Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 17.10.2000, Az. 1 StR 261/00

1. Strafsenat | REWIS RS 2000, 867

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[X.] DES VOLKESURTEIL1 StR 261/00vom17. Oktober 2000in der [X.] versuchten Totschlags- 2 -Der 1. Strafsenat des [X.] hat in der Sitzung vom 17. [X.], an der teilgenommen haben:[X.] am [X.]. [X.] [X.] am [X.]. Wahl,[X.],[X.],[X.],[X.]als Vertreter der [X.],Rechtsanwalt als Verteidiger,Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,für Recht erkannt:- 3 -Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des [X.] vom 1. Februar 2000 wird verworfen.Die Kosten der Revision und die dem Angeklagten durch diesesRechtsmittel entstandenen notwendigen Auslagen trägt [X.].Von Rechts wegenGründe:Die [X.] hat den zur Tatzeit 19 Jahre und einen Monat altenAngeklagten wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Kör-perverletzung sowie einer (weiteren) gefährlichen Körperverletzung zu einerJugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt.Hiergegen richtet sich die auf den Strafausspruch beschränkte [X.] Staatsanwaltschaft zum Nachteil des Angeklagten. Mit ihrem allein auf [X.] gestützten Rechtsmittel macht die Staatsanwaltschaft geltend, die[X.] habe zu Unrecht Jugendrecht angewandt.Das vom [X.] nicht vertretene Rechtsmittel bleibt er-folglos.1. Dem abgeurteilten Geschehen liegen wiederholte, immer wieder auf-flackernde und eskalierende tätliche Auseinandersetzungen zwischen je einerGruppe aus [X.] einerseits und Wasserburg andererseits anläßlich [X.] 4 -"Zeltdisco" in [X.], dem Wohnort des Angeklagten, zu Grunde. Die [X.] überwiegend Jugendliche und Heranwachsende. Das gesamte [X.], bei dem auch Flaschen, Steine und Gaspistolen verwendet wurden, zogsich über mehrere Stunden hin.Zunächst hatte der Angeklagte immer wieder - letztlich vergeblich - ver-sucht zu schlichten oder zumindest größere Auseinandersetzungen zu [X.]. Er führte sich als "Chef" der [X.]er auf und wollte z.B. "die Sache" mitdem "Chef" der [X.] im Zweikampf "ausmachen", jedoch war hierzukein [X.] bereit. Zuletzt griff der Angeklagte selbst aggressiv in dasGeschehen ein. So trat er den zur [X.] Gruppe gehörenden [X.], der zu Boden gegangen war, mit zwei oder drei anderen gegen [X.], wodurch [X.] eine Gehirnerschütterung erlitt. Seine Aggression stei-gerte sich weiter, als gegenüber ihm und seinem jüngeren Bruder Rufe wie"[X.]" laut wurden. Als der Bruder des Angeklagten auch noch [X.] Flasche am Kopf getroffen wurde, "sprang der Angeklagte in die Gruppeder [X.] und schlug um sich". Es kam zu einer erneuten "Massen-schlägerei". Der Angeklagte verfolgte dabei letztlich den flüchtenden Wasser-burger [X.], der ihn unmittelbar zuvor zu Boden geworfen hatte. Aus [X.] über das ganze Geschehen stach der Angeklagte dreimal mit einemMesser auf [X.]ein, wobei er jedenfalls bei dem dritten Stich, der [X.] verletzte, mit der Möglichkeit eines tödlichen Ausgangs rech-nete und dies billigte. Als er sich schließlich entfernte, ging er davon aus, "dashierfür Erforderliche getan zu haben". [X.]konnte nur dank ärztlicher Hilfegerettet [X.] 5 -2. [X.] begründet die [X.] wiefolgt:Weder der Lebenslauf des Angeklagten - nach [X.] erlernte er ebenso problemlos den Beruf eines Maurers, den er seitherununterbrochen ausübt; familiäre oder sonstige private Probleme sind nichtersichtlich - noch seine Persönlichkeit ergäben Anhaltspunkte für Entwick-lungsdefizite oder Reiferückstände. Dies habe sich auch im Rahmen der Über-prüfung der Schuldfähigkeit des Angeklagten durch einen Psychiater und einenPsychologen bestätigt. Jedoch zeige das gesamte Tatgeschehen mit einer"sich entwickelnden Gruppendynamik" jugendlichen Leichtsinn, Unüberlegtheitund [X.] Unreife. Insgesamt sei das Verhalten des Angeklagten von [X.] - zunächst schlichtete er, später wurde er aggressiv - sowie "Impo-niergehabe und Kraftmeierei" gekennzeichnet. Dies spreche trotz des "sonstordentlichen Werdegangs" sowohl für einen Entwicklungsrückstand (§ 105Abs. 1 Nr. 1 JGG) als auch für eine Jugendverfehlung (§ 105 Abs. 1 Nr. 2JGG).3. Die Staatsanwaltschaft trägt vor, schon der Ansatz der Jugendkam-mer sei rechtsfehlerhaft. Es sei in "strenge(r) Einzelbetrachtung" zu prüfen, obdie Voraussetzungen von § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG oder die von § 105 Abs. 1Nr. 2 JGG vorlägen. Darüber hinaus legt sie im einzelnen dar, warum keine derAlternativen von § 105 Abs. 1 JGG hätte bejaht werden dürfen. Hinsichtlich§ 105 Abs. 1 Nr. 2 JGG führt sie etwa aus, aus "fremden Tatbeiträgen (Grup-pendynamik, Massenschlägerei)" könne nicht auf eine jugendtypische Tat [X.] geschlossen werden. Im übrigen sei die festgestellte [X.] "auch bei Erwachsenen zu [X.] Im Ergebnis liegt kein Rechtsfehler vor:- 6 -a) Ein Heranwachsender ist einem Jugendlichen gleichzustellen (§ 105Abs. 1 Nr. 1 JGG), wenn in ihm noch in größerem Umfang Entwicklungskräftewirken ([X.], 26; [X.]St 36, 37). Eine Jugendverfehlung (§ 105Abs. 1 Nr. 2 JGG) liegt vor, wenn, unabhängig vom generellen Reifegrad [X.], die konkrete Tat auf jugendlichen Leichtsinn, Unüberlegtheit oder[X.] Unreife zurückgeht ([X.], 26, 27; [X.], 366). [X.] auch § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG persönlichkeitsorientiert und § 105 Abs. 1Nr. 2 JGG tatorientiert ist (Sonnen in [X.]/Schoreit/Sonnen JGG 3. Aufl.§ 105 Rdn. 23),und beide Alternativen daher - gleichbedeutend - nebeneinan-der stehen, können sich doch ihre tatsächlichen Voraussetzungen in erhebli-chem Umfang überschneiden ([X.] JGG 8. Aufl. § 105 Rdn. 2). So [X.] das Motiv einer Tat in gleicher Weise auf [X.] und [X.] hindeuten ([X.] [X.], 424).b) Die [X.] hat im Hinblick auf die Motive der Taten beide derin Rede stehenden Alternativen bejaht. Sie hat dabei nicht verkannt, daß imübrigen Reifeverzögerungen nicht erkennbar sind. Ob die Annahme, daßgleichwohl allein im Hinblick auf das Tatgeschehen (auch) die Voraussetzun-gen von § 105 Abs. 1 Nr. 1 JGG vorliegen, rechtlicher Überprüfung standhaltenkönnte, kann jedoch ebenso wie das hierauf bezogene Vorbringen der [X.] sich beruhen. Wie auch der [X.] zutreffend dargelegt hat,ist nämlich jedenfalls die Annahme einer Jugendverfehlung rechtlich nicht zubeanstanden:(1) Der Maßstab, von dem die [X.] bei der Prüfung einer Ju-gendverfehlung ausgegangen ist, trifft zu. Ob eine Tat Ausdruck von [X.]rUnreife ist, kann nicht ohne Würdigung des tatsächlichen ([X.]n) Rahmensbeurteilt werden, in dem sich die Tat ereignet hat. Die Auffassung der Be-- 7 -schwerdeführerin, fremdes Verhalten (Gruppendynamik, Massenschlägerei)könne keine Schlüsse darauf zulassen, ob beim Angeklagten eine Jugendver-fehlung vorliege, geht daher fehl. Vielmehr können gerade die genannten Um-stände in besonderer Weise auf das Vorliegen einer Jugendverfehlung hinwei-sen (vgl. [X.] b. [X.] NStZ 1991, 524 und [X.], 530).Auch der in tatsächlicher Hinsicht zutreffende Hinweis der Beschwerdeführerin,Verhaltensweisen wie die des Angeklagten kämen auch bei Tätern über21 Jahren vor, zeigt nicht auf, daß der [X.] im Ansatz ein Rechts-fehler unterlaufen wäre. Daß Straftaten wie die abzuurteilende auch von [X.] 21 Jahren begangen werden können, schließt die Annahme einer Ju-gendverfehlung nicht aus (vgl. auch [X.], 477 f.; [X.]/[X.]. § 105 Rdn. 14 jew. m.w.[X.]). Dies bezieht sich [X.] nur auf das abstrakte Delikt - Delikte, die schon als solche ausschließlichvon Tätern unter 21 Jahren begangen würden, gibt es nicht - sondern auf diekonkreten Umstände, die Motive und das Erscheinungsbild der Tat.(2) Nicht nur der Ansatz der [X.], sondern auch ihre konkre-ten Erwägungen halten rechtlicher Überprüfung stand. So deutet etwa der [X.] des Angeklagten, "die Sache" im Zweikampf mit dem "Chef" der Wasser-burger "auszumachen", offenbar auf unreifes Imponiergehabe hin. Das [X.] und inkonsequente Verhalten des Angeklagten, der zunächst immer wiederzu schlichten versucht hatte, dann aber aggressiv wurde, nachdem er und seinBruder beleidigt worden waren und der Bruder von einer Flasche getroffenworden war, spricht nicht für Reife und Abgeklärtheit. Insgesamt ist [X.] ersichtlich, daß die [X.] den bei der Prüfung von § 105 Abs. 1Nr. 2 JGG bestehenden weiten tatrichterlichen Beurteilungsspielraum (vgl.[X.], 26, 27; [X.], 424) überschritten [X.]) Auch sonst hat die Überprüfung des Strafausspruches weder zu [X.] noch zu Lasten (§ 301 StPO) des Angeklagten einen Rechtsfehler erge-ben.[X.] Boetticher [X.] [X.]

Meta

1 StR 261/00

17.10.2000

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Sachgebiet: StR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 17.10.2000, Az. 1 StR 261/00 (REWIS RS 2000, 867)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2000, 867

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