Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 29.05.2012, Az. 1 BvR 640/11

1. Senat 1. Kammer | REWIS RS 2012, 6004

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Durchbrechung der Bestandskraft bei unionsrechtswidrigen Steuerbescheiden - hier: keine Verletzung von Art 101 Abs 1 S 2 GG durch Unterlassen eines Vorabentscheidungsersuchens durch den BFH an den EuGH dem Art 267 Abs 3 AEUV


Gründe

1

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, da kein Annahmegrund (§ 93a Abs. 2 [X.]) vorliegt. Ihr kommt weder grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu noch ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 [X.] genannten Rechte angezeigt. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass der [X.] seine Vorlagepflicht nach [ref=b906ff55-666f-4fa6-aa84-[X.]. 267 Abs. 3 [X.]] in einer Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzenden Weise gehandhabt hätte.

2

1. Der [X.] ist [X.] im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Das nationale Gericht ist unter den Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 3 A[X.] von Amts wegen gehalten, den [X.] anzurufen. Das [X.] überprüft allerdings nur, ob die Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsregel des Art. 267 Abs. 3 A[X.] bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (vgl. [X.] 82, 159 <194 ff.>; 126, 286 <315 ff.>).

3

Die Vorlagepflicht wird insbesondere in den Fällen offensichtlich unhaltbar gehandhabt, in denen ein letztinstanzliches Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der - seiner Auffassung nach bestehenden - Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hegt (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht), oder in denen das letztinstanzliche Hauptsachegericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des [X.]s zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt (bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft). Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs noch nicht vor oder hat eine vorliegende Rechtsprechung die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit, so wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nur dann verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (Unvollständigkeit der Rechtsprechung; vgl. [X.] 82, 159 <195 f.>; 126, 286 <316 f.>). Dabei kommt es für die Prüfung einer Verletzung von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht in erster Linie auf die Vertretbarkeit der fachgerichtlichen Auslegung des für den Streitfall maßgeblichen materiellen Unionsrechts an, sondern auf die Vertretbarkeit der Handhabung der Vorlagepflicht nach [[X.]-2710-4335-b97e-35afdf338c26]Art. 267 Abs. 3 [X.]] ([X.], Beschluss vom 19. Juli 2011 - 1 BvR 1916/09 -, NJW 2011, S. 3428 <3433 f.> m.w.N.).

4

2. Gemessen an diesen Grundsätzen liegt keine verfassungsgerichtlich zu beanstandende Entziehung des gesetzlichen Richters vor. Der [X.] hat die Beschwerdeführerin vor der Beschlussfassung über den angegriffenen Beschluss gemäß [ref=cca0f10b-f742-4f61-b56c-0624ebf7e7eb]§ 126a FGO[/ref] unterrichtet und insbesondere auf sein Urteil vom 16. September 2010 - [X.]/09 - ([X.], 504) hingewiesen. In diesem Urteil hatte sich der [X.] mit den Rechtsfragen zur Durchbrechung der Bestandskraft bei unionsrechtswidrigen Steuerbescheiden eingehend auseinandergesetzt und hierbei den Beschluss der [X.] des Zweiten Senats des [X.]s vom 4. September 2008 - 2 BvR 1321/07 - ([X.]K 14, 217) vertretbar gewürdigt.

5

Auch wenn man mit der [X.] des Zweiten Senats davon ausgeht, dass der [X.] die Fragen zur Durchbrechung der Bestandskraft unionsrechtswidriger belastender Verwaltungsakte (hier konkret: Steuerbescheide) bisher noch nicht erschöpfend beantwortet hat, ist nicht erkennbar, dass der [X.] den ihm zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat. Das gilt insbesondere für die Annahme, dass die Behörde nach nationalem Recht befugt sein müsse, den sich im nachhinein als unionsrechtswidrig erweisenden Hoheitsakt zurückzunehmen. Aus dem Beschluss der [X.] des Zweiten Senats, in welchem die Vertretbarkeit der damaligen Auffassung des [X.]s in gleicher Weise ausdrücklich bejaht und näher begründet wurde ([X.]K 14, 217 <221>), ist keine verfassungsrechtliche Pflicht des [X.]s zur Vorlage an den [X.] abzuleiten. Auch vor dem Hintergrund der seitherigen Entwicklung der Rechtsprechung des [X.]s verbleibt die Auffassung des [X.]s vielmehr innerhalb seines Beurteilungsrahmens (im Ergebnis ebenso Gräber/Levedag, FGO, 7. Auflage 2010, Anhang, Rn. 107 ff.; [X.], in: [X.]/[X.], [X.]/A[X.], 4. Auflage 2011, Art. 4 [X.], Rn. 74; [X.], in: Rau/Dürrwächter, UStG, Vorbemerkung, Rn. 659 ff.; [X.]/[X.], NJW 2010, S. 3745 <3750>; vgl. ferner Hummel, [X.], S. 832 und [X.], [X.], S. 1669 <1671>).

6

3. Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

7

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

1 BvR 640/11

29.05.2012

Bundesverfassungsgericht 1. Senat 1. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend BFH, 31. Januar 2011, Az: XI R 11/10, Beschluss

Art 101 Abs 1 S 2 GG, Art 267 Abs 3 AEUV

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 29.05.2012, Az. 1 BvR 640/11 (REWIS RS 2012, 6004)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 6004

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

1 BvR 2870/10 (Bundesverfassungsgericht)

Nichtannahmebeschluss: Altersgrenze von 70 Jahren für Notare (§§ 47 Nr 1, 48a BNotO) als zulässige …


1 BvR 1305/13 (Bundesverfassungsgericht)

Nichtannahmebeschluss: Zu den Voraussetzungen einer ggf gegen Art 101 Abs 1 S 2 GG verstoßenden …


2 BvR 63/15 (Bundesverfassungsgericht)

Nichtannahmebeschluss: Keine Verletzung von Art 101 Abs 1 S 2 GG durch Nichtvorlage der Frage, …


1 BvR 3280/14 (Bundesverfassungsgericht)

Nichtannahmebeschluss: Verletzung von Art 101 Abs 1 S 2 GG durch Verkennung der Vorlagepflicht nach …


1 BvR 121/11, 1 BvR 1295/11 (Bundesverfassungsgericht)

Teilweise stattgebender Kammerbeschluss: Unvertretbare Handhabung der Vorlagepflicht an den EuGH (Art 267 Abs 3 AEUV) …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

1 BvR 1916/09

V R 57/09

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.