Bundessozialgericht, Beschluss vom 07.04.2011, Az. B 9 VG 15/10 B

9. Senat | REWIS RS 2011, 7781

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Nichtzulassungsbeschwerde - Verfahrensmangel - Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz - Beweisantrag - hinreichender Grund iS des § 160 Abs 2 Nr 3 für die unterlassene Beweiserhebung - Zurückverweisung


Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird das Urteil des [X.] vom 24. Februar 2010 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Die 1969 geborene Klägerin begehrt die Feststellung von Schädigungsfolgen und die Gewährung von [X.] nach dem Opferentschädigungsgesetz ([X.]) iVm dem [X.] ([X.]). Das beklagte Land lehnte ihren diesbezüglichen Antrag ab, weil sich der geltend gemachte sexuelle Missbrauch, der während der Kindheit der Klägerin durch den eigenen Vater erfolgt sein soll, nicht habe feststellen lassen (Bescheid vom 11.6.2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom [X.]). Das Sozialgericht ([X.]) [X.] hat nach Einholung eines ärztlichen Gutachtens den Beklagten unter Aufhebung der entgegenstehenden Verwaltungsentscheidung verurteilt, der Klägerin "Versorgung nach dem [X.] nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von [X.] zu gewähren" (Urteil des [X.]). Das [X.]-Holsteinische [X.]sozialgericht ([X.]) hat auf die Berufung des beklagten [X.] nach Vernehmung mehrerer Zeugen (Eltern und [X.] der Klägerin; frühere Lehrerinnen der Klägerin; frühere Freundinnen und früheren Freund der Klägerin) das Urteil des [X.] aufgehoben und die Klage abgewiesen, weil nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff iS des § 1 Abs 1 Satz 1 [X.] nicht habe festgestellt werden können (Urteil des [X.] vom [X.]).

2

Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem vorgenannten Urteil hat die Klägerin bei dem [X.] (B[X.]) Beschwerde erhoben, mit der sie ua als Verfahrensmängel geltend macht, das [X.] sei ohne hinreichende Begründung den von ihr gestellten Beweisanträgen nicht gefolgt. Es hätte insbesondere die sie behandelnde [X.] zu dem Beweisthema vernehmen müssen, dass die bei ihr (der Klägerin) festgestellten gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf einen sexuellen Missbrauch in der Kindheit zurückzuführen seien. Frau [X.] habe in ihren Stellungnahmen vom 5.2.2010 die Frage einer möglichen Fremdinduzierung der Erinnerungen an einen sexuellen Missbrauch durch suggestive Befragungen früherer Therapeuten (sog "[X.]") verneint.

3

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des [X.] vom [X.] ist unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 [X.]G) ergangen. Dieser von der Klägerin schlüssig gerügte Verfahrensmangel liegt vor. Er führt gemäß § 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 [X.] [X.]G zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.].

4

Das [X.] hat seine in § 103 [X.]G normierte Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts dadurch verletzt, dass es dem von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung aufrechterhaltenen Beweisantrag, Frau [X.] dazu zu vernehmen, "dass die bei der Klägerin festgestellten gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf einen sexuellen Missbrauch in der Kindheit/Jugend zurückzuführen sind", ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (§ 160 Abs 2 [X.] [X.]G). Für die Frage, ob ein hinreichender Grund für die unterlassene Beweiserhebung (Zeugenvernehmung) vorliegt, kommt es darauf an, ob das Gericht objektiv gehalten gewesen wäre, den Sachverhalt zu dem von dem betreffenden Beweisantrag erfassten Punkt weiter aufzuklären, ob es sich also zur beantragten Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen (stRspr; vgl zB B[X.] [X.] 1500 § 160 [X.] 5). Soweit der Sachverhalt nicht hinreichend geklärt ist, muss das Gericht von allen Ermittlungsmöglichkeiten, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen, Gebrauch machen, insbesondere bevor es eine Beweislastentscheidung trifft. Einen Beweisantrag darf es nur dann ablehnen, wenn es aus seiner rechtlichen Sicht auf die ungeklärte Tatsache nicht ankommt, wenn diese Tatsache als wahr unterstellt werden kann, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder unerreichbar ist, wenn die behauptete Tatsache oder ihr Fehlen bereits erwiesen oder wenn die Beweiserhebung wegen Offenkundigkeit überflüssig ist (vgl B[X.] [X.] 4-1500 § 160 [X.] 12 Rd[X.] 10). Keiner dieser Ablehnungsgründe liegt hier vor, jedenfalls soweit es um die Vernehmung der [X.] zu der Frage geht, ob die Erinnerungen der Klägerin an sexuellen Missbrauch fremdinduziert sind (sog "[X.]").

5

Ausgehend von der insoweit maßgeblichen Rechtsauffassung des [X.], dass nach § 15 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung ([X.]) eine Glaubhaftmachung sexuellen Missbrauchs zur Feststellung eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 Abs 1 Satz 1 [X.] ausreichen könne, hätte sich das [X.] vor Erlass einer Beweislastentscheidung zu Lasten der Klägerin gedrängt fühlen müssen, die [X.] als sachverständige Zeugin dazu zu vernehmen, auf welche Weise die Erinnerungen der Klägerin an sexuellen Missbrauch aufgetaucht sind und welche Erkenntnisse sie (Frau [X.]) veranlasst haben, in ihrer dem Schriftsatz der Klägerin vom [X.] beigefügten Stellungnahme vom 5.2.2010 eine Fremdinduzierung der Erinnerungen (sog "[X.]") zu verneinen.

6

Legt man - wie das [X.] - nach § 15 [X.] den Beweismaßstab der Glaubhaftmachung zugrunde, so reicht für die Feststellung des von der Klägerin behaupteten sexuellen Missbrauchs das Dartun der überwiegenden Wahrscheinlichkeit, dh die gute Möglichkeit, aus, dass der Vorgang sich so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht (vgl B[X.] [X.] 3-3900 § 15 [X.] 4 S 15). Wenn nun - wie die behandelnde [X.] meint - eine Fremdinduzierung der Erinnerungen der Klägerin an sexuellen Missbrauch ausgeschlossen werden kann, wäre nicht ohne Weiteres ersichtlich, warum die Darstellung der vom [X.] als glaubwürdig angesehenen Klägerin, sie sei im Kindesalter von ihrem Vater sexuell missbraucht worden, nicht der Wahrheit entsprechen soll. Soweit das [X.] festgestellt hat, bestimmte Schilderungen der Klägerin ließen sich nicht mit der Wahrnehmung mehrerer Zeugen in Einklang bringen, bezieht sich dies nicht auf den streitigen sexuellen Missbrauch selbst, sondern auf andere Umstände. Abgesehen davon, dass diese Unstimmigkeiten vom [X.] nicht abschließend geklärt worden sind, könnten die betreffenden Angaben der Klägerin möglicherweise auch durch ihre psychische Erkrankung beeinflusst worden sein. Es kommt deshalb unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung des [X.] entscheidend darauf an, ob und inwieweit eine Fremdinduzierung der Erinnerungen der Klägerin ausgeschlossen werden kann.

7

Eine Vernehmung der [X.] als sachverständige Zeugin war auch deshalb erforderlich, weil sich das [X.] in seinem Urteil ansonsten mit der Frage einer Fremdinduzierung der Erinnerungen der Klägerin nicht ausdrücklich befasst hat. Dagegen greifen die vom [X.] pauschal zur Ablehnung einer Vernehmung von behandelnden Ärzten und Psychotherapeuten vorgebrachten Gründe hier schon deshalb nicht durch, weil sie sich nicht darauf beziehen, ob eine Fremdinduzierung der Erinnerungen der Klägerin mit sachkundiger Hilfe - etwa auch aufgrund der Stellungnahme der [X.] vom 5.2.2010 - ausgeschlossen werden kann.

8

Auf dem insoweit verfahrensfehlerhaften Unterlassen weiterer Beweiserhebung kann die angefochtene Entscheidung beruhen, denn es ist nicht ausgeschlossen, dass eine Durchführung der beantragten Zeugenvernehmung (insbesondere zum Ausschluss einer Fremdinduzierung der Erinnerungen der Klägerin) neue Gesichtspunkte ergeben hätte, die möglicherweise dazu geführt hätten, dass das [X.] im Rahmen seiner aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§ 128 Abs 1 Satz 1 [X.]G) zu einem für die Klägerin günstigeren Ergebnis gekommen wäre. Jedenfalls wäre bei Ausschluss einer Fremdinduzierung der Erinnerungen der Klägerin an sexuellen Missbrauch eine neue berufungsgerichtliche Beweiswürdigung erforderlich gewesen, die ggf auch zu Gunsten der Klägerin hätte ausfallen können.

9

Nach § 160a Abs 5 [X.]G kann das B[X.] in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverweisen, wenn - wie hier - die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 [X.] [X.]G vorliegen. Der [X.] macht im Hinblick auf die Umstände des vorliegenden Falles von dieser Möglichkeit Gebrauch.

Im wieder eröffneten Berufungsverfahren wird das [X.] in rechtlicher Hinsicht allerdings davon auszugehen haben, dass die Beweiserleichterung des § 15 [X.] iVm § 6 Abs 3 [X.] nur dann zum Tragen kommt, wenn weder Unterlagen noch sonstige Beweismittel zu beschaffen sind (vgl B[X.]E 65, 123, 125 = [X.] 1500 § 128 [X.]9 S 46).

Das [X.] wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

Meta

B 9 VG 15/10 B

07.04.2011

Bundessozialgericht 9. Senat

Beschluss

Sachgebiet: VG

vorgehend SG Schleswig, 5. März 2008, Az: S 14 VG 1/05, Urteil

§ 160a Abs 5 SGG, § 160 Abs 2 Nr 3 SGG, § 103 SGG

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Beschluss vom 07.04.2011, Az. B 9 VG 15/10 B (REWIS RS 2011, 7781)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 7781

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

B 9 V 54/13 B (Bundessozialgericht)

Nichtzulassungsbeschwerde - sozialgerichtliches Verfahren - Verfahrensmangel - Amtsermittlungsgrundsatz - aussagepsychologische Begutachtung - Nachholung einer unterbliebenen …


B 9 V 4/12 R (Bundessozialgericht)

(Sozialgerichtliches Verfahren - Anforderungen an die Revisionsbegründung - Darlegung einer fehlerhaften Rechtsanwendung - Bezeichnung eines …


B 9 V 1/12 R (Bundessozialgericht)

Soziales Entschädigungsrecht - Gewaltopferentschädigung - Schädigung in der Kindheit - seelische und körperliche Misshandlung - …


B 9 V 3/12 R (Bundessozialgericht)

(Soziales Entschädigungsrecht - Gewaltopferentschädigung - sexueller Missbrauch in der Kindheit - Altfall - fehlender Tatzeuge …


B 9 V 3/15 R (Bundessozialgericht)

(Soziales Entschädigungsrecht - Gewaltopfer - tätlicher Angriff - sozialgerichtliches Verfahren - Beweiserleichterung nach § 15 …


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.