Bundessozialgericht, Urteil vom 01.03.2011, Az. B 7 AL 2/10 R

7. Senat | REWIS RS 2011, 9013

© Bundessozialgericht, Dirk Felmeden

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Gegenstand

Bekämpfung illegaler Ausländerbeschäftigung - Rechtswidrigkeit einer unangekündigten Außenprüfung - fehlende Ermessensausübung


Tenor

Auf die Revision des [X.] werden die Urteile des [X.] vom 10. Dezember 2008 und des [X.] vom 3. Februar 2004 aufgehoben. Es wird festgestellt, dass die Prüfungsverfügung der Beklagten vom 2. Oktober 2002 rechtswidrig gewesen ist.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 5000 Euro festgesetzt.

Tatbestand

1

[X.] ist die Rechtmäßigkeit der Anordnung einer Außenprüfung bei der Klägerin vom 2.10.2002.

2

Am 2.10.2002 nahmen zwei Mitarbeiter des Arbeitsamtes ([X.]) [X.] in den Räumen der Klägerin eine Außenprüfung vor, bei der sie der Buchhalterin eine schriftliche Prüfungsverfügung vom selben Tage, die an die Firmenbezeichnung eines Reisebüros adressiert war, übergaben. Sie beruhte auf dem Verdacht einer Unregelmäßigkeit betreffend die Lohnabrechnung für Juni 2002 einer bei der Klägerin mit Arbeitserlaubnis beschäftigten [X.] Putzhilfe, die eine Lohnabrechnung über wöchentlich 14 Stunden erhalten hatte, obwohl wöchentlich nur eine Arbeitszeit von zehn Stunden erlaubt worden war; der gezahlte Stundenlohn soll zudem unter dem Tariflohn gelegen haben. Die zunächst durch die Beklagte von der Klägerin am 1.10.2002 angeforderten Lohnabrechnungen für Juni und Juli 2002 waren handschriftlich erstellt und auf zehn Stunden ausgebessert worden. Der Widerspruch der Klägerin gegen die Prüfungsverfügung blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 11.3.2003).

3

Das Sozialgericht ([X.]) [X.] hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 3.2.2004); den Antrag auf Aufhebung der Prüfungsverfügung des [X.] vom 2.10.2002 hat es als unzulässig verworfen, den Hilfsantrag, die Rechtswidrigkeit der Prüfungsverfügung festzustellen, als unbegründet abgelehnt. Das [X.] ([X.]) hat die nur noch auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Prüfungsvereinbarung vom 2.10.2002 gerichtete Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 28.7.2005), weil ein berechtigtes Interesse an der Feststellung zu verneinen sei. Auf die Revision der Klägerin hat der erkennende Senat das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückverwiesen (Urteil vom 28.8.2007), weil zwar ein [X.] zu bejahen und somit die allein rechtshängige Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig sei, mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen jedoch nicht entschieden werden könne, ob die Fortsetzungsfeststellungsklage auch begründet sei. Das [X.] hat die Berufung daraufhin erneut zurückgewiesen (Urteil vom 10.12.2008), weil die unangekündigte, verdachtsgestützte Außenprüfung der Beklagten ihre rechtmäßige Rechtsgrundlage in § 304 Abs 1 [X.] iVm § 305 Abs 1 Satz 1 [X.] - ([X.]) in der bis zum 31.7.2004 gültigen Fassung (aF) finde. Danach habe wegen der Unregelmäßigkeiten in der Vertragsabwicklung zwischen der Klägerin und ihrer ausländischen Arbeitnehmerin ein hinreichender Anlass für die Außenprüfung wegen der Möglichkeit eines Verstoßes iS des § 304 Abs 1 [X.] und 2 [X.] aF bestanden. Die Anordnung der Außenprüfung sei zweckmäßig, bestimmt genug und auch verhältnismäßig gewesen, weil die am 1.10.2002 geforderte Übersendung sämtlicher Lohnunterlagen keine Aufklärung ergeben und sich die Prüfungsverfügung zum Betreten der Geschäfts- und Betriebsräume der Klägerin ausschließlich auf Unterlagen der betreffenden Arbeitnehmerin beschränkt habe. § 305 [X.] aF verstoße weder gegen Art 13 Abs 1 Grundgesetz (GG) noch gegen Art 8 Europäische Menschenrechtskonvention ([X.]). Das Betretens- und Prüfungsrecht des § 305 [X.] diene dem Schutz der Arbeitnehmer bzw der Versichertengemeinschaft und fordere keine vorherige richterliche Genehmigung.

4

Mit der Revision rügt die Klägerin einen Verstoß gegen §§ 304 ff [X.]. [X.] sei ungeeignet gewesen, sie ausreichend zu informieren und ihr eine effektive Kontrolle zu ermöglichen. Insbesondere habe ein Hinweis auf das Auskunftsverweigerungsrecht nach § 306 Abs 1 Satz 3 [X.] aF gefehlt. Hieraus resultiere ein Verstoß gegen Art 6 Abs 1 und Art 8 [X.] sowie gegen Art 12, 13, 14, 2 Abs 1 und 19 Abs 3 GG. Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des [X.] ([X.]) zu Art 8 [X.] müssten die vom [X.] ([X.]) aufgestellten Grundsätze für Betriebsprüfungen aufgegeben werden, mit der Folge, dass §§ 304 ff [X.] aF verfassungswidrig seien. Die faktische Durchsuchung ihrer (der Klägerin) Betriebsräume ohne eine vorherige richterliche Kontrolle enthalte wegen der fehlenden Belehrungspflicht über das Auskunftsverweigerungsrecht neben einer psychologischen Beeinträchtigung keinen angemessenen und wirksamen Missbrauchsschutz.

5

Die Klägerin beantragt,
die Urteile des [X.] und des [X.] aufzuheben und festzustellen, dass der Bescheid der Beklagten vom 2.10.2002 rechtswidrig gewesen ist.

6

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

7

Sie hält die Entscheidung des [X.] für zutreffend.

Entscheidungsgründe

8

Die zulässige Revision ist begründet (§ 170 Abs 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz <[X.]G>). Das [X.] hat die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des [X.] im Ergebnis zu Unrecht zurückgewiesen. Die nach der vorangegangenen Senatsentscheidung vom [X.] ([X.]/7a [X.] 16/06 R - [X.] 4-1500 § 131 [X.]) zulässige Fortsetzungsfeststellungsklage der Klägerin ist auch begründet, weil die Prüfungsverfügung der Beklagten vom 2.10.2002 rechtswidrig war (§ 131 Abs 1 Satz 3 [X.]G).

9

Streitgegenstand des Verfahrens ist ausschließlich die Rechtmäßigkeit dieser Verfügung. Sie ordnete als Verwaltungsakt iS von § 31 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - ([X.]B X) die Prüfung bei der Klägerin "gemäß §§ 304 ff [X.]B III aF und § 107 [X.] - ([X.]B IV) sowie § 2 des [X.] ([X.])" an. Da § 2 [X.] offensichtlich ebenso wenig einschlägig ist wie § 107 [X.]B IV (vgl B[X.], aaO, RdNr 14), misst sich deren Rechtmäßigkeit allein an § 304 Abs 1 [X.] iVm § 305 Abs 1 Satz 1 [X.]B III (beide idF des [X.] vom 23.7.2002 - [X.]). Nicht Gegenstand des Verfahrens sind nach dem ausdrücklichen Antrag der Klägerin, die Rechtswidrigkeit der Prüfungsverfügung festzustellen, die einzelnen, in § 305 [X.]B III aufgeführten Duldungspflichten, zu denen die Mitarbeiter der Beklagten die Klägerin bzw ihre Mitarbeiter aufgefordert haben.

Nach § 304 [X.]B III prüfen die Arbeitsämter, ob Sozialleistungen nach dem [X.]B III zu Unrecht bezogen werden oder wurden, ausländische Arbeitnehmer mit einer erforderlichen Genehmigung und nicht zu ungünstigeren Arbeitsbedingungen als vergleichbare [X.] Arbeitnehmer beschäftigt werden oder wurden und die Angaben des Arbeitgebers, die für die Leistungen erheblich sind, zutreffend bescheinigt wurden. Zur Durchführung dieser Aufgaben, also der angeordneten Außenprüfung, sind sie gemäß § 305 Abs 1 Satz 1 [X.]B III berechtigt, Grundstücke und Geschäftsräume des Arbeitgebers während der Geschäftszeit zu betreten und dort Einsicht in die Lohn-, Meldeunterlagen, Bücher und andere Geschäftsunterlagen und Aufzeichnungen zu nehmen, aus denen Umfang, Art und Dauer von Beschäftigungsverhältnissen hervorgehen oder abgeleitet werden können. Es bedarf vorliegend keiner Entscheidung darüber, ob die Anordnung als solche überhaupt notwendig war oder ob erst die Anordnung der Duldung einzelner Rechte des § 305 [X.]B III die richtige Vorgehensweise dargestellt hätte. Ebensowenig bedarf es einer Entscheidung darüber, unter welchen Voraussetzungen die Anordnung erfolgen darf, insbesondere, ob ein konkreter Anlass notwendig ist. Wenn die Anordnung insoweit unzulässig wäre, wäre sie schon deshalb aufzuheben.

Schließlich muss der Senat auch nicht entscheiden, ob § 305 Abs 1 Satz 1 [X.]B III gegen das [X.] oder die [X.] verstößt. Allerdings hat der Senat keinen Zweifel, dass dies bei grundrechts- bzw europarechtskonformer Auslegung nicht der Fall ist.

Die Anordnung der Außenprüfung war bereits rechtswidrig, weil die Beklagte von dem ihr nach § 305 Abs 1 Satz 1 [X.]B III zustehenden Ermessen keinen Gebrauch gemacht hat. Es steht grundsätzlich im Ermessen der Arbeitsämter, in welcher Weise sie ihre gesetzlichen Aufgaben nach § 304 Abs 1 [X.]B III erfüllen, insbesondere ob, wann und in welcher Form Prüfungen vorgenommen werden sollen (vgl: [X.], [X.]B III, § 304 RdNr 4, Stand Juli 1999; [X.], [X.]B III, 2. Aufl 2002, § 304 RdNr 4). Denn nach § 305 Abs 1 Satz 1 [X.]B III sind ua die Arbeitsämter zur Durchführung des § 304 Abs 1 "berechtigt", Grundstücke und Geschäftsräume des Arbeitgebers während der Geschäftszeit zu betreten. Dieses bei der Durchführung der Aufgaben nach § 304 Abs 1 Satz 1 [X.]B III auszuübende Ermessen muss - erlässt man, wie vorliegend, eine generelle Verfügung über die Betriebsprüfung - denknotwendig auch bei deren Erlass selbst ausgeübt werden. Denn auch wenn eine effektive Überprüfungstätigkeit der berechtigten Behörde nicht gefährdet werden darf, so darf doch ein wirksamer Rechtsschutz der duldungsverpflichteten Arbeitgeber durch ein uneingeschränktes Vorgehen der Erlaubnisbehörde nicht vereitelt werden (vgl B[X.] [X.] 3-7815 Art 1 § 7 [X.] f, [X.] RdNr 57, mwN).

Der 11. Senat des B[X.] ([X.] 3-7815 Art 1 § 7 [X.]) hat bereits unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des erkennenden Senats vom [X.] ([X.] 7815 Art 1 § 7 [X.] Nr 1) hinsichtlich der Geltendmachung von Betretungs- und Prüfungsrechten der Erlaubnisbehörde nach Art 1 § 7 Abs 3 [X.] ausgeführt, dass bei der Ermessensausübung der Erlaubnisbehörde, in welcher Weise sie ihre gesetzlichen Aufgaben erfülle, die gesetzlichen Grenzen des Ermessens durch Prinzipien wie Gleichbehandlung, Selbstbindung der Verwaltung, Geeignetheit und vor allem auch durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel bestimmt werden. Es ist nicht ersichtlich, weshalb hier etwas anderes gelten sollte.

Nach diesen Maßstäben hatten die Arbeitsämter ihr Ermessen entsprechend dem Zweck der Ermächtigung und unter Einhaltung der gesetzlichen Grenzen des Ermessens dahin auszuüben, ob zur Durchführung der Aufgaben nach § 304 Abs 1 [X.]B III überhaupt eine unangemeldete Betriebsprüfung erforderlich ist. An einer Ermessensausübung fehlt es hier jedoch gänzlich, sodass die Prüfungsverfügung aufgrund des Ermessensnichtgebrauchs rechtswidrig und aufzuheben ist. Abgesehen davon, dass schon die fehlende Begründung (§ 35 Abs 1 Satz 3 [X.]B X) Indiz für ein nicht ausgeübtes Ermessen ist (vgl B[X.] [X.] 3-1300 § 50 [X.] f), zeigt das Verfahren und der Inhalt des Bescheides, dass Ermessen nicht ausgeübt wurde. Die Beklagte hat nämlich pauschal und undifferenziert alle denkbaren Ermächtigungsgrundlagen in einer vorgefertigten Verfügung aufgezählt, obwohl nur § 304 [X.]B III in Betracht kam. Der eigene Vortrag des Beklagtenvertreters in der mündlichen Verhandlung am 1.3.2011, der selbst davon ausgeht, dass kein Ermessen auszuüben sei, bestätigt dies. Anders als bei einer fehlenden Begründung (§ 41 Abs 1 [X.] [X.]B X) kann im Falle eines (materiellen) Ermessensfehlers der Mangel in der Ermessensbetätigung nach § 39 Abs 1 Sozialgesetzbuch [X.] - ([X.]B I) im Klageverfahren nicht nachgeholt werden (vgl nur Schütze in von [X.], [X.]B X, 7. Aufl 2010, § 41 RdNr 11 mwN). Eine Ermessensschrumpfung oder sog Ermessensreduzierung auf Null ist vorliegend wegen der Schwere des Eingriffs und des eher geringfügigen Anlasses nicht anzunehmen, selbst wenn ggf die unangekündigte, verdachtsgestützte Außenprüfung ggf das einzig (noch) geeignete Mittel zu Feststellungen sein sollte. Insoweit stand lediglich eine im Monat Juni um vier Wochenstunden von der Arbeitserlaubnis abweichende Beschäftigung einer Putzhilfe im Raum. Die untertarifliche Bezahlung erfüllt alleine nicht die Voraussetzungen des § 304 [X.]B III (ungünstigere Arbeitsbedingungen als vergleichbare [X.] Arbeitnehmer). Liegt kein bloßer Verfahrens- oder Formfehler, sondern ein materieller Ermessensfehler vor, scheidet auch eine Anwendung von § 42 [X.]B X aus.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs 1 Satz 1 [X.]G iVm § 154 Abs 1 Verwaltungsgerichtsordnung. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 63 Abs 2 Satz 1, § 47 Abs 1, § 52 Abs 2 Gerichtskostengesetz.

Meta

B 7 AL 2/10 R

01.03.2011

Bundessozialgericht 7. Senat

Urteil

Sachgebiet: AL

vorgehend SG Nürnberg, 3. Februar 2004, Az: S 5 AL 293/03, Urteil

§ 304 Abs 1 Nr 2 SGB 3 vom 23.07.2002, § 305 Abs 1 S 1 SGB 3 vom 23.07.2002, § 39 Abs 1 SGB 1, § 42 SGB 10

Zitier­vorschlag: Bundessozialgericht, Urteil vom 01.03.2011, Az. B 7 AL 2/10 R (REWIS RS 2011, 9013)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2011, 9013

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