Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 31.01.2011, Az. 20 F 18/10

Fachsenat für Entscheidungen nach § 99 Abs 2 VwGO | REWIS RS 2011, 9944

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Gegenstand

Beeinträchtigung der Aufgabenerfüllung durch Offenlegung der Zusammenarbeitsmodalitäten


Gründe

I.

1

Der Antragsteller, ein [X.] Staatsbürger, begehrt in dem diesem Zwischenverfahren zugrunde liegenden Hauptsacheverfahren vor dem Verwaltungsgericht die Verpflichtung der Beklagten, ihm ein Visum zu erteilen.

2

Der Antragsteller war im April 2007 ausgewiesen worden wegen falscher Angaben zur Erlangung eines Aufenthaltstitels über das Bestehen einer ehelichen Lebensgemeinschaft mit einer [X.] Staatsangehörigen, die er im August 2006 geheiratet hatte. Er verließ daraufhin im Juli 2007 die [X.]. Im August 2008 beantragte er bei der [X.] Botschaft in [X.] ein Visum zum Zweck der Familienzusammenführung und gab an, zu der in [X.] lebenden jetzigen [X.] Ehefrau ziehen zu wollen, die er im August 2007 in [X.] geheiratet hatte. Die Beklagte lehnte den Antrag nach § 5 Abs. 4 in Verbindung mit § 54 Nr. 5 und 5a [X.] ab. Zur Begründung hat sie auf Erkenntnisse anderer Behörden verwiesen, die die Schlussfolgerung rechtfertigten, dass der Kläger international operierende gewaltbereite Jihadisten bzw. deren Strukturen unterstütze und im Klageverfahren erläutert, dass es sich um Erkenntnisse des [X.] handele. Nachdem das Verwaltungsgericht mit Beweisbeschluss der Berichterstatterin vom 16. Juni 2010 - bestätigt durch Beschluss der Kammer vom 20. August 2010 - die Vorlage der Akten angeordnet hat, aus denen sich diese Erkenntnisse ergeben, hat der Beigeladene zu 2 unter dem 21. Juli 2010 eine Sperrerklärung abgegeben. Darin wird ausgeführt, dass die Vorlage von 13 näher bezeichneten Fallakten des [X.] mit den Antragsteller betreffenden Erkenntnissen zur Vermeidung von Nachteilen für das Wohl des [X.] verweigert werde.

II.

3

Der gegen die Sperrerklärung gerichtete Antrag des Antragstellers ist unbegründet. Die Weigerung des Beigeladenen zu 2, dem Verwaltungsgericht die von ihm als entscheidungserheblich angeforderten Akten vorzulegen, ist rechtmäßig. Ob bereits der Beschluss der Berichterstatterin vom 16. Juni 2010 als förmliche Verlautbarung der Entscheidungserheblichkeit genügt, kann dahinstehen (vgl. nur Beschluss vom 22. Januar 2009 - BVerwG 20 F 5.08 - [X.] 310 § 99 VwGO Nr. 53 Rn. 2 m.w.N.). Denn die Kammer des [X.], die ungeachtet der Ankündigung in der Eingangsverfügung mangels Übertragung der Sache auf den Einzelrichter als [X.] zuständig ist, hat mit Beschluss vom 20. August 2010 ihrerseits die Entscheidungserheblichkeit der Akten bejaht und die Entscheidung der Berichterstatterin damit bestätigt. Unter diesen Umständen bestand kein Anlass, den Beigeladenen zu 2, der grundsätzlich erst nach Verlautbarung der Entscheidungserheblichkeit in die gesetzlich geforderte Ermessensabwägung eintreten kann (Beschluss vom 22. Januar 2009 a.a.[X.] Rn. 5), erneut zur Abgabe einer Sperrerklärung aufzufordern (Beschluss vom 8. März 2010 - BVerwG 20 F 11.09 - NJW 2010, 2295 - juris Rn. 7).

4

Nach § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO sind Behörden zur Vorlage von Urkunden oder Akten und zu Auskünften an das Gericht verpflichtet. Wenn das Bekanntwerden des Inhalts dieser Urkunden, Akten oder Auskünfte dem Wohl des [X.] oder eines [X.] Landes Nachteile bereiten würde oder wenn die Vorgänge nach einem Gesetz oder ihrem Wesen nach geheim gehalten werden müssen, kann die zuständige oberste Aufsichtsbehörde die Vorlage der Urkunden oder Akten oder die Erteilung der Auskünfte verweigern (§ 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO).

5

1. Bereitet das Bekanntwerden des Inhalts zurückgehaltener Dokumente dem Wohl des [X.] Nachteile, ist ihre Geheimhaltung ein legitimes Anliegen des Gemeinwohls (stRspr, vgl. nur Beschlüsse vom 7. November 2002 - BVerwG 2 AV 2.02 - NVwZ 2003, 347 und vom 23. März 2009 - BVerwG 20 F 11.08 - juris Rn. 5), das eine Verweigerung der Vorlage gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO rechtfertigen kann. Ein Nachteil in diesem Sinne ist unter anderem dann gegeben, wenn und soweit die Bekanntgabe des Akteninhalts die künftige Erfüllung der Aufgaben der Sicherheitsbehörden einschließlich deren Zusammenarbeit mit anderen Behörden erschweren oder Leben, Gesundheit oder Freiheit von Personen gefährden würde (stRspr, vgl. u.a. Beschlüsse vom 29. Juli 2002 - BVerwG 2 AV 1.02 - BVerwGE 117, 8 = [X.] 310 § 99 VwGO Nr. 27, vom 25. Februar 2008 - BVerwG 20 F 43.07 - juris Rn. 10, vom 3. März 2009 - BVerwG 20 F 9.08 - juris Rn. 7 und vom 2. Juli 2009 - BVerwG 20 [X.] - [X.] 310 § 99 VwGO Nr. 54 Rn. 8).

6

Derartige [X.] hat der Beigeladene zu 2 hier geltend gemacht. Er hat in der Sperrerklärung ausgeführt, dass die zurückgehaltenen Akten Informationen über die Arbeitsweise der [X.] sowie den Inhalt, die Art und den Zeitpunkt der Erlangung bestimmter Erkenntnisse enthalten. Im Falle einer Offenlegung könnten daraus Rückschlüsse gezogen werden auf die Methoden und den aktuellen Kenntnisstand des [X.] sowie auf Zielpersonen aus dem Bereich des islamistischen Extremismus und Terrorismus, von denen eine erhebliche Gefahr für die [X.] ausgehe. Ferner bestehe die Gefahr, dass diese Personen durch eine Offenlegung gewarnt würden; dadurch würde deren weitere Beobachtung erschwert oder verhindert.

7

Der Senat hat sich bei Durchsicht der von dem Beigeladenen zu 2 vorgelegten Aktenstücke des [X.] davon überzeugt, dass die mit der Sperrerklärung geltend gemachten [X.] vorliegen. Die zurückgehaltenen Unterlagen enthalten interne Vermerke des [X.], Korrespondenz mit anderen Behörden, nachrichtendienstlich gewonnenes Erkenntnismaterial des [X.]amtes bzw. anderer Stellen sowie zahlreiche sonstige Hinweise auf den Kenntnisstand und die Vorgehensweise der Sicherheitsbehörden gegenüber Personen, die im Verdacht stehen, gewaltbereite islamistische Gruppen zu unterstützen oder ihnen selbst anzugehören, sowie schließlich Angaben über konkret bezeichnete Zielpersonen. Solche Informationen sind geeignet, Rückschlüsse auf den Erkenntnisstand und die Vorgehensweise der Sicherheitsbehörden zu ermöglichen und ihnen so die künftige Erfüllung ihrer Aufgaben im Bereich der Abwehr von Gefahren durch die in Rede stehenden Personengruppen zu erschweren. Die [X.] erstrecken sich auf den gesamten Akteninhalt. Durch bloße Schwärzungen von Teilen der Akten hätte der Beigeladene zu 2 den Geheimhaltungsinteressen nicht Rechnung tragen können. Von einer weiteren Begründung muss der Senat insoweit gemäß § 99 Abs. 2 Satz 10 VwGO absehen.

8

Die Vermutung des Antragstellers, dass die Akten auch Informationen anderer, etwa ausländischer Sicherheitsdienste enthalten könnten, deren Bekanntgabe nicht geeignet sei, das Wohl des [X.] zu beeinträchtigen, greift unbeschadet der Frage, ob die Vermutung zutrifft, nicht durch. Auch die Offenlegung der Art und Weise einer Zusammenarbeit mit anderen Behörden und der auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse ist geeignet, die künftige Aufgabenerfüllung einer Sicherheitsbehörde zu beeinträchtigen. Der weitere Einwand des Antragstellers, die Gefahr einer Kenntniserlangung von Zielpersonen des [X.] rechtfertige nur die Anonymisierung der Namen der Mitarbeiter des [X.]amtes, beruht offenbar auf einem Fehlverständnis. Mit Zielpersonen sind die von der Sicherheitsbehörde beobachteten Personen gemeint. Allein eine Schwärzung der Namen dieser Personen ließe die vorliegenden [X.] nicht entfallen.

9

2. Die Entscheidung über die Verweigerung der Aktenvorlage bei Geheimhaltungsbedarf erfordert grundsätzlich eine Ermessensausübung gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO. Durch die Ermessenseinräumung wird der obersten Aufsichtsbehörde die Möglichkeit eröffnet, dem öffentlichen Interesse und dem individuellen Interesse der Prozessparteien an der Wahrheitsfindung in dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten Verwaltungsprozess den Vorrang vor dem Interesse an der Geheimhaltung der Schriftstücke zu geben. § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO regelt die Auskunftserteilung und Aktenvorlage im Verhältnis der mit geheimhaltungsbedürftigen Vorgängen befassten Behörde zum Verwaltungsgericht, das in einem schwebenden Prozess für eine sachgerechte Entscheidung auf die Kenntnis der Akten angewiesen ist. In diesem Verhältnis stellt das Gesetz die Auskunftserteilung und Aktenvorlage in das Ermessen der Behörde, lässt dieser also die Wahl, ob sie die Akten oder die Auskunft wegen ihrer Geheimhaltungsbedürftigkeit zurückhält oder ob sie davon um des effektiven Rechtsschutzes willen absieht. Dementsprechend ist ihr auch in den Fällen Ermessen zugebilligt, in denen das [X.] der zuständigen Fachbehörde kein Ermessen einräumt (stRspr, vgl. nur Beschlüsse vom 1. August 2007 - BVerwG 20 F 10.06 - juris Rn. 5 und vom 21. Februar 2008 - BVerwG 20 F 2.07 - BVerwGE 130, 236 = [X.] 310 § 99 VwGO Nr. 46 Rn. 19). Die oberste Aufsichtsbehörde muss in ihrer Sperrerklärung in nachvollziehbarer Weise erkennen lassen, dass sie gemessen an diesem Maßstab die Folgen der Verweigerung mit Blick auf den [X.] gewichtet hat.

Die Sperrerklärung vom 21. Juli 2010 genügt diesen Anforderungen. Der Beigeladene zu 2 hat das ihm durch § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO eingeräumte Ermessen erkannt und die Interessen des [X.] an der Geheimhaltung mit den geläufigen privaten und öffentlichen Interessen an effektivem Rechtsschutz und umfassender Aufklärung des Sachverhalts abgewogen. Dabei hat er insbesondere das Recht des Antragstellers auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG und den durch Art. 6 Abs. 1 GG gewährleisteten Schutz von Ehe und Familie in den Blick genommen, im Ergebnis seiner Abwägung aber den Sicherheitsinteressen der [X.]republik einen höheren Stellenwert eingeräumt. Das lässt unter den Bedingungen dieses Falles keine Ermessensfehler erkennen. Das Fehlen von (ausdrücklichen) Ermessenserwägungen zu einer eventuellen Vorlage wenigstens von Teilen der Akten ist unschädlich. Der Beigeladene zu 2 durfte nach der Beschaffenheit der Unterlagen davon ausgehen, dass auch hinsichtlich einer nur teilweisen Offenlegung die [X.] überwiegen.

Ob die Zurückhaltung der Erkenntnisse des [X.] im Hauptsacheverfahren überhaupt zu einer Erschwerung der Rechtsschutzmöglichkeiten des Antragstellers führen wird, muss das Gericht der Hauptsache unter Berücksichtigung der Regeln der Beweislast und der in der Rechtsprechung insoweit entwickelten Kriterien (vgl. Beschluss vom 1. Februar 1996 - BVerwG 1 [X.] - [X.] 310 § 99 VwGO Nr. 24 S. 8) entscheiden. Dabei wird es auch zu prüfen haben, inwieweit anstelle der als Erkenntnisquelle nicht zur Verfügung stehenden Aktenstücke des [X.] eine zusätzliche, über das bereits vorliegende Behördenzeugnis vom 11. Mai 2009 hinausgehende Konkretisierung möglich und ausreichend ist, um den von der Beklagten angeführten Grund für die Versagung des Visums hinreichend bewerten zu können.

Einer eigenständigen Kostenentscheidung bedarf es im Verfahren vor dem [X.] nach § 99 Abs. 2 VwGO nicht (vgl. dazu Beschluss vom 16. Dezember 2010 - BVerwG 20 F 15.10).

Einer Streitwertfestsetzung bedarf es ebenfalls nicht, da Gerichtsgebühren mangels Gebührentatbestand im Verfahren vor dem [X.] nicht anfallen.

Meta

20 F 18/10

31.01.2011

Bundesverwaltungsgericht Fachsenat für Entscheidungen nach § 99 Abs 2 VwGO

Beschluss

Sachgebiet: F

vorgehend VG Berlin, kein Datum verfügbar, Az: 18 K 24.09 V

§ 99 Abs 2 VwGO

Zitier­vorschlag: Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 31.01.2011, Az. 20 F 18/10 (REWIS RS 2011, 9944)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 9944

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