Bundesfinanzhof, Urteil vom 16.11.2011, Az. X R 15/09

10. Senat | REWIS RS 2011, 1366

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Abzug von Beiträgen zur Krankenversicherung und zur Arbeitslosenversicherung; Weitergeltungsanordnung des BVerfG kein Verstoß gegen GG oder EMRK - Keine Verfahrensaussetzung wegen Verfahren beim BVerfG und EGMR - Reichweite der Entscheidungsbefugnis des BVerfG und des EGMR


Leitsatz

1. Die durch das BVerfG (Beschluss vom 13. Februar 2008  2 BvL 1/06, BVerfGE 120, 125, unter E.II.2.) mit Wirkung bis zum 31. Dezember 2009 ausgesprochene Anordnung der Weitergeltung der für mit dem GG unvereinbar erklärten Regelungen über die Abziehbarkeit von Beiträgen zur Krankenversicherung ist weder verfassungswidrig noch liegt darin ein Verstoß gegen die EMRK .

2. Es besteht kein verfassungsrechtlicher Anspruch darauf, die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung einkommensteuerlich in voller Höhe oder zumindest im Wege eines negativen Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen .

Tatbestand

1

I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute, die in den Streitjahren 1993 bis 1999 zur Einkommensteuer zusammen veranlagt wurden. Sie erzielten im Wesentlichen Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. In den von ihnen geleisteten Vorsorgeaufwendungen waren ausweislich einer im Klageverfahren eingereichten Aufstellung Beiträge zur Krankenversicherung und an die seinerzeitige [X.] in folgender Höhe enthalten:

2

Jahr Vorsorgeaufwendungen gesamt Krankenversicherung Bundesanstalt für Arbeit
1993

25.540 DM

5.580 DM

3.482 DM

1994

28.024 DM

5.017 DM

3.725 DM

1995

26.356 DM

6.128 DM

3.042 DM

1996

32.322 DM

9.510 DM

3.704 DM

1997

30.855 DM

8.786 DM

3.468 DM

1998

34.164 DM

10.164 DM

3.874 DM

1999

33.862 DM

10.274 DM

3.916 DM

3

In den Einkommensteuerbescheiden für die Streitjahre wurden die Vorsorgeaufwendungen jeweils mit dem gesetzlichen Höchstbetrag (7.830 DM jährlich) berücksichtigt.

4

Die Einsprüche der Kläger, mit denen sie neben zahlreichen weiteren Punkten u.a. die Verfassungswidrigkeit dieses [X.] rügten, hatten nur für die [X.] bis 1995 in geringem Umfang --aus Gründen, die nicht die Vorsorgeaufwendungen betreffen-- Erfolg. Im Übrigen wies der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --[X.]--) die Einsprüche zurück. Soweit die Steuerbescheide zunächst im Hinblick auf die beschränkte Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen vorläufig ergangen waren (Streitjahre 1993 bis 1996), wurden sie im Laufe des [X.] in diesem Punkt für endgültig erklärt.

5

Im Klageverfahren haben die Kläger zuletzt noch begehrt, die Beiträge zur Krankenversicherung und an die [X.] in voller Höhe als Sonderausgaben abzuziehen, hilfsweise, die Beiträge an die [X.] im Wege des negativen Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen. Die Klage hatte keinen Erfolg (Entscheidungen der Finanzgerichte 2009, 733).

6

Mit ihrer Revision verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter. Sie sind der Auffassung, die im Beschluss des [X.] ([X.]) vom 13. Februar 2008  2 BvL 1/06 ([X.]E 120, 125) ausgesprochene Weitergeltungsanordnung hinsichtlich der Beiträge zur Krankenversicherung verletze ihrerseits Verfassungsrecht (Art. 1, 2, 3, 6, 14, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes --GG--). Der rechtsuchende Bürger werde dadurch letztlich rechtlos gestellt. Ferner verletze die Weitergeltungsanordnung auch die Art. 5, 6, 8 und 14 der [X.] zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ([X.]) vom 4. November 1950 ([X.] 1952, 685).

7

Die Beiträge zur [X.] seien aus verfassungsrechtlichen Gründen steuerlich in voller Höhe abzuziehen, weil sie dem Existenzminimum zuzuordnen seien. Hilfsweise seien sie im Wege des negativen Progressionsvorbehalts zu berücksichtigen, weil auch zahlreiche der von der [X.] gewährten Leistungen dem Progressionsvorbehalt unterlägen. Eine vorrangige steuersystematische Zuordnung dieser Beiträge zu den Sonderausgaben scheide angesichts des klaren Wortlauts des Einleitungssatzes des § 10 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) aus.

8

Die Kläger begehren vorrangig ein Ruhen oder Aussetzen des Revisionsverfahrens bis zum Ergehen von Entscheidungen des [X.] bzw. des [X.] ([X.]) in verschiedenen näher bezeichneten Verfahren.

9

In der Sache selbst beantragen die Kläger,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Einkommensteuerbescheide für die [X.], 1994 und 1996 vom 9. August 2000, für die Jahre 1997 und 1998 vom 10. August 2000, für das [X.] vom 29. August 2000 und für das [X.] vom 9. Mai 2001 unter Aufhebung der [X.] vom 20. und 29. November 2000 sowie vom 18. September 2001 dahingehend zu ändern, dass die Beiträge zur Krankenversicherung und an die [X.] in voller Höhe abgezogen werden.

Das [X.] beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Es tritt den Anträgen auf Ruhen oder Aussetzen des Verfahrens entgegen.

Entscheidungsgründe

I[X.] Die Revision ist unbegründet und nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen.

1. Die verfassungsrechtlichen Fragen hinsichtlich der begrenzten Abziehbarkeit von Beiträgen zu Krankenversicherungen sind durch den Beschluss des [X.] in [X.]E 120, 125 geklärt. Danach war der Gesetzgeber verpflichtet, mit Wirkung zum 1. Januar 2010 eine Neuregelung zu schaffen. Bis zu diesem Zeitpunkt blieben sowohl die für das seinerzeitige Streitjahr 1997 beanstandete Fassung des § 10 Abs. 3 EStG als auch sämtliche Nachfolgeregelungen weiter anwendbar (vgl. [X.]-Beschluss in [X.]E 120, 125, unter Nr. 2 des Tenors sowie unter [X.] der Gründe). In späteren Entscheidungen haben sowohl das [X.] (Beschluss vom 13. Februar 2008  2 BvR 1220/04, 410/05, [X.]E 120, 169, unter [X.].) als auch der [X.] --[X.]-- ([X.]sbeschluss vom 26. November 2008 [X.], [X.], 382, Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen durch [X.]-Beschluss vom 9. Juli 2009  2 [X.]/09; [X.]sbeschluss vom 11. Dezember 2008 [X.]/08, [X.], 573, unter [X.], Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen durch [X.]-Beschluss vom 14. September 2010  2 BvR 329/09) hinsichtlich der Beiträge zur Krankenversicherung die weitere Anwendbarkeit des § 10 Abs. 3 EStG in seinen bis einschließlich des Veranlagungszeitraums 2009 geltenden Fassungen bestätigt.

Diese Weitergeltungsanordnung ist für den [X.] bindend, weil sie mit Gesetzeskraft versehen ist (§ 31 Abs. 2 des Gesetzes über das [X.] --[X.]G--; vgl. hierzu ausführlich [X.] vom 24. November 2010 [X.]/10, [X.], 441, unter 1.a, mit zahlreichen weiteren Nachweisen); sie ist ihrerseits weder verfassungswidrig (dazu unten a) noch verstößt sie gegen Regelungen der [X.] (unten b).

a) Das [X.] hat als Verfassungsorgan des [X.] hinsichtlich der zeitlichen Geltung seiner Unvereinbarkeitserklärung eine Abwägung getroffen zwischen dem Anspruch des Rechtsuchenden auf Gewährung von Individualrechtsschutz, seinen Aufgaben zur Gewährleistung einer auch objektiven Rechtskontrolle, den Grundsätzen einer geordneten Haushaltsplanung (vgl. zur verfassungsrechtlichen Verankerung dieses Gesichtspunkts Art. 104a ff., Art. 109 [X.]), der Erwägung, nicht für weit zurückliegende Veranlagungszeiträume Verzerrungen herbeizuführen zwischen denjenigen Steuerpflichtigen, deren Veranlagungen bereits bestandskräftig waren und denjenigen, die ihre Veranlagungen offengehalten haben, sowie der Vorhersehbarkeit normverwerfender Entscheidungen, die solche Vorschriften betreffen, die zuvor jahrzehntelang angewendet und durch die höchstrichterliche Rechtsprechung in ihrer Wirksamkeit bestätigt worden waren (z.B. [X.]-Urteil vom 16. Oktober 2002 [X.], [X.], 529, [X.] 2003, 179) und erhebliche Breitenwirkung haben. Derartige Abwägungen stehen dem [X.] kraft seiner Stellung als Verfassungsorgan zu; die befristete Weitergeltungsanordnung kann verfassungsgerichtsverfahrensrechtlich auf § 35 [X.]G gestützt werden ([X.]-Beschluss vom 11. Oktober 1994  2 BvR 633/86, [X.]E 91, 186, unter C.II[X.]1.).

Der erkennende [X.] hält die vom [X.] getroffene Weitergeltungsanordnung hinsichtlich der gesetzlichen Regelungen zum Abzug der Krankenversicherungsbeiträge für verfassungsgemäß.

Selbst wenn der [X.] von der Verfassungswidrigkeit der mit Gesetzeskraft versehenen Weitergeltungsanordnung überzeugt wäre, wäre er infolge seiner Gesetzesbindung verfahrensrechtlich auf die konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 [X.] verwiesen. Eine durch das [X.] selbst getroffene Anordnung der befristeten Weitergeltung eines Gesetzes, das für mit dem [X.] unvereinbar erklärt worden ist, kann jedoch nicht tauglicher Gegenstand einer Richtervorlage sein (vgl. ausführlich [X.]surteil vom 21. Juli 2004 [X.], [X.] 2005, 513, unter I[X.]3., Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen durch [X.]-Beschluss vom 25. September 2009  2 BvR 2299/04).

b) [X.] verstößt nicht gegen Vorschriften der [X.].

aa) Soweit sich die Kläger --ohne nähere Begründung-- auf das "Recht auf Freiheit und Sicherheit" (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 [X.]) berufen, ist nicht ersichtlich, inwieweit dieses Recht durch die Weitergeltungsanordnung des [X.] verletzt sein soll. Ohnehin versteht Art. 5 Abs. 1 [X.] unter der persönlichen Freiheit nur die körperliche Bewegungsfreiheit, nicht aber die allgemeine Handlungsfreiheit ([X.] in Internationaler Kommentar zur [X.], Art. 5 Rz 1, 15 f., Stand Juni 2004). Die körperliche Bewegungsfreiheit wird aber weder durch die Besteuerung noch durch die Weitergeltungsanordnung berührt.

bb) Art. 6 Abs. 1 [X.] (Anspruch auf rechtliches Gehör vor einem unabhängigen Gericht innerhalb einer angemessenen Frist) gilt nach seinem klaren Wortlaut nur für gerichtliche Verfahren über zivilrechtliche Ansprüche oder strafrechtliche Anklagen. Im Bereich des [X.] ist diese Norm von vornherein nicht anwendbar (vgl. ausführlich Urteil des [X.] vom 12. Juli 2001  44759/98, Neue Juristische Wochenschrift --NJW-- 2002, 3453; ferner [X.]-Urteile vom 13. Dezember 1995 [X.]-45/89, [X.], 353, [X.] 1996, 232, unter [X.], und vom 21. März 1996 [X.], [X.], 316, [X.] 1996, 518, unter I[X.]B.4.; [X.] vom 27. Februar 2002 [X.], [X.] 2002, 942, und vom 31. Juli 2003 [X.], [X.] 2003, 1603).

Dem steht das von den Klägern angeführte [X.]-Urteil vom 29. Mai 1986  9/1984/81/128 (NJW 1989, 652) nicht entgegen. Zwar hat der [X.] dort in Bezug auf ein Verfahren, das Ansprüche gegen die gesetzliche Unfallversicherung betraf, eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 [X.] bejaht. Er hat zugleich aber festgestellt, dass es sich bei den Leistungsansprüchen von Arbeitnehmern gegen die gesetzliche Unfallversicherung um "zivilrechtliche Ansprüche" im Sinne der genannten [X.] handelt ([X.]-Urteil in NJW 1989, 652, [X.] ff.: Unfallrente als Verlängerung des dem Arbeitnehmer entgehenden zivilrechtlichen Anspruchs auf Vergütung). Dies ist bei Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis indes nicht der Fall.

cc) Der Anspruch auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 Abs. 1 [X.]) ist nicht verletzt. Der bisherigen Rechtsprechung des [X.] ist nicht einmal ansatzweise zu entnehmen, dass die beschränkte [X.]e Abziehbarkeit von Beiträgen zur Krankenversicherung bei gleichzeitiger Steuerfreiheit der bezogenen Leistungen (vgl. § 3 Nr. 1 Buchst. a EStG) eine Menschenrechtsverletzung darstellen könnte.

dd) Weshalb die Weitergeltungsanordnung eine --nach Art. 14 [X.] verbotene-- Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, politischen oder sonstigen Anschauungen, nationaler oder [X.] Herkunft, Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder des sonstigen Status darstellen soll, ist nicht ersichtlich.

Die Kläger berufen sich zwar darauf, dass diese Konventionsnorm auch eine Diskriminierung aufgrund des "Vermögens" verbietet. Art. 14 [X.] dient in seiner Gesamtausrichtung jedoch erkennbar dem Minderheitenschutz. Die Frage der [X.]en Abziehbarkeit von [X.] betrifft jedoch nicht lediglich eine Minderheit, sondern nahezu die Gesamtheit aller Steuerpflichtigen.

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass das EStG nicht an das Vermögen, sondern an das Einkommen anknüpft. Der bisherigen Rechtsprechung des [X.] ist nicht zu entnehmen, dass der Gerichtshof nationale gesetzliche Regelungen über die Einkommensteuer als Diskriminierung aufgrund des Vermögens ansehen könnte.

Das von den Klägern angeführte Urteil des [X.] vom 28. November 1984  9/1983/65/100 ([X.] 1985, 511) betrifft die Vaterschaftsfeststellung und -anfechtung; derartige Sachverhalte sind schon im Ausgangspunkt nicht mit der von den Klägern angegriffenen Weitergeltungsanordnung vergleichbar.

c) Soweit die Kläger dem [X.] umfangreiche Ausführungen zur Zulässigkeit von Vorläufigkeitsvermerken und Teileinspruchsentscheidungen unterbreitet haben, sind diese für das vorliegende Verfahren nicht entscheidungserheblich. Denn weder ist gegen die Kläger eine Teileinspruchsentscheidung ergangen, noch ist den angefochtenen Verwaltungsakten in derjenigen Gestalt, in der sie Gegenstand des Klage- und Revisionsverfahrens sind, ein Vorläufigkeitsvermerk hinsichtlich der beschränkten Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen beigefügt worden.

2. Hinsichtlich der Beiträge an die [X.]anstalt für Arbeit (heute: Beiträge zu Versicherungen gegen Arbeitslosigkeit) ist weder ein Sonderausgabenabzug in voller Höhe (dazu unten a) noch eine Berücksichtigung im Wege des negativen Progressionsvorbehalts (dazu unten b) verfassungsrechtlich geboten.

a) Der Gesetzgeber ist verfassungsrechtlich nicht verpflichtet, Beiträge an die [X.]anstalt für Arbeit bzw. zu Versicherungen gegen Arbeitslosigkeit einkommensteuerlich in vollem Umfang zum Abzug zuzulassen (ebenso im Ergebnis bereits [X.]surteil vom 18. November 2009 [X.], [X.], 137, [X.] 2010, 282, unter [X.].3.b cc).

In seiner Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit der [X.] geltenden Regelungen zur Abziehbarkeit von Beiträgen zu privaten Kranken- und Pflegeversicherungen hat das [X.] "streng auf das [X.] gewährleistete Leistungsniveau als eine das [X.] quantifizierende Vergleichsebene" abgestellt. Es hat --entgegen den Ausführungen des Prozessbevollmächtigten der Kläger in der mündlichen [X.] eine verfassungsrechtliche Pflicht, unter dem Gesichtspunkt der "Zwangsläufigkeit" Ausgaben bis zur Höhe der [X.] zum Abzug von der einkommensteuerlichen Bemessungsgrundlage zuzulassen, ausdrücklich verneint. Denn das Prinzip der Steuerfreiheit des [X.]s gewährleiste dem Steuerpflichtigen lediglich den Schutz des Lebensstandards auf [X.], nicht aber auf dem Niveau, das durch die Leistungen der gesetzlichen Sozialversicherung erreicht werden könne (zum Ganzen [X.]-Beschluss in [X.]E 120, 125, unter D.I[X.]3.).

Der gesetzliche Leistungskatalog der Sozialhilfe enthielt aber weder [X.] eine Verpflichtung der Sozialhilfeträger zur Übernahme von Beiträgen an die [X.]anstalt für Arbeit noch ist im gegenwärtigen Sozialhilferecht nach dem [X.] ([X.]) eine Verpflichtung zur Übernahme von Beiträgen zu [X.] vorgesehen. Vielmehr wird das Risiko der Arbeitslosigkeit und des damit verbundenen Wegfalls des Erwerbseinkommens bereits durch die [X.] berücksichtigt. Das dadurch quantifizierte [X.] wird [X.] indes --in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise ([X.]surteil vom 18. November 2009 [X.]/07, [X.], 99, [X.] 2010, 414, unter [X.][X.])-- durch den Grundfreibetrag steuerfrei gestellt. Damit unterscheidet sich die [X.]e Rechtslage hinsichtlich der Beiträge zu [X.] grundlegend von den insoweit geltenden Regelungen zur Kranken- und Pflegeversorgung, nach denen [X.] entweder die Übernahme der zu zahlenden Beiträge oder aber die Gewährleistung von Kranken- und Pflegeversorgung zusätzlich zum [X.] vorgesehen war und ist (vgl. für das Jahr 1997 §§ 13, 36 ff., 68 ff. des [X.]sozialhilfegesetzes; heute §§ 32, 47 ff., 61 ff. [X.]).

Unzutreffend ist die Auffassung der Kläger, aus dem --ohnehin erst nach den Streitjahren in [X.] [X.] ([X.]) folge, dass mit den Beiträgen an die [X.]anstalt bzw. [X.]agentur für Arbeit ausschließlich Leistungen finanziert würden, die das Niveau der Existenzsicherung nicht überschritten. Die Kläger beziehen sich insoweit auf die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem [X.] ("[X.]"). Dabei verkennen sie, dass diese Leistungen gerade nicht aus Beitragsmitteln, sondern [X.] wie die Sozialhilfe und die frühere [X.] vom [X.] finanziert werden (§ 46 Abs. 1 [X.]; vgl. hierzu auch [X.]-Beschluss vom 8. November 2011  1 BvR 2007/11, Die Sozialgerichtsbarkeit 2012, 25). Nichts anderes folgt aus dem Hinweis der Kläger auf die Vorschrift des § 46 Abs. 4 [X.]. Denn der dort genannte Finanzierungsanteil der [X.]agentur für Arbeit betrifft lediglich Leistungen zur Eingliederung in Arbeit sowie entsprechende Verwaltungskosten. Dabei handelt es sich aber nicht um existenzsichernde Geldleistungen, sondern um arbeitsmarktpolitische Maßnahmen.

b) Die Kläger haben keinen verfassungsrechtlichen Anspruch darauf, dass ihre Beiträge an die [X.]anstalt für Arbeit im Wege des negativen Progressionsvorbehalts zu einer zusätzlichen einkommensteuerlichen Entlastung führen.

aa) Anders als das Finanzgericht offenbar meint, kennt das Einkommensteuerrecht auch einen negativen Progressionsvorbehalt (vgl. u.a. [X.] vom 13. November 2002 [X.], [X.], 73, [X.] 2003, 795; zuletzt [X.]-Urteil vom 9. Juni 2010 [X.]/09, [X.], 35, unter B.[X.]4.).

bb) Dieser beschränkt sich indes auf den Bereich der Betriebsausgaben und Werbungskosten sowie der negativen Einnahmen. Dies folgt aus § 32b EStG. Denn in § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG 1990 (ab 1996 § 32b Abs. 1 Nr. 2 und 3 EStG; heute § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 bis 5 EStG) ist ausdrücklich der Begriff der "Einkünfte" verwendet, auf deren Höhe sich Sonderausgaben gemäß § 2 Abs. 4 EStG nicht auswirken. In § 32b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG findet sich dieser Begriff zwar nicht unmittelbar; dort sind aber ausschließlich Lohn- und Einkommensersatzleistungen (so zutreffend [X.] in [X.]/[X.]/[X.], § 32b EStG [X.], Stand Januar 2005) enumerativ aufgeführt, die ihrem Wesen nach grundsätzlich zu den steuerbaren Einnahmen gehören (vgl. auch § 24 Nr. 1 Buchst. a EStG). Dies zeigt, dass --neben negativen [X.] nur Aufwendungen im Bereich der Einkunftserzielung einen negativen Progressionsvorbehalt auslösen können (ebenso [X.]-Urteil vom 3. November 2010 [X.], [X.], 773, unter I[X.]3.).

Die von den Klägern gezahlten Beiträge stellen jedoch weder negative Einnahmen --dies ist unstreitig-- noch Werbungskosten dar. Denn der Gesetzgeber hat die Vorsorgeaufwendungen mit konstitutiver Wirkung --und Vorrang gegenüber der allgemeinen Regelung des Einleitungssatzes des § 10 Abs. 1 EStG-- den Sonderausgaben zugewiesen und ihren Abzug nur in den Grenzen der in § 10 Abs. 3 EStG 1990/1997 bestimmten Höchstbeträge zugelassen. Zur näheren Begründung verweist der [X.] auf seine --zu Altersvorsorgeaufwendungen ergangenen-- Entscheidungen vom 1. Februar 2006 [X.], [X.], 242, [X.] 2006, 420, unter I[X.]5., und in [X.], 137, [X.] 2010, 282, unter B.[X.][X.]). Diese auch hinsichtlich der Beiträge zur [X.]anstalt für Arbeit geltende und verfassungsrechtlich nicht zu beanstandende gesetzgeberische Zuordnungsentscheidung liefe leer, wenn denjenigen Steuerpflichtigen, bei denen der Abzug dieser Beiträge durch § 10 Abs. 3 EStG 1990/1997 begrenzt ist, ersatzweise ein Wahlrecht auf Anwendung des negativen Progressionsvorbehalts zustehen würde.

Im Übrigen folgt aus der Systematik des § 32b EStG, dass ein negativer Progressionsvorbehalt überhaupt nur dann in Betracht kommen kann, wenn ein Abzug der entsprechenden Aufwendungen zum Regeltarif bereits dem Grunde nach nicht möglich ist. Das ist hinsichtlich der von den Klägern gezahlten Beiträge nicht der Fall. Auch stellt § 32b EStG keinen Auffangtatbestand für den Abzug solcher Aufwendungen dar, die bei Ermittlung der tariflichen Einkommensteuer zwar dem Grunde nach abziehbar sind, deren Berücksichtigung im Einzelfall jedoch daran scheitert, dass ein im Gesetz bestimmter Höchstbetrag überschritten ist.

cc) Der Hinweis der Kläger auf die neuere Rechtsprechung des V[X.] [X.]s des [X.], wonach im Bereich der Berufsausbildungskosten (§ 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG) aufgrund des Einleitungssatzes des § 10 Abs. 1 EStG der Werbungskostenabzug vorrangig vor dem Abzug als Sonderausgaben sei ([X.]-Urteil vom 28. Juli 2011 [X.] R 38/10, NJW 2011, 2909, unter I[X.]1.c; vgl. aber § 4 Abs. 9 und § 9 Abs. 6 EStG in der Fassung des [X.] sowie zur Änderung steuerlicher Vorschriften, [X.], 2592), steht dem nicht entgegen. Denn der Vorschrift des § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG verbleibt auch bei Zugrundelegung der Auslegung des V[X.] [X.]s noch ein gewisser eigener Anwendungsbereich, weil von ihr auch solche Ausbildungskosten erfasst werden, die der Steuerpflichtige ohne die Absicht, hieraus später steuerpflichtige Einnahmen zu erzielen, trägt. So weist der V[X.] [X.] ausdrücklich darauf hin, dass der Gesetzgeber durch die Einfügung des § 10 Abs. 1 Nr. 7 EStG Abzugsmöglichkeiten habe schaffen wollen, die nach der seinerzeitigen Rechtslage im Bereich der Betriebsausgaben bzw. Werbungskosten nicht bestanden hätten ([X.]-Urteil vom 17. Dezember 2002 [X.] R 137/01, [X.], 211, [X.] 2003, 407, unter I[X.]3.c). Demgegenüber verbliebe für den vom Gesetzgeber für die Beiträge zur [X.]anstalt für Arbeit ausdrücklich vorgesehenen [X.] keinerlei Anwendungsbereich mehr, wenn diese Beiträge entsprechend der Auffassung der Kläger den Werbungskosten zuzuordnen wären. Eine solche Auslegung würde aber den klaren Willen des historischen Gesetzgebers missachten (so bereits [X.]sbeschluss in [X.], 242, [X.] 2006, 420, unter I[X.]5.b). Auch der V[X.] [X.] hat die Rechtsprechung des erkennenden [X.]s zu den Vorsorgeaufwendungen unberührt lassen wollen, was sich schon daran zeigt, dass die Rechtsprechung zu den Ausbildungskosten ohne Divergenzanfrage ergangen ist.

Mit dem Argument, der [X.] weiche von der Rechtsprechung des [X.]. [X.]s zu [X.] zwischen Ehegatten ab (z.B. [X.]-Urteil vom 8. März 2006 [X.] R 107/00, [X.], 511, [X.] 2006, 446), hat sich der [X.] bereits in seinem Urteil in [X.], 99, [X.] 2010, 414 (unter B.[X.][X.] ddd) auseinandergesetzt. Da die Kläger insoweit keine neuen Argumente vorbringen, ist auf die genannte Entscheidung zu verweisen.

3. Ein Ruhen oder Aussetzen des Verfahrens kommt nicht in Betracht.

a) Für das von den Klägern beantragte Ruhen des Verfahrens gilt dies schon deshalb, weil hierfür gemäß § 251 der Zivilprozessordnung [X.]. § 155 FGO ein übereinstimmender Antrag beider Beteiligten erforderlich wäre, an dem es jedoch fehlt.

b) Eine Aussetzung des Verfahrens in analoger Anwendung des § 74 FGO im Hinblick auf die von den Klägern angeführten Verfahren vor dem [X.] und dem [X.] ist ebenfalls nicht angebracht. Diese Verfahren betreffen lediglich Teilaspekte des vorliegend zu beurteilenden Streitstoffs. Allein der Umstand, dass gegen bestimmte Entscheidungen des [X.]s Verfassungsbeschwerden eingelegt worden sind, begründet noch kein überwiegendes Interesse anderer Rechtsmittelführer an der Aussetzung (vgl. [X.] vom 8. November 2007 [X.]II B 170/06, [X.] 2008, 580, unter I[X.]2., m.w.N.). Gleiches gilt für den Umstand, dass gegen eine Entscheidung des [X.] eine Beschwerde beim [X.] eingelegt worden ist.

In Bezug auf das beim [X.] anhängige Verfahren weist der [X.] zudem darauf hin, dass die Entscheidungsbefugnis des [X.] nicht so weit reicht wie die des [X.]. Das [X.] kann auch im Verfahren der Urteilsverfassungsbeschwerde ein Gesetz, auf dem die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Entscheidung beruht, für nichtig erklären (§ 95 Abs. 3 Satz 2 [X.]G). Diese Nichtigkeitserklärung hat Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 [X.]G) und wirkt damit unmittelbar für und gegen alle. Demgegenüber kann der [X.] im Falle einer Verletzung der [X.] lediglich dem Beschwerdeführer im anhängigen Einzelfall eine "gerechte Entschädigung" zusprechen (Art. 41 [X.]); eine Verwerfung von Normen des nationalen Rechts mit Wirkung für und gegen alle ist dem [X.] nicht möglich. Die analoge Anwendung des § 74 FGO in Fällen anhängiger Musterverfahren vor dem [X.] ist damit begründet worden, dass allein das [X.] "verbindlich über die umstrittene Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Regelung entscheiden kann" ([X.] vom 7. Februar 1992 [X.], 25/91, [X.]E 166, 418, [X.] 1992, 408, unter 2.b). Diese Begründung hebt ersichtlich auf die negative Gesetzkompetenz des [X.] ab. Fehlt den Entscheidungen eines Obergerichts hingegen diese "[X.]", kommt eine auf eine analoge Anwendung des § 74 FGO gestützte Aussetzung des Verfahrens nicht in Betracht (vgl. --zur Berufung auf Musterverfahren, die vor dem [X.] anhängig sind-- [X.]-Entscheidungen vom 18. September 2002 [X.]/01, [X.] 2003, 189, und vom 23. Juli 2003 [X.]/02, [X.]E 203, 114, [X.] 2003, 926, unter I[X.]1.).

Im Übrigen machen die Kläger bereits jetzt geltend, die Verfahrensdauer sei zu lang. Durch eine Aussetzung des Verfahrens würde sich die Verfahrensdauer aber noch wesentlich verlängern.

Meta

X R 15/09

16.11.2011

Bundesfinanzhof 10. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 8. Oktober 2008, Az: 7 K 4351/01 B, Urteil

Art 3 Abs 1 GG, § 10 Abs 3 EStG 1990, § 10 Abs 3 EStG 1997, § 32b Abs 1 S 1 Nr 1 EStG 1997, § 31 Abs 2 BVerfGG, § 35 BVerfGG, Art 5 MRK, Art 6 MRK, Art 8 MRK, Art 14 MRK, § 32b Abs 1 S 1 Nr 1 EStG 1990, § 74 FGO, Art 100 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 16.11.2011, Az. X R 15/09 (REWIS RS 2011, 1366)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 1366

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

I R 61/13 (Bundesfinanzhof)

Progressionsvorbehalt - Sozialversicherungsbeiträge französischer Beamter, Ermittlung der Einkünfte, Zuflussprinzip für Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit - …


X R 17/22 (Bundesfinanzhof)

(Anwendung des Abzugsverbots des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 des Einkommensteuergesetzes bei …


X R 25/21 (Bundesfinanzhof)

Kein Sonderausgabenabzug für Vorsorgeaufwendungen bei Bezug von steuerfreiem Arbeitslohn aus einer Tätigkeit in einem Drittstaat


I R 55/20 (Bundesfinanzhof)

Unionsrechtmäßigkeit des Ausschlusses des Sonderausgabenabzugs für Sozialversicherungsbeiträge eines in Österreich tätigen Arbeitnehmers


I R 62/13 (Bundesfinanzhof)

Unionsrechtmäßigkeit des Ausschlusses des Sonderausgabenabzugs für Sozialversicherungsbeiträge im Ausland tätiger Arbeitnehmer


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

2 BvR 329/09

1 BvR 2007/11

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.