Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 18.11.2003, Az. VI ZR 31/02

VI. Zivilsenat | REWIS RS 2003, 699

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[X.] DES VOLKESURTEIL[X.]Verkündet am:18. November 2003Böhringer-Mangold,[X.] Geschäftsstellein dem [X.]:ja[X.]Z:[X.]: jaBGB § 254 Abs. 1 Ba, StVG §§ 7, 9 a.[X.] Frage, ob der Halter eines Kraftfahrzeugs trotz Überschreitens der zulässigenHöchstgeschwindigkeit wegen eines grob verkehrswidrigen Verhaltens eines 14-jährigen Radfahrers bei einem Verkehrsunfall nach §§ 9 StVG, 254 Abs. 1 BGB völligvon der Gefährdungshaftung im Sinne des § 7 Abs. 1 StVG a.F. freigestellt werdenkann.[X.], Urteil vom 18. November 2003 - [X.] - [X.] Frankenthal- 2 -Der VI. Zivilsenat des [X.] hat auf die mündliche [X.] 18. November 2003 durch die Vorsitzende Richterin Dr. [X.] und [X.] Dr. [X.], Wellner, Pauge und Stöhrfür Recht erkannt:Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des 1. Zivilsenats [X.] Oberlandesgerichts [X.] vom 19. [X.] aufgehoben.Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auchüber die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsge-richt zurückverwiesen.Von Rechts [X.]:Der Kläger begehrt die Feststellung der Verpflichtung der [X.] [X.] seines materiellen und immateriellen Schadens aus einem Verkehrsun-fall vom 28. November 1999, den er - damals im Alter von 14 Jahren - [X.]. Er gehörte zu einer [X.], die mit ihren Rennrädern auf dem ausihrer Sicht links neben einer [X.] verlaufenden Radweg fuhr. Kurz vordem Erreichen einer Ortschaft mußten die Radfahrer die von links in die [X.] einmündende Seitenstraße überqueren. Die dem- 3 -Kläger als letztem Fahrer vorausfahrenden Mitglieder der Gruppe taten diesunter Ausnutzung einer Querungshilfe durch eine in der Fahrbahnmitte [X.] gelegene Verkehrsinsel und setzten sodann ihre Fahrt auf dem [X.] der [X.] fort. Der Kläger dagegen fuhr - möglicherweise um abzu-kürzen - auf die einmündende [X.] und bog von dieser nach links in dievorfahrtsberechtigte [X.] ein, die aus der Gegenrichtung in einer leichtenS-Kurve auf den Einmündungsbereich zuläuft. Dort kam ihm der Beklagte zu 1mit seinem bei der [X.] zu 2 haftpflichtversicherten PKW entgegen undleitete, nachdem er das Verhalten des [X.] bemerkt hatte, eine Vollbrem-sung ein. Dabei rutschte das Fahrzeug mit blockierten Rädern über eine an die-ser Stelle die Fahrbahnhälften trennende schraffierte [X.], wo es [X.] mit dessen Rennrad erfaßte.Der Kläger erlitt durch den Unfall schwerste Verletzungen mit bleibendenschweren gesundheitlichen Folgen. Das [X.] hat seine Klage auf Fest-stellung der Schadensersatzpflicht der [X.] abgewiesen. Das [X.] hat die hiergegen gerichtete Berufung des [X.] zurückgewiesen.Mit seiner Revision verfolgt er sein Klagebegehren weiter.Entscheidungsgründe:[X.] Berufungsgericht hat auf der Grundlage des von ihm eingeholtenSachverständigengutachtens ausgeführt, die Tatsache, daß der Beklagte zu 1mit seinem PKW auf die [X.] geraten sei, sei allein fahrtechnisch [X.] und dem [X.] zu 1 nicht vorzuwerfen. Nachdem die Räder des [X.] der durch das Verhalten des [X.] veranlaßten sofortigen [X.] 4 -sung des [X.] zu 1 blockiert hätten, habe dieser das Fahrzeug nicht mehrlenken und damit nicht mehr dem leichten Rechtsschwenk der Fahrbahn folgenkönnen. Ob es zweckmäßiger gewesen wäre, den PKW nur dosiert abzubrem-sen und damit dessen Lenkfähigkeit zu erhalten, könne dahinstehen. Mit Blickdarauf, daß die vom Kläger geschaffene Gefahrensituation für den [X.]zu 1 in Anbetracht der [X.] unvermittelt entstanden sei, kön-ne ihm auch eine unzweckmäßige Reaktion in Form der zur [X.] PKW führenden Vollbremsung nicht vorgeworfen werden. Dem [X.]ei zwar zuzugeben, daß nach den Berechnungen des Sachverständigen dieAusgangsgeschwindigkeit des [X.] zu 1 von mindestens 78,5 km/h überder damals für die Unfallstelle geltenden zulässigen Höchstgeschwindigkeit [X.] km/h gelegen habe. Des weiteren wäre die Kollision anders verlaufen, wennder Beklagte zu 1 die zulässige Höchstgeschwindigkeit eingehalten hätte. ImRahmen seiner Vermeidbarkeitsbetrachtungen sei der Sachverständige zu [X.] gekommen, daß zwar keine wegmäßige, wohl aber - jedenfalls bei einerBerechnungsvariante - sogar eine zeitliche Vermeidbarkeit angenommen wer-den könne. Gleichwohl sei es nicht gerechtfertigt, zumindest eine anteiligeHaftung der [X.] für den Schaden des [X.] aus dem Verkehrsunfall zubejahen, denn der - durch die geringfügige Geschwindigkeitsüberschreitungleicht erhöhten - Betriebsgefahr des PKW des [X.] zu 1 stehe das grobfahrlässige Fehlverhalten des [X.] gegenüber, der mit seiner Leichtfertigkeitbeim Einfahren in die [X.] trotz Erkennbarkeit des sichin bedrohlicher Weise nähernden PKW des [X.] zu 1 dessen Vorfahrt invöllig unverständlicher Weise mißachtet habe. Das Alter des zum Unfallzeit-punkt 14-jährigen [X.] führe zu keiner anderen Beurteilung. Der Kläger seizum Unfallzeitpunkt rund 1,75 m groß und etwa 65 kg schwer gewesen [X.] eher "erwachsen" gewirkt. Mit den Regeln und Gefahren des [X.] sei er als radsportbegeisterter Rennradfahrer vertraut gewesen und [X.] 5 -ne deshalb nicht mit Personen gleichgesetzt werden, die aufgrund ihres Altersin den Straßenverkehr noch nicht voll integriert seien. Die Einbindung des [X.] in eine Radfahrergruppe lasse seine subjektive Pflichtverletzung gleichfallsnicht als weniger schwer erscheinen. Daß die vier Rennradfahrer unter "[X.]" unterwegs gewesen seien, sei nicht ersichtlich. Zudem [X.] sich der Kläger aus eigenem Entschluß vor seinem verhängnisvollen Einfah-ren in die [X.] von der Gruppe gelöst und sei nicht etwa unvermittelt undunbedacht einem ihn "ziehenden" [X.] gefolgt.II.Die Beurteilung des Berufungsgerichts hält den Angriffen der Revisionnicht stand.1. Die Revision verkennt zwar nicht, daß die Bewertung der verschiede-nen Verursachungs- und [X.] auf Seiten des Verletzten unddes Ersatzpflichtigen grundsätzlich Aufgabe des Tatrichters und damit revisi-onsrechtlicher Überprüfung nur eingeschränkt zugänglich ist. Sie macht jedochim Rahmen der verbleibenden revisionsrechtlichen Überprüfbarkeit mit [X.], daß das Berufungsgericht nicht alle Umstände und für die [X.] Maßstäbe berücksichtigt hat (vgl. hierzu etwa Senatsurteil vom12.1.1993 - [X.] - [X.], 442, 443).2. Nach ständiger Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. [X.] 27. Juni 2000 - [X.] - [X.], 1294, 1296 und vom26. Oktober 1999 - [X.] - [X.], 199, 200) begründet ein unfallur-sächliches Verschulden des Fahrzeugführers eine Erhöhung der Betriebsge-fahr, die im Rahmen der Abwägung nach §§ 254 BGB, 9 StVG zu Gunsten des- 6 -Verletzten zu berücksichtigen ist, denn eine völlige Haftungsfreistellung desKfz-Halters von der Gefährdungshaftung im Sinne des § 7 Abs. 1 StVG a.F.kommt grundsätzlich nur dann in Betracht, wenn ein unabwendbares Ereignisim Sinne des § 7 Abs. 2 StVG a.F. vorliegt. Ein unabwendbares Ereignis liegtaber nur dann vor, wenn der Unfall auch bei äußerst möglicher Sorgfalt nichthätte abgewendet werden können (vgl. etwa Senatsurteil vom 10. Oktober 2000- [X.] - [X.], 1556, 1557).a) Im vorliegenden Fall wäre bereits ohne Berücksichtigung der Über-schreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit durch den [X.] das [X.] eines unabwendbaren Ereignisses fraglich. Das Berufungsgericht hatselbst erwogen, daß es zweckmäßiger gewesen wäre, den PKW nur dosiertabzubremsen und damit dessen Lenkfähigkeit zu erhalten. Diese Überlegunggewinnt Bedeutung vor dem Hintergrund, daß sich der Kläger zum Zeitpunktdes Zusammenstoßes bereits auf der die Fahrbahnhälften trennenden mar-kierten [X.] befand, als er von dem mit blockierten Rädern rutschendenPKW des [X.] zu 1, der dem Fahrbahnverlauf nicht mehr folgen konnte,erfaßt wurde.b) Darüber hinaus ist nach ebenfalls ständiger Senatsrechtsprechung(vgl. Urteile vom 9. Juni 1992 - [X.] - [X.], 1015, 1016; vom27. Juni 2000 - [X.] - aaO S. 1295 und vom 10. Oktober 2000- [X.] - aaO) ein unfallursächliches Verschulden des Fahrzeugführersdann anzunehmen, wenn der Unfall bei Einhaltung der zulässigen Höchstge-schwindigkeit zwar nicht räumlich, wohl aber zeitlich vermeidbar gewesen wäre.Dies ist der Fall, wenn es dem Fahrer bei einer verkehrsordnungsgemäßenFahrweise zwar nicht gelungen wäre, das Fahrzeug noch vor der späteren Un-fallstelle zum Stehen zu bringen, wenn er den PKW aber so stark hätte [X.] können, daß dem Verletzten Zeit geblieben wäre, den [X.] 7 -reich noch rechtzeitig zu verlassen. Entsprechendes gilt auch dann, wenn [X.] zumindest zu einer deutlichen Abmilderung des [X.] und dererlittenen Verletzung gekommen wäre (vgl. Senatsurteil vom 27. Juni 2000- [X.] - und vom 10. Oktober 2000 - [X.] - jeweils aaO).c) Das Berufungsgericht stellt im Anschluß an die Ausführungen [X.] fest, daß die Ausgangsgeschwindigkeit des PKW des [X.] zu 1 mit mindestens 78,5 km/h über der für die Unfallstelle [X.] Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h lag und daß bei deren Einhal-tung - jedenfalls bei einer Berechnungsvariante - sogar eine zeitliche Vermeid-barkeit angenommen werden könne. Die Revision weist insoweit zutreffenddarauf hin, daß nach dem Sachverständigengutachten selbst bei der ungünstig-sten Berechnungsvariante das Fahrrad des [X.] von dem Fahrzeug des [X.] mit einer deutlich geringeren Kollisionsgeschwindigkeit gerade noch imEndbereich des [X.] berührt worden wäre, so daß der [X.] falls es überhaupt zu einer Kollision gekommen wäre - womöglich erheblichgeringere Verletzungen davon getragen hätte als tatsächlich geschehen. [X.] dies bereits aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung annehmen kann,wie die Revision meint, kann dabei dahinstehen, denn das [X.] hierzu zumindest Feststellungen treffen müssen. Unter diesen [X.] die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Geschwindigkeitsüberschrei-tung habe lediglich eine leichte Gefahrerhöhung bewirkt, von den getroffenenFeststellungen nicht getragen.d) Die Revision beanstandet weiter mit Recht die Wertung des [X.], die Vollbremsung des [X.] zu 1 könne diesem nicht [X.] werden, auch wenn es tatsächlich besser gewesen wäre, die Lenkfähig-keit des PKW zu erhalten und dem Kläger auszuweichen. Dabei weist sie [X.] darauf hin, daß die vom Berufungsgericht insoweit angeführte [X.] 8 -rechtsprechung (vgl. Urteil vom 7. Februar 1967 - [X.] - VersR 1967,457, 458; vgl. weiterhin Senatsurteil vom 24. Februar 1987 - [X.] -VersR 1988, 291) Fälle betrifft, in denen ein Kraftfahrer in einer plötzlichen, vonihm nicht verschuldeten und nicht vorhersehbaren Gefahrenlage nicht diebestmögliche Reaktion gezeigt hat. Im vorliegenden Fall hat der Beklagte zu [X.] die an der Unfallstelle im Einmündungsbereich einer Seitenstraße zuläs-sige Höchstgeschwindigkeit überschritten, was sich unter Umständen bei einerVollbremsung mit blockierten Rädern auswirken kann. Zumindest kann- mangels entsprechender Feststellungen des Berufungsgerichts - nicht ausge-schlossen werden, daß der Beklagte zu 1 - im für ihn ungünstigen Fall der Be-rechnungsvarianten - bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit dieBremsung noch in einem Bereich hätte halten können, die ihm eine - wennauch geringe - Lenkreaktion ermöglicht hätte, um dem Hinterrad des [X.]auszuweichen.3. Schließlich beanstandet die Revision mit Erfolg, daß das Berufungsge-richt bei seiner Abwägung nicht hinreichend das jugendliche Alter des [X.]berücksichtigt hat. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl.Urteile vom 13. Februar 1990 - [X.] - [X.], 535, 536 und vom12. Januar 1993 - [X.] - [X.], 442, 443, jeweils m.w.N.) ist [X.] von Kindern und Jugendlichen im Rahmen der Abwägung nach§§ 9 StVG, 254 BGB in der Regel geringer zu bewerten als das entsprechendeMitverschulden eines Erwachsenen. Eine völlige Freistellung von der Gefähr-dungshaftung nach § 7 Abs. 1 StVG a.F. wegen eines grob verkehrswidrigenVerhaltens setzt bei Kindern und Jugendlichen voraus, daß der Sorgfaltsver-stoß altersspezifisch auch subjektiv besonders vorwerfbar ist (vgl. [X.] 13. Februar 1990 - [X.] - aaO). Hierbei kann das äußere Erschei-nungsbild des [X.] keine Rolle spielen, sondern allenfalls für die Frage [X.] sein, ab welchem Zeitpunkt der Beklagte zu 1 mit einem [X.] -halten des [X.] im Rahmen des § 3 Abs. 2a [X.] rechnen mußte. [X.] es nicht aus, daß das Berufungsgericht im Rahmen seiner Feststellungenzur subjektiven Vorwerfbarkeit des Unfallbeitrages des [X.] auf dessen [X.] dessen Radsportbegeisterung abgestellt hat. Nach den Feststellungen [X.] war der Kläger der letzte Fahrer der [X.]. [X.] die vier Rennradfahrer nicht unter "Wettkampfbedingungen" unterwegsgewesen sein sollten, so könnte es durchaus noch dem altersspezifischenLeichtsinn eines Vierzehnjährigen entsprechen, wenn er in einer solchen [X.] versucht abzukürzen und dabei unachtsam ist. Auch insoweit kann von [X.] sein, daß der Kläger beim Zusammenstoß schon die schraffierte[X.] erreicht [X.] Nach alledem konnte das angefochtene Urteil keinen Bestand haben.Das Berufungsgericht wird im Rahmen der erneuten Verhandlung Gelegenheithaben, unter Beachtung der aufgezeigten [X.] die noch [X.] Feststellungen zu treffen.[X.][X.]WellnerPaugeStöhr

Meta

VI ZR 31/02

18.11.2003

Bundesgerichtshof VI. Zivilsenat

Sachgebiet: ZR

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Entscheidung vom 18.11.2003, Az. VI ZR 31/02 (REWIS RS 2003, 699)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2003, 699

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