Bundessozialgericht, Beschluss vom 17.12.2015, Az. B 2 U 132/15 B

2. Senat | REWIS RS 2015, 429

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Gegenstand

(Sozialgerichtliches Verfahren - Zurückverweisung gem § 160a Abs 5 SGG - Verfahrensfehler - Verletzung des Grundsatzes der Mündlichkeit iVm dem Anspruch auf rechtliches Gehör - Einverständniserklärung gem § 124 Abs 2 SGG - wesentliche Änderung der Prozesslage - Antrag auf Anordnung des Ruhens des Verfahrens - gerichtliches Ermessen - gebundene Entscheidung - Zweckmäßigkeitsprüfung)


Tenor

Auf die Beschwerde des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 24. April 2015 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die Beteiligten streiten um die Höhe einer Verletztenrente (Bescheid vom 9.11.2009 und Widerspruchsbescheid vom [X.]). Das [X.] hat die Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 16.9.2014). Im Berufungsverfahren haben sich die Beteiligten am 17.4.2015 im Termin zur Erörterung des Sachverhalts mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs 2 [X.]G einverstanden erklärt. Mit am 20.4.2015 beim L[X.] per Telefax eingegangenem Schriftsatz hat der Prozessbevollmächtigte des [X.] die Anordnung des Ruhen des Verfahrens beantragt, weil Prof. Dr. S. mit der Erstellung eines Gutachtens zum Nachweis einer unfallbedingten posttraumatischen Belastungsstörung beauftragt worden sei, das im Juni 2015 vorgelegt würde. Vom Ergebnis des Gutachtens würde es abhängen, ob die Berufung fortgeführt oder zurückgenommen werde.

2

Am 24.4.2015 hat das L[X.] durch Urteil ohne mündliche Verhandlung die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es [X.] ausgeführt, der Senat habe wegen der Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden können. Der Antrag auf Anordnung des Ruhens des Verfahrens habe nicht zu einer die Unwirksamkeit der grundsätzlich unwiderruflichen Prozesserklärung bewirkenden neuen Prozesslage geführt. Das gerichtliche Ermessen für die [X.] sei erst mit einem beidseitigen [X.] eröffnet.

3

Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision rügt der Kläger als Verfahrensfehler [X.] die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und (sinngemäß) des [X.]. Das L[X.] hätte eine Stellungnahme der Beklagten zum [X.] einholen und diesem bei deren Zustimmung stattgeben müssen.

4

Der Kläger beantragt,
die Revision zuzulassen.

5

Die Beklagte hat sich nicht geäußert.

6

II. Die fristgerecht eingelegte und begründete Beschwerde ist auch im Übrigen zulässig. Die Beschwerdebegründung genügt den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G. Sie bezeichnet die Tatsachen, aus denen sich der Verfahrensmangel einer Verletzung des Grundsatzes der Mündlichkeit 124 Abs 1 und 2 [X.]G) iVm dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 [X.]G) ergibt. Die Beschwerdebegründung enthält auch hinreichende Ausführungen dazu, dass die angefochtene Entscheidung auf dem gerügten Verfahrensfehler beruhen kann.

7

Die Beschwerde ist auch begründet. Das angegriffene Urteil des [X.] ist verfahrensfehlerhaft ergangen, weil das L[X.] nicht ohne mündliche Verhandlung hätte entscheiden dürfen. Infolgedessen können die vom Kläger außerdem erhobenen [X.] dahingestellt bleiben.

8

Das Gericht entscheidet nach § 124 Abs 1 [X.]G, soweit nichts anderes bestimmt ist, aufgrund mündlicher Verhandlung. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz der Mündlichkeit enthält § 124 Abs 2 [X.]G. Danach kann das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden. Eine Einverständniserklärung iS dieser Vorschrift, die das Gericht im Zeitpunkt seiner Entscheidungsfindung von Amts wegen zu prüfen hat, verliert allerdings ihre Wirksamkeit, wenn sich nach ihrer Abgabe die bisherige Tatsachen- oder Rechtsgrundlage und damit die Prozesssit[X.]tion wesentlich geändert hat (B[X.] vom 7.4.2011 - B 9 SB 45/10 B - juris Rd[X.]4). Das war hier im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung am 24.4.2015 der Fall.

9

Mit dem am 20.4.2015 gestellten Antrag, das Ruhen des Verfahrens anzuordnen, ist eine wesentliche Änderung in der bisherigen Prozesslage eingetreten. Denn nach § 202 [X.]G iVm § 251 Satz 1 ZPO (zur Anwendbarkeit in sozialgerichtlichen Verfahren B[X.] vom [X.] - [X.] 1750 § 251 [X.]) hat das Gericht das Ruhen des Verfahrens anzuordnen, wenn beide Parteien dies beantragen und anzunehmen ist, dass wegen Schwebens von Vergleichsverhandlungen oder aus sonstigen wichtigen Gründen diese Anordnung zweckmäßig ist. Auch unter Berücksichtigung der allgemeinen Prozessförderungspflicht (vgl B[X.] vom 10.12.2013 - B 13 R 63/11 R - juris Rd[X.]2 mwN) erscheint die Anordnung des Ruhens des Verfahrens wegen der Beauftragung von Prof. Dr. S. vor dem Hintergrund, dass eine posttraumatische Belastungsstörung von [X.] in seinem Gutachten vom 28.5.2014 nicht bestätigt, von der [X.] in ihrem Gutachten vom 13.7.2014 hingegen angenommen und auf den Arbeitsunfall vom 27.8.1979 zurückgeführt worden ist, zweckmäßig. Das L[X.] ist ebenfalls nicht von einer unzweckmäßigen [X.] ausgegangen, sondern hat darauf abgestellt, dass das gerichtliche Ermessen für die [X.] erst bei beidseitigem [X.] eröffnet wäre. Es hat allerdings den [X.] nicht an die Beklagte zur evtl Zustimmung weitergeleitet und damit den Beteiligten nicht die Möglichkeit eingeräumt, die prozessrechtlichen Grundlagen für eine [X.] zu schaffen. Liegen die Voraussetzungen für eine [X.] vor, steht diese jedoch nicht im Ermessen des Gerichts. Das Gericht "hat" das Ruhen des Verfahrens anzuordnen, wenn es zweckmäßig und übereinstimmend beantragt worden ist, sodass es sich hierbei um eine gebundene Entscheidung handelt ([X.] vom 8.3.2011 - [X.] - juris RdNr 7). Lediglich die Prüfung der Zweckmäßigkeit eröffnet einen Einschätzungsspielraum (vgl BFH vom [X.] - [X.]/08 - juris Rd[X.]). Wird die Zweckmäßigkeit angenommen, ist daher der Antrag eines [X.] auf Anordnung des Ruhens des Verfahrens der Beklagten zur evtl Zustimmung zum Zwecke der in diesem Fall gebotenen [X.] vorzulegen.

Eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren, für die keine wirksame Einverständniserklärung nach § 124 Abs 2 [X.]G vorliegt, verletzt regelmäßig zugleich den Anspruch des Beteiligten auf rechtliches Gehör (B[X.] vom 12.4.2005 - B 2 U 135/04 B - [X.] 4-1500 § 124 [X.] Rd[X.]2). Gerade die in Art 6 Abs 1 der [X.] grundsätzlich vorgeschriebene mündliche Verhandlung bietet eine besondere Gewähr zur Wahrung des rechtlichen Gehörs.

Das angefochtene Urteil kann auf dem Verfahrensfehler beruhen. Es ist nicht auszuschließen, dass es im Falle der [X.] nach Eingang des von Prof. Dr. S. erstellten Gutachtens vom 5.6.2015 zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis gekommen wäre.

Liegen - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G vor, kann das B[X.] auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurückverweisen (§ 160a Abs 5 [X.]G). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.

Das L[X.] wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 2 U 132/15 B

17.12.2015

Bundessozialgericht 2. Senat

Beschluss

Sachgebiet: U

vorgehend SG Heilbronn, 16. September 2014, Az: S 7 U 2833/10

§ 124 Abs 1 SGG, § 124 Abs 2 SGG, § 202 SGG, § 251 S 1 ZPO, Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG, § 160a Abs 5 SGG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 17.12.2015, Az. B 2 U 132/15 B (REWIS RS 2015, 429)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2015, 429

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