Bundesgerichtshof, Beschluss vom 30.03.2022, Az. 4 StR 181/21

4. Strafsenat | REWIS RS 2022, 2708

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Gegenstand

Divergenzvorlage in einem Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahren wegen Geschwindigkeitsüberschreitung: Fehlen der Vorlegungsvoraussetzungen; Divergenz im Hinblick auf die gerichtliche Prüfung des Verlangens des Betroffenen auf Übermittlung der Rohmessdaten der gesamten Messreihe


Tenor

Die Sache wird an das [X.] zurückgegeben.

Gründe

I.

1

Gegen die Betroffene erging am 6. Juli 2020 durch die Zentrale Bußgeldstelle des [X.] ein Bußgeldbescheid wegen vorsätzlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 35 km/h, gegen den die Betroffene form- und fristgerecht Einspruch einlegte. Zur Überprüfung der Verlässlichkeit der dem [X.] zugrundeliegenden Geschwindigkeitsmessung beantragte die Betroffene durch ihren Verteidiger sowohl gegenüber der Verwaltungsbehörde als auch dem Amtsgericht die Einsicht in verschiedene Unterlagen sowie die Übermittlung näher bezeichneter Daten, insbesondere der unverschlüsselten [X.] der gesamten Messserie. Diese Einsichts- und Übermittlungsersuchen blieben jeweils ohne Erfolg.

2

Das [X.] hat die Betroffene mit Urteil vom 25. Januar 2021 wegen fahrlässiger Überschreitung der erlaubten Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 35 km/h zu der Geldbuße von 120 € verurteilt. Nach den amtsgerichtlichen Feststellungen überschritt die Betroffene bei der Fahrt mit einem Pkw die an der Messstelle durch Verkehrszeichen auf 70 km/h beschränkte Höchstgeschwindigkeit unter Berücksichtigung der [X.] um 35 km/h, wobei die gefahrene Geschwindigkeit mit einem Messgerät ES 3.0 der Firma [X.]ermittelt wurde.

3

Gegen dieses Urteil hat die Betroffene form- und fristgerecht „Rechtsbeschwerde“ eingelegt und das Rechtsmittel mit einer Verfahrensbeanstandung und der Rüge der Verletzung materiellen Rechts begründet. Mit der Verfahrensrüge beanstandet sie unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung des fairen Verfahrens die unterbliebene Übermittlung der [X.] aus der gesamten mit dem Messgerät vorgenommenen Messreihe.

4

Das [X.] hat das Rechtsmittel der Betroffenen als Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde gemäß § 80 Abs. 1 OWiG behandelt und die Rechtsbeschwerde zugelassen.

II.

5

In der Sache möchte das [X.] die Rechtsbeschwerde nach § 79 Abs. 5 OWiG verwerfen. Die ordnungsgemäß erhobene Verfahrensbeschwerde hält es für unbegründet, weil aufgrund vorliegender Erkenntnisse der [X.] sicher auszuschließen sei, dass sich aus den [X.] der gesamten Messreihe Anhaltspunkte für die Beurteilung der Verlässlichkeit der die Betroffene belastenden Einzelmessung ergeben könnten. An der beabsichtigten Verwerfung der Rechtsbeschwerde sieht sich das [X.] durch die Entscheidung des [X.] vom 17. März 2021 ([X.], 33) gehindert. Das [X.] versteht diese Entscheidung dahin, dass es nach Ansicht des [X.] den Bußgeldgerichten aus Rechtsgründen verwehrt sei, die vom Betroffenen im Rahmen eines Auskunftsersuchens geltend gemachte Relevanz der begehrten Informationen für die Verteidigung des Betroffenen einer gerichtlichen Überprüfung zu unterziehen. Es hat daher mit Beschluss vom 4. Mai 2021 ([X.], 399) die Sache gemäß § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG in Verbindung mit § 121 Abs. 2 [X.] dem [X.] zur Beantwortung folgender Rechtsfrage vorgelegt:

Liegt in der Verweigerung der Einsichtnahme in dritte Verkehrsteilnehmer betreffende Daten („gesamte Messreihe“) auch dann ein Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens, wenn eine Relevanz der betreffenden Daten für die Beurteilung der Zuverlässigkeit des verfahrensgegenständlichen Messvorgangs und damit für die Verteidigung des Betroffenen nicht erkennbar ist?

6

Der [X.] hält die Vorlage für unzulässig und beantragt, die Sache an das [X.] zurückzugeben.

III.

7

Die Sache ist an das [X.] zurückzugeben, da die [X.] des § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG in Verbindung mit § 121 Abs. 2 [X.] nicht vorliegen. Die Annahme einer in rechtlicher Hinsicht bestehenden Divergenz durch das vorlegende [X.] beruht auf einem nicht mehr vertretbaren Verständnis der Entscheidung des [X.] vom 17. März 2021 und ist daher für den [X.] im [X.] nicht bindend (vgl. [X.], Beschluss vom 14. Dezember 1999 ‒ 5 AR ([X.]) 2/99, [X.], 222; vgl. [X.] in [X.]/Schluckebier/[X.], [X.], 4. Aufl., § 121 [X.] Rn. 21; Feilcke in KK-[X.], 8. Aufl., § 121 [X.] Rn. 43 f. jeweils mwN).

8

1. Das aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsgebot des Art. 20 Abs. 3 GG resultierende Recht auf ein faires Verfahren gewährleistet nach der Rechtsprechung des [X.] (vgl. [X.], NJW 2021, 455) dem Betroffenen im Bußgeldverfahren einen Anspruch auf Zugang zu solchen Informationen, die im Verfahren zum Zweck der Ermittlung angefallen, aber nicht Bestandteil der [X.] geworden sind, weil deren Beiziehung unter [X.] nicht geboten erscheint. Da der Informationszugang des Betroffenen gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten einer sachgerechten Eingrenzung bedarf, setzt der [X.] in sachlicher Hinsicht voraus, dass die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen [X.] stehen und zum anderen aus der maßgeblichen Perspektive des Betroffenen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen. Dabei ist entscheidend, ob der Betroffene eine Information verständiger Weise für die Beurteilung des [X.]s für bedeutsam halten darf (vgl. [X.] aaO, Rn. 57). Bei entsprechenden Zugangsersuchen obliegt es den [X.] und den Gerichten, im Einzelfall zu entscheiden, ob sich das Gesuch innerhalb des durch diese Voraussetzungen gesetzten Rahmens hält (vgl. [X.] aaO, Rn. 58).

9

2. Das [X.] ist durch die Entscheidung des [X.] vom 17. März 2021 nicht gehindert, das Vorbringen der Betroffenen im Rahmen ihres Auskunftsverlangens einer gerichtlichen Prüfung zu unterziehen. Denn der Entscheidung des [X.] ist entgegen der Auffassung des vorlegenden [X.]s gerade nicht zu entnehmen, dass jedwedem Informationsverlangen eines Betroffenen ohne gerichtliche Prüfung seiner Berechtigung nachzukommen ist. Das Thüringer [X.] knüpft vielmehr ausdrücklich an die Rechtsprechung des [X.] an, wonach der Anspruch des Betroffenen auf Informationszugang sachlich unter anderem davon abhängig ist, dass den begehrten Informationen durch den Betroffenen verständiger Weise Relevanz für seine Verteidigung beigemessen werden kann und es Aufgabe der mit den Verfahren befassten Bußgeldgerichte ist, im Einzelfall zu beurteilen, ob das Gesuch diesen Anforderungen entspricht. Anschließend nimmt es selbst eine sachliche Prüfung der maßgeblich aus der Perspektive des Betroffenen zu beurteilenden Relevanz der begehrten Messdaten für die Bewertung der Verlässlichkeit der den Betroffenen belastenden Geschwindigkeitsmessung vor und gelangt zu dem Ergebnis, dass den Daten aus der am Tattag an der Messstelle durchgeführten Messreihe eine potentielle Beweiserheblichkeit nicht abgesprochen werden kann. Soweit das Thüringer [X.] sodann abschließend im Einklang mit dem [X.] die alleinige Maßgeblichkeit der Einschätzung des Betroffenen für die Verteidigungsrelevanz einer begehrten Information betont, dienen diese Ausführungen ersichtlich dazu, klarzustellen, dass sich die Reichweite des Informationsanspruchs des Betroffenen einerseits und der dem Gericht obliegenden Amtsaufklärungspflicht andererseits nach verschiedenen Maßstäben beurteilt.

3. Eine der beabsichtigten Entscheidung entgegenstehende rechtliche Divergenz ergibt sich auch nicht aus der erst nach dem [X.] ergangenen Entscheidung des [X.]s Stuttgart vom 3. August 2021 ([X.], 319). Denn auch das [X.] Stuttgart nimmt hinsichtlich der vom Betroffenen begehrten Informationen über die Daten der gesamten Messreihe eine eigene Bewertung von deren Verteidigungsrelevanz vor und bejaht eine potentielle Beweisbedeutung.

4. Soweit das [X.] einerseits und das Thüringer [X.] sowie das [X.] Stuttgart andererseits schließlich die potentielle Beweisbedeutung der im Rahmen der Geschwindigkeitsmessung insgesamt angefallenen Messdaten für die Beurteilung der Verlässlichkeit der den Betroffenen belastenden Einzelmessung unterschiedlich beurteilen, betrifft dies eine tatsächliche Frage, die weder einen allgemeinen Erfahrungssatz noch allgemein als gesichert anerkannte wissenschaftliche Erkenntnisse zum Gegenstand hat (vgl. [X.], aaO, § 121 [X.] Rn. 16 mwN) und damit als Tatfrage einer Vorlegung nach § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG in Verbindung mit § 121 Abs. 2 [X.] nicht zugänglich ist. Insoweit hat das [X.] eine Vorlage auch nicht beschlossen.

[X.]     

        

Bender     

        

     Rommel

                          

Ri[X.] Dr. Scheuß ist wegen
Urlaubs an der Unterschriftsleistung
gehindert.

        
        

Maatsch     

        

[X.]

        

Meta

4 StR 181/21

30.03.2022

Bundesgerichtshof 4. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend OLG Zweibrücken, 4. Mai 2021, Az: 1 OWi 2 SsRs 19/21, Vorlagebeschluss

§ 79 Abs 3 S 1 OWiG, § 121 Abs 2 GVG, § 147 StPO, Art 2 Abs 1 GG, Art 20 Abs 3 GG

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 30.03.2022, Az. 4 StR 181/21 (REWIS RS 2022, 2708)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 2708

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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Referenzen
Wird zitiert von

1 RBs 288/22

4 StR 84/22

3 C 14/21

3 Ws 266/22

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