Bundessozialgericht, Beschluss vom 06.10.2022, Az. B 8 SO 15/22 B

8. Senat | REWIS RS 2022, 8352

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

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Gegenstand

Sozialgerichtliches Verfahren - Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - Entscheidung ohne mündliche Verhandlung - Einverständnis der Beteiligten - Reichweite und Wirksamkeit


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 2. Dezember 2021 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Der Kläger begehrt im Zeitraum Oktober 2013 bis September 2014 höhere Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Grundsicherungsleistungen) nach dem [X.] - ([X.]) von der [X.]eklagten.

2

Der Kläger bezieht von der [X.]eklagten Grundsicherungsleistungen ergänzend neben einer Altersrente und bewohnt mit seiner Ehefrau eine Wohnung (monatliche Kaltmiete 400 Euro; kalte [X.]etriebskosten rund 120 Euro monatlich). Die [X.]eklagte berücksichtigte bei der Leistungsbewilligung ua einen [X.]edarf für Unterkunft und Heizung (KdU) iHv 418 Euro monatlich als [X.]ruttokaltmiete ([X.]escheide vom 28.12.2013 und 28.1.2014; Widerspruchsbescheide des [X.] vom 12.3.2014 und weiterer [X.]escheid vom 18.3.2014 ). Die Klage, die sowohl auf [X.]erücksichtigung eines höheren Regelbedarfs als auch auf [X.]erücksichtigung höherer KdU-[X.]edarfe gerichtet gewesen ist, hat keinen Erfolg gehabt (Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 15.6.2018; Urteil des Landessozialgerichts <[X.]> Nordrhein-Westfalen vom 2.12.2021). Das [X.] hat zur [X.]egründung ausgeführt, der Regelsatz sei verfassungskonform. Höhere KdU-[X.]edarfe seien nicht zu berücksichtigen. Der Kläger habe Kenntnis von der Kostensenkungsobliegenheit gehabt; ob ein schlüssiges Konzept nach der Rechtsprechung des [X.]undessozialgerichts ([X.]SG) vorliege, könne offenbleiben, denn mehr als die Werte nach dem [X.] ([X.]) zuzüglich eines Sicherheitszuschlags iHv 10 % (hier: 418 Euro monatlich) stünden ihm nicht zu.

3

Mit seiner [X.]eschwerde macht der Kläger Verfahrensmängel (§ 160 Abs 2 [X.] Sozialgerichtsgesetz <[X.]>) geltend; ua sei das Urteil des [X.] ohne mündliche Verhandlung ergangen, obwohl ein wirksames Einverständnis von ihm nicht mehr vorgelegen habe; damit sei auch der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden.

4

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des [X.] ist zulässig. Die [X.]eschwerde genügt hinsichtlich des geltend gemachten [X.] den Darlegungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 [X.] [X.].

5

Die [X.]eschwerde ist auch begründet. Das angefochtene Urteil ist unter Verstoß gegen den in § 124 Abs 1 [X.] festgelegten Grundsatz der mündlichen Verhandlung ergangen. Er führt gemäß § 160a Abs 5 [X.] zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.].

6

Gemäß § 124 Abs 1 [X.] entscheidet das Gericht der Sozialgerichtsbarkeit, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Nach § 124 Abs 2 [X.] kann das Gericht unter der Voraussetzung, dass die [X.]eteiligten ihr Einverständnis mit dieser Verfahrensweise erklärt haben ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden. Der Sinn dieser Ausnahmeregelung besteht darin, die Gerichte zu entlasten und das Verfahren im Interesse der [X.]eteiligten zu vereinfachen und zu beschleunigen (vgl [X.]SG vom 22.9.1977 - 10 RV 79/76 - [X.], 292 = [X.] 1500 § 124 [X.]). Eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren, für die keine wirksame Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 [X.] vorliegt, verletzt regelmäßig zugleich den Anspruch des [X.]eteiligten auf rechtliches Gehör ([X.]SG vom 17.12.2015 - [X.] U 132/15 [X.] - Rd[X.]0; [X.]SG vom 12.4.2005 - [X.] U 135/04 [X.] - [X.] 4-1500 § 124 [X.] mwN).

7

Die Erklärung, auf mündliche Verhandlung zu verzichten, steht unter dem Vorbehalt der im Wesentlichen unveränderten Sach-, [X.]eweis- und Rechtslage (vgl [X.]SG vom 12.4.2005 - [X.] U 135/04 [X.] - [X.] 4-1500 § 124 [X.] RdNr 9; [X.]SG vom 6.10.1999 - [X.] 1 KR 17/99 R - [X.] 3-1500 § 124 [X.]), da die Erklärung unter der Voraussetzung abgegeben wird, die Entscheidung werde auf der Grundlage des bis zur Abgabe der Erklärung bekannten Sach- und Streitstandes erfolgen (vgl [X.]SG vom 11.11.2004 - [X.] 9 S[X.] 19/04 [X.]). Von einem Verbrauch ist insbesondere dann auszugehen, wenn sich die Tatsachengrundlage geändert hat, weil neue Erkenntnisse zu den Akten gelangt sind, neues [X.]es Vorbringen des anderen [X.]eteiligten erfolgt ist, die Rechtslage sich geändert hat oder sich das Gericht auf Gesichtspunkte stützen will, die im Zeitpunkt des Verzichts noch nicht von [X.]edeutung waren (vgl [X.]SG vom 31.5.1978 - 12 [X.]K 20/77 - [X.] 1500 § 124 [X.]; [X.]SG vom 11.11.2003 - [X.] U 32/02 R - NZS 2004, 660; [X.]SG vom 11.11.2004 - [X.] 9 S[X.] 19/04 [X.]; weitere [X.]eispiele bei [X.] in [X.]/[X.]/[X.]/[X.], [X.], 13. Aufl 2020, § 124 Rd[X.]e). Das vom Kläger [X.] erklärte Einverständnis mit einer Entscheidung des [X.] ohne mündliche Verhandlung war nach den im späteren Verlauf des [X.]erufungsverfahrens erfolgten weiteren Sachermittlungen von Amts wegen des [X.] zur Frage der anzuerkennenden Unterkunftsbedarfe, zur Frage des Vorliegens eines schlüssigen Konzepts bzw dessen Nachholung und insbesondere zur Frage des Vorliegens einer wirksamen Kostensenkungsaufforderung verbraucht. Es hätte neu eingeholt werden müssen, wenn das [X.] weiterhin ohne mündliche Verhandlung hätte entscheiden wollen. Das [X.] hat mit seiner Verfahrensweise aus der Sicht eines objektiven [X.] deutlich gemacht, dass es den Rechtsstreit noch nicht für entscheidungsreif gehalten, sondern eine weitere Sachverhaltsaufklärung für erforderlich erachtet hat.

8

Da die Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 124 Abs 1 [X.] der prozessrechtliche Regelfall ist und die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung die Ausnahme darstellt, hätte das [X.] im Entscheidungszeitpunkt von Amts wegen das [X.]estehen eines wirksamen Einverständnisses nach § 124 Abs 2 [X.] prüfen müssen. Die [X.]eteiligten sind bei Eintritt einer wesentlichen Änderung der Prozesslage nicht gehalten, das Gericht darauf hinzuweisen, dass ihre Einverständniserklärung unwirksam geworden ist, oder gar ihre Einverständniserklärung dem Gericht gegenüber ausdrücklich zu widerrufen (vgl [X.]SG vom 7.4.2011 - [X.] 9 S[X.] 45/10 [X.] - Rd[X.]4).

9

Obwohl die Verletzung des rechtlichen Gehörs im sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund ausgestaltet ist (vgl § 202 Satz 1 [X.] iVm § 547 Zivilprozessordnung ), ist wegen der besonderen [X.]edeutung der mündlichen Verhandlung für das Gerichtsverfahren im Allgemeinen davon auszugehen, dass eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dadurch, dass gegen den Grundsatz der mündlichen Verhandlung (§ 124 Abs 1 [X.]) verstoßen wird, die daraufhin ergangene Gerichtsentscheidung insgesamt beeinflusst hat (stRspr; vgl etwa [X.]SG vom 11.4.2013 - [X.] U 359/12 [X.]; [X.]SG vom 12.4.2005 - [X.] U 135/04 [X.] - [X.] 4-1500 § 124 [X.]; [X.]SG vom 6.10.1999 - [X.] 1 KR 17/99 R - [X.] 3-1500 § 124 [X.]; [X.]SG vom 20.8.2009 - [X.] 14 [X.]/09 [X.] - Rd[X.]0 f mwN). Unter diesen Umständen kann es dahinstehen, ob auch die weiteren Verfahrensrügen durchgreifen. Es wäre in jedem Fall zu erwarten, dass ein Revisionsverfahren zur Zurückverweisung der Sache an das [X.]erufungsgericht führen würde (vgl dazu [X.]SG vom 23.5.2006 - [X.] 13 [X.]/05 [X.] - und vom 30.4.2003 - [X.] 11 [X.] 203/02 [X.]), sodass der Senat von der Möglichkeit Gebrauch macht, in dem [X.]eschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen (§ 160a Abs 5 [X.]).

Das [X.] wird auch über die Kosten des Rechtsstreits unter [X.]eachtung des Ausgangs der Nichtzulassungsbeschwerde zu befinden haben.

[X.]ieresborn                Scholz                Luik

Meta

B 8 SO 15/22 B

06.10.2022

Bundessozialgericht 8. Senat

Beschluss

Sachgebiet: SO

vorgehend SG Dortmund, 15. Juni 2018, Az: S 62 SO 148/14, Urteil

§ 160a Abs 1 S 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 SGG, § 124 Abs 1 SGG, § 124 Abs 2 SGG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 06.10.2022, Az. B 8 SO 15/22 B (REWIS RS 2022, 8352)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 8352

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