Bundessozialgericht, Urteil vom 10.03.2022, Az. B 1 KR 35/20 R

1. Senat | REWIS RS 2022, 2350

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Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 23. Juli 2019 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 6174,49 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über die Vergütung stationärer Krankenhausbehandlung.

2

Die Klägerin ist Trägerin eines nach § 108 [X.] zugelassenen Krankenhauses. Sie behandelte einen bei der beklagten Krankenkasse Versicherten vollstationär vom 19.1. bis 1.2.2011 wegen eines generalisierten epileptischen Anfalls mit Verdacht auf [X.]. In der [X.] (23:10 Uhr) bis 1.2. (15:00 Uhr) wurde er bei klinischem Bild einer Sepsis mit Tachypnoe und peripherem Kreislaufversagen intensivmedizinisch versorgt und zur Stabilisierung der Atmungs- und Kreislaufsituation über das Maskensystem [X.] 4 intermittierend nicht invasiv beatmet ([X.]). Das Maskensystem unterstützte die Atmung des Versicherten kalendertäglich jeweils mehr als sechs Stunden. Die reine Beatmungszeit betrug 77 Stunden. In den Spontanatmungsphasen kam [X.] zum Einsatz. Die Klägerin berechnete die Fallpauschale (Diagnosis Related Group 2011 ) [X.] (Beatmung > 95 und < 250 Stunden ohne komplexe oder bestimmte [X.], ohne intensivmedizinische Komplexbehandlung > 552 Punkte, ohne kompliz. Konstellation, Alter > 15 Jahre, oder verstorben oder verlegt < 9 Tage, ohne kompl. Diagnose, ohne kompl. Prozedur) und erhielt hierfür 10 685,48 Euro. Die Beklagte forderte später vergeblich 6174,49 Euro auf der Grundlage mehrerer Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung zurück. Abzurechnen sei die geringer vergütete [X.] (Anfälle, mehr als ein Belegungstag, ohne komplexe Diagnostik und Therapie, mit [X.]. [X.], Alter < 3 Jahre oder mit komplexer Diagnose oder mit äußerst [X.]. [X.], Alter > 15 Jahre oder ohne äußerst [X.]. oder [X.]. [X.], mit [X.], mit kompl. Diagnose). Die Beklagte kürzte in dieser Höhe unstreitige Rechnungsbeträge für die Vergütung der Behandlung anderer Versicherter. Das [X.] hat die Beklagte - ua nach Einholung eines anästhesiologischen Gutachtens - verurteilt, der Klägerin 6174,49 Euro nebst Zinsen zu zahlen (Urteil vom 6.8.2015). Das L[X.] hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen: Die [X.] Intervalle seien zur Beatmungszeit hinzuzurechnen, die damit über 95 Stunden betrage. Dies folge aus einer strengen Wortlautauslegung der [X.] ([X.]) für 2011: Die Beatmung ende nach einer Periode der Entwöhnung. Das Ende der Entwöhnung könne nur retrospektiv nach Eintreten einer stabilen respiratorischen Situation festgestellt werden; als Zeitraum einer vollständigen Spontanatmung ohne maschinelle Unterstützung würden für Patienten, die (inklusive Entwöhnung) bis zu sieben Tage beatmet würden, 24 Stunden definiert. Weitere Anforderungen, etwa, dass eine Entwöhnung die vorherige Gewöhnung an das Atemgerät voraussetze, könnten den [X.] nicht entnommen werden (Urteil vom 15.11.2016).

3

Der erkennende Senat hat das L[X.]-Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das L[X.] zurückverwiesen: Die für die Kodierung von Spontanatmungsstunden als Beatmungsstunden erforderliche Entwöhnung setze eine vorherige Gewöhnung des Patienten an die maschinelle Beatmung und den Einsatz einer Methode der Entwöhnung voraus. Hierzu habe das L[X.] noch weitere Feststellungen zu treffen (Urteil vom 19.12.2017 - B 1 KR 18/17 R - [X.] 4-5562 § 9 [X.] 8). Das L[X.] hat im wiedereröffneten Berufungsverfahren nach Einholung eines Sachverständigengutachtens bei Prof. Dr. B., Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik V, Klinikum der [X.] und Vorlage weiterer Gutachten durch die Beteiligten das [X.]-Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen: Nach der B[X.]-Rechtsprechung sei der Begriff der Entwöhnung im Sinne der [X.] 1001h enger zu verstehen als der in der medizinischen Fachsprache anzutreffende Begriff des sog Weaning. Er setze einschränkend voraus, dass die eigene Spontanatmung des Patienten nicht alleine aufgrund der behandelten Erkrankung beeinträchtigt, sondern gerade auch durch eine Adaption des Patienten an das Beatmungsgerät eingeschränkt werde, etwa weil die Atemmuskulatur infolge der maschinellen Beatmung an Leistungskraft verloren habe, Lungengewebe durch den [X.] zerstört oder die [X.] gestört worden sei. Denkbar sei ebenfalls, dass sich ein von Geburt an beatmeter Säugling an die maschinelle Beatmung gewöhnt habe, weil er bislang zu keinem Zeitpunkt spontan geatmet habe. Unter Beachtung dieser Vorgaben lasse sich eine "Gewöhnung" des Versicherten an die Beatmung in dem dargestellten Sinn nicht feststellen. Der Senat folge dem Gutachten von Prof. Dr. B. insoweit nicht, denn dieser begründe die von ihm ab dem 27.1.2011 - 23:20 Uhr angenommene Gewöhnung des Versicherten an die maschinelle Beatmung mit der durch den Beginn der maschinellen Beatmung belegten Abhängigkeit vom [X.]. [X.] sich eine Gewöhnung nicht feststellen, liege nach der B[X.]-Rechtsprechung keine Entwöhnung vor und die [X.] Intervalle könnten zur Gesamtdauer der Beatmungszeit nicht hinzugerechnet werden. Insoweit komme es auch nicht mehr entscheidend darauf an, dass vorliegend anhand der Aufzeichnungen in der Patientenakte nicht feststellbar sei, ob der Versicherte zielgerichtet mit einer Methode der Entwöhnung behandelt worden sei. Auch die fehlende Dokumentation einer zielgerichteten Entwöhnung, für die das Krankenhaus die Beweislast trage, stehe der Hinzurechnung der [X.] Intervalle zur Gesamtbeatmungszeit entgegen (Urteil vom 23.7.2019).

4

Die Klägerin rügt mit ihrer Revision die Verletzung von § 109 Abs 4 Satz 3 [X.] iVm § 17b des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, § 1 Abs 1, § 7 Abs 1 Satz 1 [X.] 1, § 9 Abs 1 [X.] 1 und 3 des Krankenhausentgeltgesetzes und den Regelungen der [X.] zur Berechnung der Beatmungsdauer: Das L[X.] habe den Begriff der Entwöhnung im Sinne der [X.] unzutreffend und abweichend von der Rechtsprechung des erkennenden Senats angewandt.

5

Die Klägerin beantragt,

        

das Urteil des [X.]s Baden-Württemberg vom 23. Juli 2019 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des [X.] vom 6. August 2015 zurückzuweisen,

        

hilfsweise,

        

das Urteil des [X.]s Baden-Württemberg vom 23. Juli 2019 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen.

6

Die Beklagte beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

7

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Entscheidungsgründe

8

Die zulässige Revision des klagenden Krankenhauses ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das [X.] hat den Vergütungsanspruch des Krankenhauses verneint, da weder die für die Kodierung der abgerechneten Beatmungsstunden erforderliche Gewöhnung des Versicherten an die maschinelle Beatmung, noch der Einsatz einer Methode der Entwöhnung habe nachgewiesen werden können. Es ist hierbei davon ausgegangen, der Begriff der Entwöhnung iS der [X.] setze nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats über den medizinischen Sprachgebrauch in Bezug auf das sog Weaning hinaus einschränkend voraus, dass die eigene Spontanatmung des Patienten nicht alleine aufgrund der behandelten Erkrankung beeinträchtigt, sondern gerade auch durch eine Adaption des Patienten an das Beatmungsgerät eingeschränkt worden sei, etwa weil die Atemmuskulatur infolge der maschinellen Beatmung an Leistungskraft verloren habe, Lungengewebe durch den [X.] zerstört oder die [X.] gestört worden sei. Es ist weiter davon ausgegangen, dass auch die fehlende Dokumentation einer zielgerichteten Entwöhnung der Hinzurechnung der [X.] Intervalle zur Gesamtbeatmungszeit entgegenstehe.

9

Dies hält einer revisionsgerichtlichen Überprüfung nicht stand:

        

Entwöhnung iS der [X.] ist ein methodisch geleitetes Vorgehen zur Beseitigung der erheblichen Einschränkung oder des Verlustes der Fähigkeit, über einen längeren Zeitraum vollständig und ohne maschinelle Unterstützung spontan atmen zu können ([X.] vom 17.12.2020 - [X.] KR 13/20 R - juris Rd[X.]6). Der intensivmedizinisch versorgte Patient ([X.] vom [X.] - [X.] KR 19/19 R - [X.] 4-5562 § 9 [X.] Rd[X.]8) muss vom Beatmungsgerät durch den Einsatz einer Methode der Entwöhnung entwöhnt worden sein, weil zuvor eine Gewöhnung an die maschinelle Beatmung eingetreten war ([X.] vom 19.12.2017 - [X.] KR 18/17 R - [X.] 4-5562 § 9 [X.] Rd[X.]6; BSG vom 30.7.2019 - [X.] KR 13/18 R - [X.] 4-5562 § 9 [X.] RdNr 25; BSG vom 17.12.2020 - [X.] KR 13/20 R - juris Rd[X.]7).

1. Vor dem Hintergrund der an dem Begriff der "Gewöhnung" geübten Kritik hat der erkennende Senat zwischenzeitlich - nach der angefochtenen Entscheidung des [X.] - klargestellt, dass die "Gewöhnung an die maschinelle Beatmung" als Voraussetzung für eine Entwöhnung vom Beatmungsgerät im Sinne der [X.] lediglich "die erhebliche Einschränkung oder den Verlust der Fähigkeit erfordert, über einen längeren Zeitraum vollständig und ohne maschinelle Unterstützung spontan atmen zu können" ([X.] vom 17.12.2020 - [X.] KR 13/20 R - juris Rd[X.]9; vgl auch schon BSG vom 19.12.2017 - [X.] KR 18/17 R - [X.] 4-5562 § 9 [X.] Rd[X.]6). Hierfür genügt weder, dass die Beatmung als solche medizinisch notwendig ist, noch sind weitere Voraussetzungen zu erfüllen, etwa eine Adaption des Patienten an den [X.] oder eine beatmungsbedingte Schwächung der Atemmuskulatur (vgl hierzu im Einzelnen BSG vom 17.12.2020, aaO, Rd[X.]7 ff mwN).

Das [X.] muss daher im wiedereröffneten Berufungsverfahren feststellen, ob und ggf wann eine Gewöhnung (iS von Abhängigkeit) an den [X.] nach diesen Grundsätzen eingetreten ist und wie lange sie ggf angedauert hat. Hierzu genügt nicht die Feststellung, dass die Beatmung medizinisch notwendig war. Vielmehr ist die Feststellung erforderlich, dass der Patient während der Spontanatmungsphasen in seiner Fähigkeit eingeschränkt war, über einen längeren Zeitraum vollständig und ohne maschinelle Unterstützung spontan atmen zu können. Es richtet sich nach den medizinischen Umständen des Einzelfalls, ob eine stabile respiratorische Situation vorlag, oder eine Entwöhnung von maschineller Beatmung pulmologisch erforderlich war.

2. Weitere Voraussetzung der [X.] neben der Gewöhnung in dem vorbeschriebenen Sinne ist die Anwendung einer Methode der Entwöhnung, dh ein methodisch geleitetes Vorgehen zur Beseitigung der Abhängigkeit von der maschinellen Beatmung. Es genügt hierfür nicht, dass ein Patient aus anderen Gründen - etwa wegen einer noch nicht hinreichend antibiotisch beherrschten Sepsis - nach Intervallen mit Spontanatmung wieder maschinelle nicht-invasive Beatmung erhält. Auch insoweit fehlen ausreichende Feststellungen des [X.]. Es hat vielmehr lediglich festgestellt, dass eine zielgerichtete Entwöhnung des Versicherten nicht dokumentiert sei. Indes ist die den Tatsachengerichten obliegende Amtsermittlungspflicht (§ 103 SGG) in [X.] nicht auf die Auswertung der Patientendokumentation beschränkt. Insofern ist zur Feststellung, dass tatsächlich eine Methode der Entwöhnung angewandt wurde, zwar zunächst auf die Dokumentation des Krankenhauses zurückzugreifen (vgl zur sozialrechtlichen Dokumentationspflicht [X.] [X.] KR 33/18 R - [X.] 4-2500 § 109 [X.] Rd[X.]6 ff mwN; zur Amtsermittlungspflicht [X.] vom 18.12.2018 - [X.] KR 40/17 R - [X.] 4-7645 Art 9 [X.] RdNr 22; zur Vereinbarkeit der gerichtlichen Sachverhaltsaufklärung mit den datenschutzrechtlichen Vorgaben [X.] vom 19.12.2017 - [X.] KR 19/17 R - [X.], 91 = [X.] 4-1500 § 120 [X.], Rd[X.] ff). Ihr Beweiswert ist hierbei jeweils im Einzelfall tatrichterlich zu bewerten, ggf unter Heranziehung sachverständiger Hilfe oder Rückgriff auf bereits vorliegende Sachverständigengutachten. Verbleiben danach aber Zweifel an Rechtserheblichem, muss das Gericht den Sachverhalt ergänzend aufklären, etwa durch Vernehmung der behandelnden Ärzte und der behandelten Versicherten (vgl [X.] [X.] KR 33/18 R - [X.] 4-2500 § 109 [X.] Rd[X.]9). Lässt sich nach Ausschöpfen der gebotenen Aufklärung nicht feststellen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen der abgerechneten Fallpauschale erfüllt gewesen sind, trägt das Krankenhaus die objektive Beweislast für das Vorliegen dieser tatbestandlichen Voraussetzungen (vgl dazu [X.] vom 14.10.2014 - [X.] KR 27/13 R - [X.], 82 = [X.] 4-2500 § 109 [X.], Rd[X.]7 f).

Das [X.] muss daher unter Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden Beweismittel weiter feststellen, ob das Krankenhaus eine Methode der Entwöhnung tatsächlich eingesetzt hat und die kodierten Spontanatmungsstunden in die Periode der Entwöhnung im dargelegten Sinn fielen.

3. Die Kostenentscheidung bleibt dem [X.] vorbehalten.

4. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 SGG iVm § 63 Abs 2, § 52 Abs 1 und 3, § 47 Abs 1 GKG.

                 Schlegel                 [X.]

Meta

B 1 KR 35/20 R

10.03.2022

Bundessozialgericht 1. Senat

Urteil

Sachgebiet: KR

vorgehend SG Ulm, 6. August 2015, Az: S 13 KR 3667/13, Urteil

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 10.03.2022, Az. B 1 KR 35/20 R (REWIS RS 2022, 2350)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 2350

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