Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 11.02.2022, Az. 2 BvR 723/20

2. Senat 2. Kammer | REWIS RS 2022, 1303

Foto: © Bundesverfassungsgericht │ foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg

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Gegenstand

Nichtannahmebeschluss: Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde wegen Subsidiarität bei unterbliebener Gehörsrüge im fachgerichtlichen Verfahren - Möglichkeit der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör bei rein formaler Entscheidung über Antrag auf gerichtliche Entscheidung gem § 172 Abs 2 S 1 StPO ohne hinreichende Berücksichtigung des Vorbringens zur Verletzteneigenschaft - grundrechtlicher Anspruch auf effektive Strafverfolgung ggf auch bzgl Straftatbeständen zum Schutz der Rechtspflege


Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe

1

Der Beschwerdeführer wendet sich gegen einen Beschluss des [X.], mit dem sein Antrag auf Durchführung eines Klageerzwingungsverfahrens wegen Rechtsbeugung und Strafvereitelung im Amt verworfen worden ist.

2

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen (§ 93a Abs. 2 [X.]), weil sie unzulässig ist.

3

Die Verfassungsbeschwerde wird dem Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde nicht gerecht (§ 90 Abs. 2 [X.]), weil der Beschwerdeführer gegen die Entscheidung des [X.] keine Anhörungsrüge erhoben hat.

4

1. Nach § 90 Abs. 2 Satz 1 [X.] ist die Verfassungsbeschwerde erst nach Erschöpfung des Rechtswegs zulässig. Dabei gehört das [X.] zum Rechtsweg, wenn der Beschwerdeführer eine Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG geltend macht (vgl. [X.] 122, 190 <198> m.w.N.; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 28. Oktober 2019 - 2 BvR 962/19 -, Rn. 3). Das gilt auch dann, wenn er die Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG zwar nicht ausdrücklich, aber der Sache nach rügt (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 7. Oktober 2016 - 2 BvR 1313/16 -, Rn. 3 ff.). Eine Ausnahme kann dann vorliegen, wenn das [X.] offensichtlich aussichtslos gewesen wäre. Eine solche offensichtliche Aussichtslosigkeit ist vom Beschwerdeführer darzulegen (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 10. Oktober 2019 - 2 BvR 914/16 -, Rn. 13).

5

Wird eine zulässige und nicht offensichtlich aussichtslose Anhörungsrüge nicht erhoben, kann der Beschwerdeführer auch die Verletzung anderer Grundrechte nicht mehr rügen, sofern die Grundrechtsverletzungen denselben Streitgegenstand betreffen (vgl. [X.] 134, 106 <113 Rn. 22>; s. ferner auch [X.]K 5, 337 <339>; [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 7. Oktober 2016 - 2 BvR 1313/16 -, Rn. 13; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 14. Dezember 2018 - 2 BvR 1594/17 -, Rn. 18; Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 8. Juli 2019 - 2 BvR 453/19 -, Rn. 13). Der Beschwerdeführer muss das [X.] auch dazu nutzen, um auf die Beseitigung anderer Grundrechtsverletzungen hinzuwirken.

6

2. Nach diesen Anforderungen hätte der Beschwerdeführer eine Anhörungsrüge - hier nach § 33a Satz 1 [X.] - gegen die Entscheidung des [X.] vom 4. März 2020 erheben müssen.

7

a) Art. 103 Abs. 1 GG garantiert den Beteiligten an einem gerichtlichen Verfahren die Gelegenheit, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern (vgl. [X.] 1, 418 <429>; 84, 188 <190>; stRspr), und dass die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen werden (vgl. [X.] 11, 218 <220>; 70, 215 <218>; 72, 119 <121>; 79, 51 <61>; 83, 24 <35>; 86, 133 <145>; 96, 205 <216>). Zwar ist ein Gericht nicht verpflichtet, jedes Vorbringen ausdrücklich zu bescheiden (vgl. [X.] 86, 133 <146>). Vielmehr ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das zuständige Gericht das Vorbringen eines Beteiligten zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen hat, solange nicht im Einzelfall aus besonderen Umständen das Gegenteil deutlich wird (vgl. [X.] 65, 293 <295 f.>; 70, 288 <293>; 86, 133 <146>).

8

b) Der Beschwerdeführer rügt mit seiner Verfassungsbeschwerde zwar nicht ausdrücklich einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG, sondern nur eine Verletzung von Art. 19 Abs. 4 und Art. 3 Abs. 1 GG. Er macht jedoch geltend, dass sich das [X.] nicht mit den Argumenten seines Antrags auf gerichtliche Entscheidung auseinandergesetzt habe und dass es seinem Beschluss an einer nachvollziehbaren Begründung fehle. Dies stellt sich der Sache nach als Rüge einer Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG dar, weil es im [X.] um den Vorwurf geht, dass sich das [X.] mit seinem [X.] inhaltlich nicht befasst und sein Vorbringen nicht zur Kenntnis genommen habe. Dies hätte im Rahmen des Verfahrens der Anhörungsrüge geklärt werden können.

9

3. Vor diesem Hintergrund kann dahin stehen, dass die äußerst knappe Begründung des [X.]s im Beschluss vom 4. März 2020 eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG durchaus naheliegend erscheinen lässt.

Die Generalstaatsanwaltschaft ist davon ausgegangen, dass dem Beschwerdeführer eine Verletzteneigenschaft im Sinne von § 172 Abs. 1 Satz 1 [X.] nicht zukomme, und hat seinen Antrag daher als Dienstaufsichtsbeschwerde behandelt. Sowohl in seinem Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 30. April 2019 als auch in seinem ergänzenden Schriftsatz vom 7. August 2019 hat sich der Beschwerdeführer damit auseinandergesetzt, ob im vorliegenden Fall eine Rechtsverletzung im Sinne von § 172 Abs. 1 Satz 1 [X.] vorlag. Das [X.] ist in seinem Beschluss vom 4. März 2020 darauf nicht eingegangen, sondern hat die Verwerfung des Antrags ausschließlich damit begründet, dass ein Bescheid der Generalstaatsanwaltschaft, gegen den sich der Beschwerdeführer im Wege des § 172 Abs. 2 Satz 1 [X.] wenden könne, fehle.

4. Es spricht zudem viel dafür, dass das [X.] mit dieser rein formalen Betrachtung Bedeutung und Tragweite des Rechts auf effektive Strafverfolgung und den damit verbundenen Prüfungsumfang (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 15. Januar 2020 - 2 BvR 1763/16 -, Rn. 54 f.) verkannt hat. Die Annahme des Beschwerdeführers, er sei Verletzter im Sinne von § 172 Abs. 1 Satz 1 [X.], erscheint jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen. Nach der Rechtsprechung der Kammer kann ein grundrechtlich radizierter individueller Anspruch auf effektive Strafverfolgung in Betracht kommen, wenn der Vorwurf im Raum steht, dass Amtsträger bei Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben Straftaten begangen haben und ein Verzicht auf eine effektive Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in die Integrität staatlichen Handelns führen kann. Insoweit muss bereits der Anschein vermieden werden, dass gegen [X.] des Staates weniger effektiv ermittelt wird oder dass insoweit erhöhte Anforderungen an eine Anklageerhebung gestellt werden (vgl. [X.], Beschluss der [X.] des Zweiten Senats vom 26. Juni 2014 - 2 BvR 2699/10 -, Rn. 11; [X.], in: [X.], [X.], 62. Aufl. 2019, § 172 Rn. 1a). Das gilt auch für Straftatbestände, die die Rechtspflege schützen sollen.

Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 [X.] abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Meta

2 BvR 723/20

11.02.2022

Bundesverfassungsgericht 2. Senat 2. Kammer

Nichtannahmebeschluss

Sachgebiet: BvR

vorgehend OLG Frankfurt, 4. März 2020, Az: 1 Ws 118/19, Beschluss

Art 103 Abs 1 GG, § 90 Abs 2 S 1 BVerfGG, § 33a StPO, § 172 Abs 1 S 1 StPO, § 172 Abs 2 S 1 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschluss vom 11.02.2022, Az. 2 BvR 723/20 (REWIS RS 2022, 1303)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2022, 1303

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Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

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