Bundesgerichtshof, Beschluss vom 28.02.2023, Az. XIII ZB 68/21

13. Zivilsenat | REWIS RS 2023, 1778

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Gegenstand

Abschiebehaftverfahren: Voraussetzungen einer Verletzung des Beschleunigungsgebots


Leitsatz

Das Beschleunigungsgebot ist nicht schon verletzt, wenn einer der für die Vorbereitung einer Abschiebung erforderlichen zahlreichen Bearbeitungsschritte nicht sofort erfolgt. Es reicht im Hinblick auf den der Behörde zustehenden organisatorischen Spielraum aus, wenn die Vorbereitung der Abschiebung so vorangetrieben wird, dass es nicht zu unnötigen Verzögerungen kommt.

Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 5. Zivilkammer des [X.] vom 3. Dezember 2021 wird auf Kosten der Vertrauensperson zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert des [X.] beträgt 5.000 €.

Gründe

1

Der Betroffene, ein [X.] Staatsangehöriger, reiste erstmals 2016 nach [X.] ein und stellte einen Asylantrag. Der Asylantrag wurde bestandskräftig abgelehnt und dem Betroffenen vollziehbar die Abschiebung angedroht. Der Betroffene wurde am 15. November 2017 unter Hinzuziehung eines Dolmetschers in seiner Landessprache auf die Anzeigepflicht beim Verlassen des Aufenthaltsorts hingewiesen. Im weiteren Verlauf tauchte er unter. Am 4. Dezember 2019 wurde er festgenommen. Bei der Anhörung erklärte der Betroffene, er sei Vater eines in [X.] lebenden Kindes, dessen Mutter ebenfalls [X.] Staatsangehörige sei.

2

Das Amtsgericht hat Abschiebungshaft bis zum 7. Februar 2020 angeordnet. Am 23. Januar 2020 hat die Vertrauensperson des Betroffenen einen Antrag auf Aufhebung der Haft gestellt und beantragt, im Falle der Haftentlassung das Verfahren als Feststellungsverfahren fortzusetzen. Am 30. Januar 2020 wurde der Betroffene abgeschoben. Das Amtsgericht hat den Haftaufhebungsantrag zurückgewiesen und ausgeführt, der Feststellungsantrag sei unzulässig. Das Beschwerdegericht hat den amtsgerichtlichen Beschluss abgeändert und dahin neu gefasst, dass der Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haft zurückgewiesen werde. Dagegen wendet sich die Vertrauensperson mit der Rechtsbeschwerde und verfolgt ihren Antrag, die Rechtswidrigkeit der Haft im Zeitraum vom 23. bis 30. Januar 2020 festzustellen, weiter.

3

I. Die Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg.

4

1. Das Beschwerdegericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, es habe der Haftgrund der Fluchtgefahr vorgelegen. Nach Ablauf der Ausreisefrist sei der Betroffene trotz Belehrung über die Anzeigepflicht untergetaucht. Die Regelung des § 60a Abs. 2b [X.] habe der Abschiebung nicht entgegengestanden. Der Betroffene habe bei seiner Anhörung erstmals erklärt, Vater eines in [X.] lebenden Kindes zu sein, ohne Name, Geschlecht, Alter und Wohnort des Kindes anzugeben. Er habe keine Angabe dazu gemacht, dass er Kontakt zum Kind habe. Schließlich sei auch das Beschleunigungsgebot nicht verletzt worden.

5

2. Die gemäß § 70 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 3 FamFG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist nicht begründet.

6

a) Soweit die Rechtsbeschwerde geltend macht, Beugehaft zur Beschaffung von Ausweispapieren sei nicht zulässig, greift das nicht durch. Die Rechtsbeschwerde zieht nicht in Zweifel, dass der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 3a Nr. 3 [X.] vorgelegen hat. Ist das der Fall, ist Abschiebungshaft zulässig, auch wenn vor der Abschiebung [X.] zu beschaffen sind. Die [X.] des § 62 Abs. 6 [X.] soll (zusätzlich) die Durchführung von Anordnungen nach § 82 Abs. 4 Satz 1 [X.] ermöglichen. Nach dem klaren Wortlaut, der Systematik sowie Sinn und Zweck der Vorschrift hat [X.] aber keinen Vorrang vor der Abschiebehaft gemäß § 62 Abs. 3 [X.], wenn der Haftgrund der Fluchtgefahr gegeben ist (vgl. Entwurf eines [X.] zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 10. Mai 2019, BT-Drucks. 19/10047, [X.] unten). Die von der Rechtsbeschwerde zitierte Entscheidung betrifft im Übrigen eine Fallgestaltung, in der anders als hier schon kein zulässiger Haftantrag vorgelegen hat ([X.], Beschluss vom 30. August 2012 - [X.], juris Rn. 8).

7

b) Dem Einwand der Rechtsbeschwerde, das Beschwerdegericht verkenne die [X.] gemäß § 26 FamFG, ist kein Erfolg beschieden.

8

aa) Die Haftgerichte sind auf Grund von Art. 20 Abs. 3, Art. 104 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG verfassungsrechtlich und auf Grund von § 26 FamFG einfachrechtlich verpflichtet, das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung von [X.] in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend zu prüfen. Bei der Prognose, ob die Abschiebung trotz eines von dem Betroffenen geltend gemachten [X.]s durchgeführt werden kann, hat der Haftrichter eigene Ermittlungen anzustellen; insbesondere muss er sich über den Stand und die Erfolgsaussichten eines behördlichen oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrens erkundigen, in dem über das Vorliegen etwaiger [X.] entschieden wird ([X.], Beschluss vom 11. Oktober 2018 - [X.]/17, juris Rn. 6 mwN). Er hat aber weder zu prüfen noch zu entscheiden, wie Vortrag zu familiären Bindungen ausländerrechtlich zu bewerten ist, insbesondere, ob sich hieraus etwa unter dem Gesichtspunkt einer Duldung des Aufenthalts [X.] ergeben. Das ist vielmehr Aufgabe der Verwaltungsgerichte ([X.], Beschlüsse vom 20. Oktober 2016 - [X.] 167/14, juris Rn. 16 mwN; vom 22. März 2022 - [X.], juris Rn. 14; grundlegend zur Aufgabenverteilung zwischen [X.] und Verwaltungsgerichten [X.], Beschluss vom 31. August 2021 - [X.]/20, NVwZ-RR 2022, 237 Rn. 7 ff.).

9

bb) Nach diesen Grundsätzen bestand im vorliegenden Fall kein Anlass für weitere Ermittlungen. Der Betroffene hat bei der Anhörung schon nicht vorgetragen, dass er einen Antrag auf Erteilung einer Duldung gestellt habe oder ein behördliches oder verwaltungsgerichtliches Verfahren auf Erteilung einer Duldung gemäß § 60a Abs. 2b [X.] anhängig sei. Auch die vom Betroffenen nach der Anhörung bevollmächtigte Vertrauensperson macht das nicht geltend. Schließlich ist - ohne dass es hier darauf ankommen würde - ein entsprechender Antrag mit konkreten Angaben zum Kind auch nach der Anhörung bis zum 30. Januar 2020 nicht gestellt worden.

c) Entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde hat das Beschwerdegericht zu Recht keinen Verstoß gegen den Beschleunigungsgrundsatz darin gesehen, dass die Vorbereitung und Durchführung der Abschiebung den Zeitraum vom 4. Dezember 2019 bis zum 30. Januar 2020 in Anspruch genommen hat.

aa) Das Beschleunigungsgebot bei Freiheitsentziehungen schließt zwar einen organisatorischen Spielraum der Behörde bei der Umsetzung der Abschiebung nicht aus, verlangt aber, dass die Behörde die Abschiebung oder Überstellung ohne unnötige Verzögerung betreibt und die Dauer der [X.] auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt wird. Ein Verstoß gegen dieses Gebot führt dazu, dass die Haft aus Gründen der Verhältnismäßigkeit nicht weiter aufrechterhalten werden darf (st. Rspr., vgl. nur [X.], Beschluss vom 25. Oktober 2022 - [X.] 116/19, juris Rn. 11 mwN).

bb) Diesen rechtlichen Maßstab hat das Beschwerdegericht seiner Prüfung zutreffend zugrunde gelegt. Seine Würdigung, dass die beteiligte Behörde bei der Planung und Durchführung der Überstellung den sich aus dem Beschleunigungsgebot ergebenden Anforderungen gerecht geworden ist, lässt keinen Rechtsfehler erkennen.

(1) Der am 4. Dezember 2019 festgenommene Betroffene wurde am 10. Dezember 2019 mit dem Ziel der Beschaffung eines [X.]s aus der in [X.] befindlichen Unterbringungseinrichtung nach [X.] verbracht, dort im Rahmen einer Sammelanhörung bei der Botschaft der [X.] vorgeführt und sodann in die Unterbringungseinrichtung zurückgeführt. Nachdem der Bericht der [X.] über die Vorführung am 18. Dezember 2019 erstellt wurde und der beteiligten Behörde vorlag, wurde am 20. Dezember 2019 ein Flug angefragt, für den 30. Januar 2020 vorgemerkt und am 9. Januar 2020 gebucht. Das von der Botschaft ausgestellte und über die [X.] der [X.] übermittelte [X.] lag am 21. Januar 2020 vor; die Abschiebung erfolgte mit dem bereits für den 30. Januar 2020 gebuchten Flug.

(2) Vor diesem Hintergrund ist die Wertung des [X.], die Abschiebung sei unter den Umständen des vorliegenden Einzelfalls (vgl. [X.], Beschluss vom 29. Juni 2017 - [X.] 40/16, [X.] 2017, 450 Rn. 22) ohne unnötige Verzögerung betrieben worden, nicht zu beanstanden. Angesichts der hier notwendigen zahlreichen Bearbeitungsschritte, die jeweils verschiedener Vorbereitungen bedurften, die Zusammenarbeit mehrerer Behörden erforderten und bei denen zudem die (zeitlichen) Vorgaben der [X.]n Botschaft zu beachten waren, sind unnötige Verzögerungen nicht erkennbar. Soweit die Rechtsbeschwerde die Dauer einzelner Bearbeitungsschritte beanstandet und meint, diese hätten schneller - etwa binnen drei Tagen anstelle einer Woche - erfolgen müssen, verkennt sie, dass das Beschleunigungsgebot nicht schon verletzt ist, wenn einer der erforderlichen zahlreichen Bearbeitungsschritte nicht sofort erfolgt. Angesichts der Vielzahl der von der beteiligten Behörde und den in Zusammenarbeit mit ihr tätigen Behörden zu betreibenden Vorgänge ist es nachvollziehbar, dass das auch bei der gebotenen größtmöglichen Beschleunigung nicht stets der Fall sein kann. Im Gegenteil ist zu erwarten, dass einzelne Bearbeitungsschritte je nach den Umständen teils mehr und teils weniger Zeit in Anspruch nehmen als hierfür im Durchschnitt erforderlich ist. Es reicht im Hinblick auf den der Behörde zustehenden organisatorischen Spielraum daher aus, wenn die Beschaffung der [X.] und die Durchführung der Abschiebung - wie hier - so vorangetrieben wird, dass es nicht zu unnötigen Verzögerungen kommt (wie etwa das Abwarten eines erst drei Monate später stattfindenden [X.], [X.] Beschluss vom 24. Juni 2020 - [X.] 9/19, juris Rn. 15; Verzögerungen von knapp drei Wochen bei der Erstellung eines Antrags auf Ausstellung von [X.]n [X.], Beschluss vom 23. Februar 2021 - [X.] 52/19, juris Rn. 11; Verzögerung von bereits sechs Wochen, bis die Ausländerbehörde bei der Botschaft in Erfahrung brachte, dass dem Antrag auf Ausstellung von [X.]n Lichtbilder und der Bescheid über die Ausweisung beizufügen waren, [X.], Beschluss vom 10. Oktober 2013 - [X.] 25/13, juris Rn. 8 f.) Insbesondere ist es nicht zu beanstanden, wenn die Behörde, die bei der Flugbuchung den von der Botschaft vorgegebenen zeitlichen Vorlauf einzuhalten hat, keinen Versuch einer Umbuchung vornimmt, wenn die [X.] einige Tage früher vorliegen als zu erwarten war. Im Hinblick auf die genannten Gesamtumstände lässt sich ferner nicht feststellen, dass Verzögerungen durch die Buchung eines Sammelcharterfluges eingetreten sind.

3. [X.] beruht auf § 84 FamFG. Die Festsetzung des [X.] folgt aus § 36 Abs. 2 und 3 GNotKG.

[X.]     

      

[X.]     

      

     Tolkmitt

      

[X.]     

      

Kochendörfer

      

Meta

XIII ZB 68/21

28.02.2023

Bundesgerichtshof 13. Zivilsenat

Beschluss

Sachgebiet: ZB

vorgehend LG Mönchengladbach, 3. Dezember 2021, Az: 5 T 82/20

Art 20 Abs 3 GG, Art 104 GG, § 26 FamFG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 28.02.2023, Az. XIII ZB 68/21 (REWIS RS 2023, 1778)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2023, 1778

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