Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 18.04.2012, Az. 5 AZR 630/10

5. Senat | REWIS RS 2012, 7202

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Gegenstand

Lohnwucher - auffälliges Missverhältnis - maßgeblicher Wirtschaftszweig


Leitsatz

Die bei der Ermittlung eines auffälligen Missverhältnisses zwischen Leistung und Gegenleistung iSv. § 138 BGB erforderliche Zuordnung eines Unternehmens des Arbeitgebers zu einem bestimmten Wirtschaftszweig richtet sich nach der durch Unionsrecht vorgegebenen Klassifikation der Wirtschaftszweige.

Tenor

1. Die Revisionen der Kläger und der Klägerin gegen das Urteil des [X.] vom 13. September 2010 - 12 [X.] 1451/09 - werden zurückgewiesen.

2. Die Kosten des Revisionsverfahrens haben der Kläger zu 1. zu 34 %, die Klägerin zu 2. zu 27 % und der Kläger zu 3. zu 39 % zu tragen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die Vergütungshöhe.

2

Die Beklagte ist ein verlagsgebundenes Zustellunternehmen für Tages- und Wochenzeitungen, das sich außerdem mit der Zustellung von Briefen befasst. Bezogen auf die Stückzahlen der zugestellten Sendungen beförderte sie im Kalenderjahr 2009 zu etwa 70 % Zeitungen und Anzeigenblätter, zu 30 % Briefe. Dabei waren von ca. 130 Arbeitnehmern 21 ausschließlich in der Briefzustellung tätig. Dafür unterhält die Beklagte ein zentrales Depot, dessen Leiter die Tätigkeit der Briefzusteller koordiniert. Diese erhalten einheitliche Dienstkleidung und Dienstfahrräder sowie eine Belehrung über das Postgeheimnis.

3

Die Klägerin zu 2. und die Kläger zu 1. und 3. (im Folgenden: Kläger) sind bei der Beklagten als Briefzusteller teilzeitbeschäftigt mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 22,5 Stunden. Sie erhalten eine monatliche Vergütung von 766,94 Euro brutto.

4

Mit ihren - zunächst getrennten - Klagen haben die Kläger unter Berufung auf die Sittenwidrigkeit der Vergütungsvereinbarung für den Zeitraum 1. Januar 2008 bis 30. November 2009 die Differenz zu der Vergütung eines bei der [X.] beschäftigten und in die [X.] 3 des [X.] für Arbeitnehmer der [X.] ([X.]) eingruppierten Arbeitnehmers geltend gemacht. Hilfsweise begehren sie die Differenz zu dem [X.] iHv. 9,80 Euro nach § 3 Abs. 2 Buchst. b des zwischen dem [X.] und der [X.] abgeschlossenen Tarifvertrags über Mindestlöhne für die Branche [X.] vom 29. November 2007 ([X.]). Dieser Tarifvertrag finde auf das Arbeitsverhältnis Anwendung aufgrund der Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen für die Branche [X.] vom 28. Dezember 2007 ([X.]), die wirksam sei. Eine Bindung der Gerichte für Arbeitssachen an die gegenteilige Entscheidung des [X.] (28. Januar 2010 - 8 [X.] 19.19 - BVerwGE 136, 54) bestehe nicht.

5

Die Kläger haben zuletzt sinngemäß beantragt,

        

die Beklagte zu verurteilen,

        

1.    

an den Kläger zu 1. 7.989,23 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach näherer betragsmäßiger und zeitlicher Staffelung zu zahlen;

        

2.    

an die Klägerin zu 2. 6.422,36 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach näherer betragsmäßiger und zeitlicher Staffelung zu zahlen;

        

3.    

an den Kläger zu 3. 9.334,73 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach näherer betragsmäßiger und zeitlicher Staffelung zu zahlen;

        

hilfsweise:

                 

an die Kläger jeweils 4.411,17 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus jeweils 191,79 Euro nach näherer zeitlicher Staffelung zu zahlen.

6

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und geltend gemacht, die Sittenwidrigkeit der Vergütungsvereinbarung könne nicht am [X.] gemessen werden. Sie sei im Wirtschaftszweig Zeitungsvertrieb und nicht im Bereich der [X.] tätig. Für die ihr Geschäft prägende Zustellung von Zeitungen und Anzeigenblättern fordere selbst die [X.] lediglich einen Stundenlohn iHv. 8,00 Euro brutto. Hieran gemessen könne die von der Beklagten gezahlte Vergütung von 7,87 Euro brutto je Stunde nicht sittenwidrig sein. Auf die [X.] könnten sich die Kläger nicht berufen. Diese sei unwirksam.

7

Das Arbeitsgericht hat die Klagen abgewiesen. Das [X.] hat die Berufung der Kläger zurückgewiesen. Mit der vom [X.] zugelassenen Revision verfolgen die Kläger ihre Klageanträge weiter.

Entscheidungsgründe

8

Die Revisionen der Kläger sind unbegründet. Das [X.] hat im Ergebnis zu Recht erkannt, dass die Klagen im Haupt- und Hilfsantrag unbegründet sind.

9

I. Die Kläger haben keinen Anspruch auf eine übliche Vergütung in Höhe der [X.] 3 [X.] AG. Die Höhe ihrer Vergütung ist durch die arbeitsvertragliche Vergütungsvereinbarung bestimmt iSv. § 612 Abs. 2 BGB. Diese ist nicht sittenwidrig.

1. Der objektive Tatbestand sowohl des Lohnwuchers (§ 138 Abs. 2 BGB) als auch des wucherähnlichen Geschäfts (§ 138 Abs. 1 BGB) setzt ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung voraus. Das ist vorliegend nicht der Fall.

a) Ob ein auffälliges Missverhältnis zwischen dem Wert der Arbeitsleistung und der Lohnhöhe in einem Arbeitsverhältnis vorliegt, bestimmt sich nach dem objektiven Wert der Leistung des Arbeitnehmers. Ausgangspunkt der Wertbestimmung sind regelmäßig die Tariflöhne des jeweiligen [X.]. Sie drücken den objektiven Wert der Arbeitsleistung aus, wenn sie in dem betreffenden Wirtschaftsgebiet üblicherweise gezahlt werden. Entspricht der Tariflohn dagegen nicht der verkehrsüblichen Vergütung, sondern liegt diese unterhalb des Tariflohns, ist von dem allgemeinen Lohnniveau im Wirtschaftsgebiet auszugehen ([X.] 24. März 2004 - 5 [X.] - zu I 1 a der Gründe [X.], [X.]E 110, 79). Das Missverhältnis ist auffällig, wenn es einem Kundigen, ggf. nach Aufklärung des Sachverhalts, ohne Weiteres ins Auge springt. Dafür hat das [X.] - in Anknüpfung an die Rechtsprechung des [X.] ([X.] 22. April 1997 - 1 [X.] - [X.]St 43, 53) - einen Richtwert entwickelt. Erreicht die Arbeitsvergütung nicht einmal zwei Drittel eines in dem betreffenden Wirtschaftszweig üblicherweise gezahlten Tariflohns, liegt eine ganz erhebliche, ohne Weiteres ins Auge fallende und regelmäßig nicht mehr hinnehmbare Abweichung vor, für die es einer spezifischen Rechtfertigung bedarf (vgl. dazu im Einzelnen [X.] 22. April 2009 - 5 [X.] - Rn. 17 [X.], [X.]E 130, 338; [X.]/[X.]. 14. Aufl. § 34 Rn. 6 ff.).

b) Welchem Wirtschaftszweig das Unternehmen des Arbeitgebers zuzuordnen ist, richtet sich nach der Klassifikation der Wirtschaftszweige durch das [X.]. Diese Klassifikation beruht auf der Verordnung ([X.]) Nr. 1893/2006 des [X.] und des Rates vom 20. Dezember 2006 zur Aufstellung der statistischen Systematik der Wirtschaftszweige [X.] Revision 2 und zur Änderung der Verordnung ([X.]) Nr. 3037/90 des Rates sowie einiger Verordnungen der [X.] über bestimmte Bereiche der Statistik (ABl. [X.] L 393 vom 30. Dezember 2006 S. 1) in der jeweils geltenden Fassung. Auf ihrer Grundlage erfolgt auch die Erhebung der [X.] nach § 3 des Gesetzes über die Statistik der Verdienste und Arbeitskosten vom 21. Dezember 2006 ([X.] I S. 3291), welches das frühere Lohnstatistikgesetz abgelöst hat. Die vom [X.] herausgegebene Klassifikation der Wirtschaftszweige ist damit im Einklang mit Unionsrecht ein geeigneter und rechtssicher handhabbarer Anknüpfungspunkt für die Bestimmung des maßgeblichen [X.] als Grundlage für die Ermittlung des objektiven Werts einer Arbeitsleistung.

2. Danach kommt der [X.] AG als Ausgangspunkt für die Wertbestimmung der Arbeitsleistung der Kläger nicht in Betracht.

a) Die [X.] unterfällt dem Wirtschaftszweig „Postdienste von Universaldienstleistungsanbietern“ ([X.] Klassifikation der Wirtschaftszweige WZ 2008 Kode 53.1). [X.] sind nach § 11 Abs. 1 [X.] ein [X.] (§ 4 Nr. 1 [X.]), die flächendeckend in einer bestimmten Qualität und zu einem erschwinglichen Preis erbracht werden. Dazu war die [X.] bis zum 31. Dezember 2007 verpflichtet (§ 52 [X.]), seither erbringt sie den Universaldienst freiwillig (vgl. Sondergutachten 62 der [X.] Post 2011: Dem Wettbewerb [X.]hancen öffnen S. 36). Zudem wäre sie nach § 12 Abs. 1 [X.] gehalten, zur Gewährleistung des Universaldienstes beizutragen.

Demgegenüber gehört die Beklagte mit ihrer Briefzustelltätigkeit zu dem Wirtschaftszweig „Sonstige Post-, Kurier- und Expressdienste“ ([X.] Klassifikation der Wirtschaftszweige WZ 2008 Kode 53.2). Sie erbringt keine Universalpostdienstleistungen und unterliegt - mangels Lizenz (§ 5 [X.]) - auch nicht der Verpflichtung nach § 12 Abs. 1 [X.]. Unstreitig übernimmt die Beklagte Postsendungen von [X.] - insbesondere der [X.] GmbH - zum Zwecke der Zustellung als Nachunternehmerin. Sie ist damit Verrichtungs- oder Erfüllungsgehilfe iSd. § 5 Abs. 2 Nr. 1 [X.].

b) Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob die Kläger - was von diesen und den Vorinstanzen nicht näher thematisiert wurde - überhaupt der [X.] 3 [X.] AG unterfielen, also eine Tätigkeit ausüben, die aufgabenbezogene Kenntnisse und Fertigkeiten erfordert, die in der Regel durch eine einschlägige abgeschlossene Berufsausbildung bzw. durch entsprechende anderweitige berufliche Erfahrung erworben werden können.

3. Ob der objektive Wert der Arbeitsleistung der Kläger sich nach dem [X.] bemisst (zur Bestimmung der üblichen Vergütung iSv. § 612 Abs. 2 BGB durch einen Mindestentgelttarifvertrag vgl. [X.] 20. April 2011 - 5 [X.] - Rn. 18, [X.] § 1 Tarifverträge: Bau Nr. 333 = EzA BGB 2002 § 612 Nr. 9; 27. Juli 2010 - 3 [X.] - Rn. 30, [X.]E 135, 187), braucht der [X.] nicht zu entscheiden. Den dort im Streitzeitraum vorgesehenen [X.] von 9,80 Euro je Stunde unterschreitet die arbeitsvertraglich vereinbarte Vergütung nicht um mehr als ein Drittel. Ausgehend von einer monatlichen Vergütung iHv. 766,94 Euro brutto bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 22,5 Stunden beträgt der Stundenlohn der Kläger - unstreitig - 7,87 Euro brutto und damit 80,3 % des Stundenlohns nach § 3 Abs. 2 Buchst. b [X.].

II. Die Kläger haben keinen Anspruch auf einen Stundenlohn iHv. 9,80 Euro brutto nach § 3 Abs. 2 Buchst. b [X.].

1. Die Rechtsnormen dieses Tarifvertrags finden auf das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht kraft beiderseitiger Verbandszugehörigkeit (§ 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 [X.]) Anwendung. Das steht zwischen den Parteien außer Streit. Eine Allgemeinverbindlicherklärung mit der Wirkung des § 5 Abs. 4 [X.] ist nicht erfolgt.

2. Geltungsgrund für die Rechtsnormen des [X.] könnte daher nur § 1 [X.] sein. Diese ist aber wegen Verstoßes gegen § 1 Abs. 3a [X.] aF unwirksam.

a) Zu Recht gehen die Kläger allerdings davon aus, die Gerichte für Arbeitssachen seien nicht an die diesbezügliche Entscheidung des [X.] (28. Januar 2010 - 8 [X.] 19.09 - BVerwGE 136, 54) gebunden.

Rechtskräftige Urteile der Verwaltungsgerichte binden die Beteiligten und ihre Rechtsnachfolger. Beteiligt sind neben Vertretern des öffentlichen Interesses nur der Kläger, der Beklagte und die Beigeladenen (§ 121 Nr. 1, § 63 VwGO). Zu diesem Personenkreis gehören die Kläger des vorliegenden Rechtsstreits nicht. Zudem hängt die Rechtswirksamkeit der [X.] nicht von einem entsprechenden Entscheidungsausspruch in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren ab. Sie ist als Vorfrage in jedem arbeitsgerichtlichen Verfahren, in dem es entscheidungserheblich darauf ankommt, zu prüfen (vgl. [X.] 26. Oktober 2009 - 3 [X.] ZPO § 148 Nr. 9 = EzA ZPO 2002 § 148 Nr. 1).

b) Das Verordnungsverfahren leidet an einem wesentlichen Verfahrensfehler, der zur Unwirksamkeit der Verordnung führt (zur Rechtsfolge vgl. [X.] 12. Oktober 2010 - 2 [X.] - Rn. 126 ff. [X.], [X.]E 127, 293).

aa) § 1 Abs. 3a Satz 2 [X.] aF sah vor, dass das [X.] vor Erlass der Rechtsverordnung den in den Geltungsbereich der Rechtsverordnung fallenden Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie den Parteien des Tarifvertrags Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme zu geben hatte. Dieses Recht zur Stellungnahme soll ausweislich der Gesetzesbegründung gewährleisten, dass der Verordnungsgeber die Interessen aller Betroffenen in das Verordnungsverfahren einbezieht und in dem späteren [X.] widerstreitende Interessen gewichtet und wertet (vgl. Begründung der Beschlussempfehlung des [X.] und [X.]. 14/151 S. 33). Dafür spricht auch die Gesetzessystematik. Mit § 1 Abs. 3a [X.] aF sollte das bis dahin für eine Ausweitung der Geltung eines Tarifvertrags allein zur Verfügung stehende Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 [X.] um die Möglichkeit der Tariferstreckung kraft Rechtsverordnung ergänzt werden. Da die Voraussetzungen einer Allgemeinverbindlicherklärung mit den Erfordernissen des Einvernehmens mit einem aus jeweils drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer bestehenden Ausschuss, der Repräsentativität (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 [X.]) und des öffentlichen Interesses (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 [X.]) weitaus höhere Anforderungen stellen als das Verfahren nach § 1 Abs. 3a [X.] aF, kommt dem Recht zur Stellungnahme nach § 1 Abs. 3a Satz 2 [X.] aF als Ausgleich ein besonderes Gewicht zu (vgl. dazu auch BVerwG 28. Januar 2010 - 8 [X.] 19.09 - Rn. 58 ff., BVerwGE 136, 54).

Die danach erforderliche Möglichkeit zur Stellungnahme zu dem - die Änderung im Geltungsbereich des [X.] vom 29. November 2007 gegenüber dem vom 11. September 2007 nachverfolgenden - geänderten Entwurf der Rechtsverordnung wurde nach den tatsächlichen Feststellungen des [X.]s, gegen die die Revision Einwendungen nicht erhoben hat, nicht eröffnet. Eine Veröffentlichung im Bundesanzeiger unterblieb.

bb) Die mit dem Tarifvertrag vom 29. November 2007 erfolgte Änderung war wesentlich. Der Geltungsbereich des ursprünglichen Tarifvertrags sollte alle Betriebe erfassen, die gewerbs- oder geschäftsmäßig Briefsendungen für Dritte befördern, ohne dass es auf den Anteil dieser Tätigkeit an der Gesamttätigkeit angekommen wäre. Dagegen sah der Tarifvertrag vom 29. November 2007 eine Beschränkung auf Betriebe und selbständige [X.] vor, die überwiegend gewerbs- oder geschäftsmäßig Briefsendungen für Dritte befördern. Durch diese Änderung des Geltungsbereichs drohte eine erhebliche Verschärfung der Wettbewerbssituation der Hauptkonkurrenten der [X.]. Dies betraf weniger den Wettbewerb zur [X.] selbst, als den Wettbewerb der Hauptkonkurrenten untereinander. Während ursprünglich jedes Unternehmen, das Briefsendungen beförderte, einen Mindestlohn zu zahlen gehabt hätte, waren durch den Tarifvertrag vom 29. November 2007 Unternehmen, deren Betriebe bzw. selbständige [X.] nicht überwiegend Briefsendungen befördern, von der Pflicht zur Zahlung eines Mindestlohns befreit, was deren Wettbewerbssituation verbessern konnte. Deshalb ist die Auffassung der Kläger, der Tarifvertrag vom 29. November 2007 sei im Verhältnis zu dem vom 11. September 2007 lediglich ein „Minus“, nicht zutreffend. Arbeitgeber, die möglicherweise unter der ursprünglichen Wettbewerbssituation bereit gewesen wären, einen Mindestlohn zu akzeptieren, und die aus diesem Grunde auf eine Stellungnahme verzichtet hatten, mussten nunmehr erneut Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. Zudem ist es denkbar, dass ein Arbeitgeber zunächst auf eine Stellungnahme verzichtete, weil er die Rechtsverordnung aufgrund mangelnder Repräsentativität für offensichtlich unwirksam hielt und meinte, hiergegen auch im späteren Verwaltungsverfahren ausreichend Rechtsschutz erlangen zu können.

Dem steht nicht entgegen, dass die Einschränkung des Geltungsbereichs des ursprünglichen Tarifvertrags durch den Gesetzgeber vorgezeichnet war, weil dieser in § 1 Abs. 1 Satz 4 [X.] aF nur die Branche der Briefdienstleistungen, und zwar beschränkt auf Betriebe oder selbständige [X.], die überwiegend gewerbs- oder geschäftsmäßig Briefsendungen für Dritte befördern, aufgenommen hatte (Art. 1 des [X.] zur Änderung des [X.] vom 21. Dezember 2007, [X.] I S. 3140). Soweit die Kläger darauf verweisen, rechtliches Gehör sei bereits im Gesetzgebungsverfahren gewährt worden, verkennen sie, dass die nach § 1 Abs. 3a Satz 2 [X.] aF äußerungsberechtigten Arbeitgeber und Arbeitnehmer an dem Gesetzgebungsverfahren nicht beteiligt waren.

c) [X.] ist jedenfalls dann wesentlich, wenn ein Verfahrenserfordernis, das der Gesetzgeber im Interesse sachrichtiger Normierungen statuiert hat, in funktionserheblicher Weise verletzt wurde. Ein Verstoß gegen [X.] und Beteiligungsrechte führt daher in solchen Fällen regelmäßig zur Ungültigkeit der Verordnung ([X.] 12. Oktober 2010 - 2 [X.] - Rn. 126 ff. [X.], [X.]E 127, 293; BVerwG 28. Januar 2010 - 8 [X.] 19.09 - Rn. 68, BVerwGE 136, 54).

Dass eine erneute Stellungnahme dem Verordnungsgeber keinen relevanten Entscheidungsgewinn hätte bringen können (so das Vorbringen der - dortigen - Beklagten im verwaltungsgerichtlichen Verfahren, vgl. Tatbestand des Urteils des [X.] 7. März 2008 - 4 [X.] - [X.], 482), ist reine Spekulation. Gerade wegen der durch den eingeschränkten Geltungsbereich möglichen Veränderung der wettbewerbsrechtlichen Ausgangssituation der Wettbewerber der [X.] ist nicht auszuschließen, dass im Rahmen eines erneuten Anhörungsverfahrens gewichtige Argumente vorgebracht worden wären, die der Verordnungsgeber nicht hätte unberücksichtigt lassen dürfen.

d) Schließlich führt entgegen der Auffassung der Kläger die Nichtaufhebung der [X.] durch den Verordnungsgeber nicht zu deren weiterer Anwendung. Ob eine Rechtsverordnung durch ihre Ermächtigungsgrundlage gedeckt ist, beurteilt grundsätzlich das zuständige Fachgericht im Rahmen einer Inzidenterkontrolle. Das Verwerfungsmonopol des [X.] nach Art. 100 Abs. 1 GG gilt für Rechtsverordnungen nicht ([X.] 1. März 1978 - 1 [X.] - [X.]E 48, 40). Einer förmlichen Aufhebung der unwirksamen [X.] bedurfte es nicht (vgl. [X.] 26. Oktober 2009 - 3 [X.] - Rn. 15, [X.] ZPO § 148 Nr. 9 = EzA ZPO 2002 § 148 Nr. 1; BVerwG 28. Juni 2000 - 11 [X.] 13.99 - zu 2 b der Gründe, BVerwGE 111, 276).

III. Die Kläger haben gemäß § 97 Abs. 1, § 100 Abs. 1 ZPO die Kosten der Revision anteilig zu tragen.

        

    Müller-Glöge    

        

    Laux    

        

    [X.]    

        

        

        

    Zorn     

        

    [X.]     

                 

Meta

5 AZR 630/10

18.04.2012

Bundesarbeitsgericht 5. Senat

Urteil

Sachgebiet: AZR

vorgehend ArbG Hannover, 2. Juli 2009, Az: 6 Ca 190/08, Urteil

§ 1 Abs 3a AEntG vom 21.12.2007, § 1 TVG, § 138 Abs 1 BGB, § 138 Abs 2 BGB, § 612 BGB, EGV 1893/2006, § 3 VerdStatG, § 5 Abs 2 PostG, § 12 Abs 1 PostG

Zitier­vorschlag: Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 18.04.2012, Az. 5 AZR 630/10 (REWIS RS 2012, 7202)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 7202

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Referenzen
Wird zitiert von

6 Ca 3175/12

7 Ca 3665/12

2 Sa 1442/12

2 Sa 1443/12

15 Sa 1350/11

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