Bundesgerichtshof, Urteil vom 20.05.2014, Az. 1 StR 610/13

1. Strafsenat | REWIS RS 2014, 5421

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Jugendstrafverfahren wegen Körperverletzung mit Todesfolge: Anwendung von Erwachsenenstrafrecht bei einem Heranwachsenden


Tenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des [X.] vom 31. Juli 2013 wird verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die den [X.] im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Von Rechts wegen

Gründe

1

Das [X.] hat den zur Tatzeit heranwachsenden Angeklagten - die Tat ist zwei Tage vor seinem 19. [X.]burtstag begangen - wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten bleibt ohne Erfolg.

I.

2

Nach den Feststellungen erwartete der Angeklagte zusammen mit zwei Bekannten den [X.]schädigten         [X.].     am 8. Juni 2012 gegen 22.15 Uhr auf dem Bahnsteig des Bahnhofs in [X.]          . Grund dafür waren einerseits der Umstand, dass die vom Angeklagten zu einer Feier eingeladene     S.      sich lieber mit dem [X.]schädigten treffen als der Einladung des Angeklagten folgen wollte, andererseits eine einige Tage zuvor zwischen dem Angeklagten und dem [X.]schädigten stattgefundene Auseinandersetzung. Nachdem es zunächst zu einer verbalen Auseinandersetzung zwischen dem Angeklagten und       [X.].    , dann zu einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen dem [X.]schädigten und einem der Begleiter des Angeklagten gekommen war, welche aber ohne Folgen blieb, begann der Angeklagte anschließend den [X.]schädigten mehrfach zu schubsen. Schließlich versetzte er ihm einen Kopfstoß ins [X.]sicht; danach holte er mit der rechten Hand aus und versetzte       [X.].     einen heftigen Faustschlag an die linke Halsseite.

3

Der Faustschlag hatte zur Folge, dass der [X.]schädigte auf dem Bahnsteig bewusstlos zusammenbrach und einen Herzkreislaufstillstand erlitt. Er verstarb schließlich an einem zentralen Regulationsversagen infolge einer schweren Sauerstoffmangelschädigung des [X.]hirns am 21. Juni 2012.

4

Nach den Feststellungen des [X.]richts wollte der Angeklagte den [X.]schädigten durch den Kopfstoß und den Faustschlag verletzen, wobei er allerdings hätte erkennen können und müssen, dass durch seinen Faustschlag schwere, gegebenenfalls auch tödliche Verletzungen hervorgerufen werden können.

5

Nach der Tat begab sich der Angeklagte, welcher bei einer um 23.28 Uhr entnommenen Blutprobe eine [X.] von 1,07 Promille aufwies, zunächst zurück zu der Feier, von der er zuvor aufgebrochen war, stellte sich dann aber kurze [X.] später der Polizei.

II.

6

Die Revision des Angeklagten hat keinen Erfolg.

7

1. Die Überprüfung des Urteils auf Grund der [X.] hat aus den Gründen der Antragsschrift des [X.]neralbundesanwalts zum Schuldspruch keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).

8

2. Die Begründung, mit der die [X.] zur Anwendung von Erwachsenenstrafrecht auf den Angeklagten gelangt ist, der zur Tatzeit knapp 19 Jahre alt und damit Heranwachsender war, weist keinen Rechtsfehler auf.

9

Sie hat die gemäß § 105 Abs. 1 Nr. 1 [X.] erforderliche [X.]samtwürdigung seiner Persönlichkeit und der Lebensverhältnisse, unter denen er aufgewachsen ist und vor und nach der Tat lebte, vorgenommen und festgestellt, dass er bereits zum [X.]punkt der Tat zu einer realistischen Lebensplanung in der Lage war und zugleich ernsthaft und motiviert seiner Ausbildung nachging. Weder ergebe die [X.]samtwürdigung der Persönlichkeit des Angeklagten, dass er zur [X.] der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung einem Jugendlichen gleichstand, noch handele es sich nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung entsprechend § 105 Abs. 1 [X.]. Auch handele es sich nicht um eine Spontantat; vielmehr habe der Angeklagte, der seit mehreren Tagen auf den [X.]schädigten wütend war, sich mit dem alleinigen Ziel zum Tatort begeben, diesen körperlich zu attackieren. Dabei habe es sich nicht um eine Verhaltensweise gehandelt, die Ausdruck jugendlicher Unreife sei, sondern die gleichermaßen bei Erwachsenen vorkomme.

Zutreffend ist die [X.] hierbei davon ausgegangen, dass es im Wesentlichen Tatfrage ist, ob ein Heranwachsender bei seiner Tat im Sinn des § 105 Abs. 1 Nr. 1 [X.] noch einem Jugendlichen gleichsteht, und dass der [X.] hierbei ein erheblicher Beurteilungsspielraum zusteht ([X.], Beschluss vom 14. August 2012 - 5 [X.]; Urteil vom 6. Dezember 1988 - 1 [X.], [X.]St 36, 37 f. mwN).

Den dabei anzulegenden Maßstab für die Reifebeurteilung nach § 105 Abs. 1 Nr. 1 [X.], ob der Heranwachsende zur [X.] der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand, hat die [X.] bei ihrer Entscheidung zutreffend angewendet. Entgegen dem Vorbringen der Revision und der Stellungnahme des [X.]neralbundesanwalts ergibt sich aus der angefochtenen Entscheidung nicht, dass die [X.] ihrer Beurteilung rechtsfehlerhaft den [X.]punkt der Hauptverhandlung statt den [X.]punkt der Tat zugrunde gelegt hat. Soweit die Kammer ausgeführt hat, der Angeklagte habe sich zum [X.]punkt der Tat im dritten Lehrjahr befunden, liegt offensichtlich ein Schreibversehen vor, zumal es vom [X.]punkt der Tat bis zum Beginn des dritten [X.] nur knapp drei Monate dauerte.

Die [X.] hat zutreffend darauf abgestellt, dass es für die Gleichstellung eines Heranwachsenden mit einem Jugendlichen im Sinne von § 105 Abs. 1 Nr. 1 [X.] nicht entscheidend ist, ob er das Bild eines noch nicht 18-jährigen bietet; vielmehr ist maßgebend, ob in dem Täter noch in größerem Umfang Entwicklungskräfte wirksam sind (st. Rspr.; vgl. [X.], Urteile vom 23. Oktober 1958 - 4 StR 327/58, [X.]St 12, 116, 118; vom 16. Januar 1968 - 1 [X.], [X.]St 22, 41, 42; vom 6. Dezember 1988 - 1 [X.], [X.]St 36, 37, 39; vom 20. Mai 2002 - 2 StR 2/02, [X.]R [X.] § 105 Abs. 1 Nr. 1 Entwicklungsstand 8). Dies hat die [X.] aufgrund einer ausführlichen [X.]samtwürdigung unter Einbeziehung der Umweltbedingungen für den Angeklagten im Ergebnis rechtsfehlerfrei verneint. Weiter hat sie festgestellt, dass er gegenüber seinen Eltern bereits eigenständig war und sein Freundeskreis nicht nur aus jüngeren, sondern auch aus älteren Personen bestand, wobei er zudem in der Lage war, eine feste Beziehung zu beginnen und aufrecht zu erhalten, weshalb sie den Angeklagten als eine zur Tatzeit bereits gereifte Persönlichkeit angesehen hat. Dass sie bei ihrer Beurteilung wesentliche [X.]sichtspunkte übersehen hätte, ist nicht ersichtlich. Der [X.] steht hier ein erheblicher Beurteilungsspielraum zu (vgl. [X.], Urteile vom 9. August 2001 - 1 [X.], [X.], 73, 75; vom 22. Dezember 1992 - 1 StR 586/92). Das vom Tatrichter rechtsfehlerfrei gefundene Ergebnis hat das Revisionsgericht hinzunehmen. Auch im Übrigen ist der Strafausspruch rechtsfehlerfrei.

Raum     

Wahl     

     Graf

Ri[X.] Prof. Dr. Mosbacher
ist im Urlaub und deshalb an
der Unterschriftsleistung
verhindert.

Jäger     

Raum

Meta

1 StR 610/13

20.05.2014

Bundesgerichtshof 1. Strafsenat

Urteil

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Coburg, 31. Juli 2013, Az: Ks 303 Js 4709/12

§ 105 Abs 1 Nr 1 JGG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Urteil vom 20.05.2014, Az. 1 StR 610/13 (REWIS RS 2014, 5421)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2014, 5421

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

1 StR 610/13 (Bundesgerichtshof)


3 StR 490/20 (Bundesgerichtshof)

Strafsache: Berücksichtigung des Entwicklungsstandes bei der Anwendung von Jugendstrafrecht auf Heranwachsende


3 StR 481/22 (Bundesgerichtshof)

Anforderungen an Darlegungen im Urteil bei Verurteilung zu Jugendstrafe wegen Schwere der Schuld


5 StR 285/22 (Bundesgerichtshof)

Anwendung von Jugendstrafrecht auf einen Heranwachsenden


4 StR 178/08 (Bundesgerichtshof)


Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.