Bundessozialgericht, Beschluss vom 19.08.2021, Az. B 10 ÜG 11/20 B

10. Senat | REWIS RS 2021, 3166

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - rechtliches Gehör - Überraschungsentscheidung - bereits in einem vorangegangenen Urteil vertretene Rechtsansicht - überlange Verfahrensdauer - Entschädigungsklage - Angemessenheitsprüfung - Gesamtbetrachtung - Vorbereitungs- und Bedenkzeiten - instanzübergreifende Verrechnung - grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache - sozialgerichtliches Verfahren - Verzicht des Beklagten auf eine schriftliche Äußerung - Amtsermittlungspflicht des Gerichts auch bei schlüssiger Klage - keine Dispositionsmaxime


Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des [X.] vom 1. Juli 2020 wird als unzulässig verworfen.

Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert wird auf 2400 Euro festgesetzt.

Gründe

1

I. Der Kläger begehrt Entschädigung wegen der Dauer eines Verfahrens vor dem [X.] und dem Sächsischen L[X.].

2

Der Kläger ist Sozialrichter in [X.]. Bei ihm ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 30 festgestellt. Sein Ausgangsverfahren über einen Anspruch auf Gleichstellung mit schwerbehinderten Menschen gemäß § 2 Abs 3 [X.] dauerte beim [X.] vom 16.6.2014 bis zur Zustellung des [X.] im Februar 2015, beim L[X.] vom 5.3.2015 bis zu einem Vergleichsschluss in der mündlichen Verhandlung am 7.3.2019.

3

Die wegen der Dauer dieses Verfahrens erhobene Entschädigungsklage hat das Entschädigungsgericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung als unbegründet abgewiesen. Zwar seien in der Berufungsinstanz des Ausgangsverfahrens, anders als vor dem [X.], Zeiten der Inaktivität von 23 Monaten festzustellen. Dafür könne der Kläger gleichwohl keine Entschädigung beanspruchen. Von den Zeiten gerichtlicher Inaktivität seien an Vorbereitungs- und Bedenkzeit nicht nur 12 Monate für die Berufungs-, sondern zusätzlich 12 Monate für die [X.] und damit insgesamt 24 Monate abzuziehen. In einer Instanz nicht ausgeschöpfte Vorbereitungs- und Bedenkzeiten könnten zur Kompensation der in einer anderen Instanz eingetretenen Verzögerung herangezogen werden (Urteil vom 1.7.2020).

4

Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat der Kläger Beschwerde zum B[X.] eingelegt. Das Entschädigungsgericht habe eine Überraschungsentscheidung getroffen und die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache verkannt.

5

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig. Die Begründung verfehlt die gesetzlichen Anforderungen, weil sie weder den behaupteten Verfahrensmangel noch eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ordnungsgemäß dargetan hat (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 [X.]G).

6

1. Soweit der Kläger als Verfahrensmangel rügt, das Entschädigungsgericht habe durch das instanzübergreifende [X.] der Vorbereitungs- und Bedenkzeiten eine Überraschungsentscheidung getroffen und dadurch seinen Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 [X.]G) verletzt, verfehlen seine Ausführungen die Darlegungsanforderungen.

7

Der geltend gemachte Verfahrensmangel einer Überraschungsentscheidung ist nicht schlüssig bezeichnet. Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern. Zudem gewährleistet der Anspruch auf rechtliches Gehör nur, dass ein Beteiligter mit seinem Vortrag "gehört", nicht jedoch "erhört" wird. Die Gerichte werden durch Art 103 Abs 1 GG nicht dazu verpflichtet, seiner Rechtsansicht zu folgen (stRspr; vgl zB B[X.] Beschluss vom 28.9.2018 - [X.] V 21/18 B - juris RdNr 11; B[X.] Beschluss vom 20.11.2018 - [X.] [X.] 43/18 B - juris RdNr 9).

8

Um den Anspruch auf rechtliches Gehör und damit zugleich das Gebot fairen Verfahrens (B[X.] Beschluss vom [X.] KR 73/19 B - juris RdNr 12; B[X.] Beschluss vom 7.8.2014 - B 13 R 441/13 B - juris RdNr 12) zu wahren, darf das Gericht seine Entscheidung aber nicht auf einen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützen, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger [X.] selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen bei Anwendung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (vgl stRspr; zB B[X.] Beschluss vom 2.12.2015 - [X.] V 12/15 B -juris RdNr 20 mwN).

9

Nach diesen Vorgaben hätte der Kläger darlegen müssen, warum er bei seinem Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs 2 [X.]G mit dem Rechtsstandpunkt des Entschädigungsgerichts nicht zu rechnen brauchte, in der [X.] nicht in Anspruch genommene Vorbereitungs- und Bedenkzeit sei bei der Bestimmung der angemessenen Prozessdauer in der Berufungsinstanz zu berücksichtigen.

Nach der Rechtsprechung des Senats ist einerseits eine Verfahrensdauer von bis zu 12 Monaten je Instanz regelmäßig als angemessen anzusehen, selbst wenn sie nicht durch konkrete Verfahrensförderungsschritte begründet und gerechtfertigt werden kann (sog Vorbereitungs- und Bedenkzeit; vgl Senatsurteil vom [X.] - [X.] ÜG 12/13 R - [X.] 4-1720 § 198 [X.] RdNr 54 mwN). Zeiten fehlender Verfahrensförderung durch das Gericht können andererseits in davor oder danach liegenden Verfahrensabschnitten ausgeglichen werden (Senatsurteil vom [X.] - [X.] ÜG 12/13 R - [X.] 4-1720 § 198 [X.] RdNr 51; Senatsurteil vom [X.] - [X.] ÜG 2/13 R - B[X.]E 117, 21 = [X.] 4-1720 § 198 [X.], Rd[X.]3 mwN). Die Beschwerde legt nicht dar, was sich aus der Zusammenschau dieser beiden Rechtssätze für die Frage ableiten lässt, ob und in welchem Umfang das Berufungsgericht die genannte [X.] dazu nutzen darf, eine nicht voll ausgeschöpfte Vorbereitungs- und Bedenkzeit des [X.] instanzübergreifend auf die eigene Vorbereitungs- und Bedenkzeit aufzuschlagen (vgl [X.] in [X.][X.], jurisPK-[X.]G, § 198 GVG RdNr 81, Stand 10.12.2020).

Das Entschädigungsgericht hatte die Frage der Übertragbarkeit bereits in einem vorangegangenen Urteil bejaht (Sächsisches L[X.] Urteil vom 29.3.2017 - L 11 SF 70/16 EK - juris Rd[X.]4), ebenso wie das L[X.] Berlin-Brandenburg (Gerichtsbescheid vom 6.11.2019 - L 38 SF 323/18 [X.] - juris RdNr 28; Urteil vom [X.] - L 37 SF 101/18 [X.] WA - juris RdNr 65) und das L[X.] Hamburg (Urteil vom [X.] - L 1 SF 6/15 EK - juris RdNr 27).

Das Entschädigungsgericht hat die angegriffene Entscheidung demnach auf eine Rechtsansicht gestützt, die es selbst bereits in einem vorangegangenen Urteil vertreten hatte. Zudem hatten zwei weitere Entschädigungsgerichte ihren Entscheidungen eine vergleichbare Ansicht zugrunde gelegt. Daher hätten der Kläger als Sozialrichter und der von ihm bevollmächtigte Rechtsanwalt darlegen müssen, warum das angegriffene Urteil gleichwohl geeignet war, ohne einen vorhergehenden rechtlichen Hinweis des Gerichts auch einen gewissenhaften und kundigen Prozessbeteiligten zu überraschen. Solche Darlegungen lässt die Beschwerde vermissen. Insbesondere die behauptete - angeblich überraschende - Abweichung von der Senatsrechtsprechung hat sie, wie gezeigt, nicht dargetan.

Ihr Hinweis, der [X.] habe sich nicht zur Sache eingelassen, ändert daran nichts. Ohne normative Grundlage hat Schweigen im Rechtsverkehr regelmäßig keine Erklärungsbedeutung. Ohnehin hat der Kläger nicht stichhaltig dargelegt, warum eine Äußerung des [X.]n zur Rechtslage einen zwingenden Schluss auf die bevorstehende Entscheidung des Entschädigungsgerichts erlauben sollte.

2. Ebenso wenig dargelegt hat der Kläger die behauptete grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache.

Grundsätzliche Bedeutung iS des § 160 Abs 2 Nr 1 [X.]G hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss mithin, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (so genannte Breitenwirkung) darlegen (B[X.] Beschluss vom [X.] - [X.] V 5/20 B - juris RdNr 6 mwN).

Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage, wenn sie höchstrichterlich weder tragend entschieden noch präjudiziert ist und die Antwort nicht von vornherein praktisch außer Zweifel steht, so gut wie unbestritten ist oder sich unmittelbar aus dem Gesetz ergibt. Um die Klärungsbedürftigkeit ordnungsgemäß darzulegen, muss sich der Beschwerdeführer daher ua mit der einschlägigen Rechtsprechung auseinandersetzen (B[X.] Beschluss vom 21.8.2017 - [X.] SB 11/17 B - juris RdNr 8 mwN).

Diese Anforderungen verfehlt die Beschwerdebegründung.

Die Beschwerde hält es für klärungsbedürftig,

ob das Gericht eine schlüssige Klage ohne mündliche Verhandlung als unbegründet abweisen darf, wenn der [X.] der Aufforderung zur Äußerung gemäß § 104 Satz 3 [X.]G nur insoweit nachkommt, als er erklärt, keine Stellungnahme abgeben zu wollen.

Damit hat der Kläger indes schon keine klärungsfähige Rechtsfrage formuliert. Seine Frage benennt kein gesetzliches Tatbestandsmerkmal, dessen Auslegung in allgemeiner Form mit Mitteln der juristischen Auslegung geklärt werden könnte (vgl B[X.] Beschluss vom 11.2.2020 - [X.] SB 49/19 B - juris RdNr 12 f). Ohnehin legt er nicht dar, in welcher Weise die Entscheidung des Gerichts über einen klageweise geltend gemachten Anspruch außerhalb der Konstellationen eines Anerkenntnisses oder Vergleichs nach § 101 [X.]G trotz Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes im Sozialgerichtsprozess davon abhängen sollte, ob der [X.] in der Sache Stellung nimmt. Das Gericht kann eine Erwiderung auf die Klage oder die Berufung nicht erzwingen; insofern besteht allenfalls eine Äußerungsobliegenheit (Mushoff in [X.][X.], jurisPK-[X.]G, § 104 [X.]G RdNr 23, Stand: 19.11.2020).

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 [X.]G).

3. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung [X.] zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2, § 169 Satz 2 und 3 [X.]G).

4. [X.] ergibt sich aus § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 3 [X.]G iVm § 154 Abs 2 VwGO.

5. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs 1 Satz 1 Teilsatz 1 [X.]G iVm § 63 Abs 2 Satz 1, § 47 Abs 1 Satz 1 und Abs 3, § 52 Abs 3 Satz 1 GKG. Die Höhe des Streitwerts entspricht dem vom Kläger beim Entschädigungsgericht geltend gemachten Entschädigungsanspruch.

Meta

B 10 ÜG 11/20 B

19.08.2021

Bundessozialgericht 10. Senat

Beschluss

Sachgebiet: False

vorgehend SG Leipzig, 11. Februar 2015, Az: S 5 AL 184/14, Gerichtsbescheid

§ 160a Abs 2 S 3 SGG, § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 62 SGG, § 101 SGG, § 103 SGG, § 104 S 3 SGG, Art 103 Abs 1 GG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 19.08.2021, Az. B 10 ÜG 11/20 B (REWIS RS 2021, 3166)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 3166

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

B 10 ÜG 4/21 R (Bundessozialgericht)

Überlanges Gerichtsverfahren - Entschädigungsklage - unangemessene Verfahrensdauer - Angemessenheitsprüfung - wertende Gesamtbetrachtung - instanzübergreifende Verrechnung …


B 10 ÜG 2/20 R (Bundessozialgericht)

Überlanges Gerichtsverfahren - Entschädigungsklage - unangemessene Verfahrensdauer - Erkrankung des Richters oder der Richterin - …


B 10 ÜG 1/22 R (Bundessozialgericht)

Überlanges Gerichtsverfahren - unangemessene Verfahrensdauer - keine Geldentschädigung bei objektiv bedeutungsloser Ausgangsklage - Klage gegen …


B 10 ÜG 1/16 R (Bundessozialgericht)

Überlanges Gerichtsverfahren - Ausschluss eines Richters - Mitwirkung am Ausgangsverfahren - tatsächliche Befassung mit der …


B 10 ÜG 3/19 R (Bundessozialgericht)

Überlanges Gerichtsverfahren - Verfahren der Streitwertfestsetzung als eigenständiges Gerichtsverfahren - erhebliche Überlänge - keine Widerlegung …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.