beklagte damals für den Fall des Obsiegens „in der vorliegenden Instanz“, also der Berufungsinstanz gestellt. Wegen der Zurückweisung der Berufung der [X.] hatte das [X.] über ihn nicht zu befinden.

        

    Schmidt    

        

    K. Schmidt    

        

    Heinkel    

        

        

        

    [X.]    

        

    [X.]    

                 

Meta

1 AZR 787/16

20.02.2018

Bundesarbeitsgericht 1. Senat

Urteil

Sachgebiet: AZR

vorgehend ArbG Bochum, 22. Juli 2015, Az: 3 Ca 611/15, Urteil

§ 263 ZPO, § 253 Abs 2 Nr 2 ZPO

Zitier­vorschlag: Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 20.02.2018, Az. 1 AZR 787/16 (REWIS RS 2018, 13663)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2018, 13663

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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11 Sa 1344/15 (Landesarbeitsgericht Hamm)


Referenzen
Wird zitiert von

14 Sa 630/22

14 Sa 631/22

14 Sa 632/22

3 Sa 98/21

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