Bundesfinanzhof, Urteil vom 25.02.2021, Az. III R 23/20

3. Senat | REWIS RS 2021, 8373

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

(Keine Anwendung von § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG ohne inländische Einkünfte i.S. des § 49 EStG)


Tenor

Auf die Revision des [X.] wird das Urteil des [X.] vom 04.03.2020 - 7 K 7168/18 aufgehoben.

Die Sache wird an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen.

Tatbestand

I.

1

Streitig ist die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung und Rückforderung des ausgezahlten Kindergeldes für die Monate Juli bis Dezember 2015.

2

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist Vater des im November 1998 geborenen [X.] W, der im November 1999 geborenen Tochter K und der im Mai 2003 geborenen Tochter Z. Er ist [X.] Staatsbürger, die Ehefrau und Kinder leben gemeinsam mit ihm in [X.].

3

Am 24.01.2008 meldete er unter der Anschrift [X.] in [X.] einen Betrieb Trockenbau sowie Bodenleger, Holz- und Bautenschutz, Fliesenleger, Einbau von genormten Fertigteilen und am 22.01.2008 einen Wohnsitz unter derselben Anschrift an. Unter dieser Anschrift bescheinigte am 10.01.2018 der Schwiegervater des [X.], dass sein Schwiegersohn und Mitbewohner "seit 22.01.2008 bei (ihm) wohnhaft (sei) und regelmäßig seinen Mietanteil in Höhe von 200 €" an ihn entrichte und keine Rückstände bestünden. Aus einer weiteren "Vermieterbescheinigung" vom 15.01.2018 ergibt sich, dass die Wohnung 57 m² groß sei, durch zwei Personen genutzt werde und die Wohnung ausschließlich zu Wohnzwecken vermietet werde.

4

Am 10.09.2013 beantragte der Kläger erstmals Kindergeld, wobei er angab, verheiratet (und nicht dauernd getrennt lebend) zu sein und dass seine Ehefrau mit den Kindern in [X.] lebe. Die Ehefrau war im Streitzeitraum selbst erwerbstätig. Sie stimmte der Gewährung des Kindergeldes an den Kläger zu. Der Kläger legte einen Bescheid einer [X.] Behörde (Gemeindeverwaltung) vom 13.08.2013 vor, wonach kein Antrag auf Kindergeld in [X.] gestellt wurde. Mit Bescheiden jeweils vom 24.06.2015 gewährte die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) dem Kläger Kindergeld für die Kinder W und K für das [X.] bis einschließlich April 2013 und für alle drei Kinder ab Mai 2013 bis November 2016.

5

Mit mehreren Schreiben forderte die Familienkasse den Kläger auf, die gewerbliche Tätigkeit für den Zeitraum Juli bis Dezember 2015 durch Kopien von Rechnungen (inkl. Leistungszeitraum und Leistungsort) und Kontoauszügen nachzuweisen. Der Kläger reichte die Rechnungen 03/2015 vom 01.07.2015 (Leistungszeitraum 13.05.2015 bis 30.06.2015), 05/2015 vom 03.11.2015 (Leistungszeitraum 01.10.2015 bis 27.10.2015) und 06/2015 vom 19.12.2015 (Leistungszeitraum 05.11.2015 bis 18.12.2015) ein. Aus diesen Rechnungen ergibt sich, dass der Kläger in den angegebenen Zeiträumen auf einer Baustelle in [X.] gearbeitet hat.

6

Der Kläger wurde laut Einkommensteuerbescheid für das [X.] nach § 1 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auf Antrag als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig veranlagt. Aus dem Einkommensteuerbescheid 2015 ergibt sich, dass Einkünfte in Höhe von 3.211 €, die nicht der [X.] Einkommensteuer unterliegen, in den Progressionsvorbehalt einbezogen wurden.

7

Mit Bescheid vom 18.06.2018 hob die Familienkasse die bisherige Kindergeldfestsetzung für die Monate Juli bis Dezember 2015 auf und forderte das bereits ausgezahlte Kindergeld in Höhe von 3.420 € zurück.

8

Der hiergegen eingelegte Einspruch blieb erfolglos (Einspruchsentscheidung vom 20.08.2018).

9

Die Klage hatte ebenfalls keinen Erfolg. Zur Begründung führte das Finanzgericht ([X.]) aus, ein Kindergeldanspruch für den Streitzeitraum bestehe nicht, da bei Anwendung des § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG eine Behandlung nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig nur für die Kalendermonate vorliege, in denen der [X.] Einkünfte i.S. des § 49 EStG erziele, die der Einkommensteuer unterliegen. Dies sei vorliegend nicht der Fall, da der Kläger im Streitzeitraum ausschließlich in [X.] tätig gewesen sei und im Inland tatsächlich keine Betriebsstätte unterhalte.

Ob der Kläger im Inland einen Wohnsitz (§ 8 der Abgabenordnung --AO--) oder einen gewöhnlichen Aufenthalt (§ [X.]) habe, ließ das [X.] dahinstehen, weil auch dann nach der Verordnung ([X.]) Nr. 883/2004 des [X.] und des [X.] ([X.] 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (VO Nr. 883/2004 --Grundverordnung--) kein Kindergeldanspruch bestünde.

Das [X.] hat in den Entscheidungsgründen und im Tenor des Urteils die Revision zugelassen. Dem Urteil ist eine Rechtsmittelbelehrung beigefügt, die sich auf solche Fälle bezieht, in denen die Revision nicht zugelassen wurde. Das Urteil wurde dem Kläger am 17.03.2020 zugestellt. Am 16.04.2020 legte der Kläger Revision ein. Die Begründung ging am 16.06.2020 beim [X.] ([X.]) ein.

In der Sache rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des [X.] Berlin-Brandenburg vom 04.03.2020 aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das [X.] zurückzuverweisen.

Die Familienkasse beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

I[X.]

Die Revision ist zulässig (Punkt 1) und begründet (Punkt 2). Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --[X.]O--).

1. Der Zulässigkeit der Revision steht nicht entgegen, dass sie nicht innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des angefochtenen Urteils begründet wurde.

a) Nach Zustellung des vollständigen Urteils ist die Revision beim [X.] innerhalb eines Monats einzulegen (§ 120 Abs. 1 Satz 1 [X.]O) und --sofern sie vom [X.] zugelassen wurde-- innerhalb von zwei Monaten zu begründen (§ 120 Abs. 2 Satz 1 [X.]O).

b) Die Frist für einen Rechtsbehelf beginnt nur zu laufen, wenn der Beteiligte ordnungsgemäß über den Rechtsbehelf belehrt worden ist (§ 55 Abs. 1 [X.]O). Der Begriff "Rechtsbehelf" ist weit zu verstehen. Er umfasst als Oberbegriff außergerichtliche und gerichtliche Rechtsbehelfe, darunter die prozessualen Mittel zur [X.] im Wege gerichtlicher Verfahren, einschließlich Antrag, Klage und Rechtsmittel (vgl. § 136 Abs. 2 [X.]O). Auch die Frist zur Begründung der Revision nach § 120 Abs. 2 Satz 1 [X.]O ist eine "Frist für einen Rechtsbehelf" i.S. des § 55 Abs. 1 [X.]O ([X.]-Urteil vom 12.05.2011 - IV R 37/09, [X.]/NV 2012, 41, Rz 19, m.w.N.). Denn die Zulässigkeit des Rechtsmittels hängt (auch) von der Einhaltung dieser Frist ab.

c) Die Revisionsbegründung ist danach im Streitfall rechtzeitig beim [X.] eingegangen. Der Kläger war nicht zutreffend über die Fristen zur Einlegung und zur Begründung der Revision belehrt worden. Diese Fristen begannen daher nach § 55 Abs. 1 [X.]O nicht zu laufen. Die deshalb maßgebliche Jahresfrist für die Einlegung des Rechtsbehelfs nach § 55 Abs. 2 Satz 1 [X.]O war bei Eingang der Revisionsbegründung noch nicht abgelaufen.

2. Die Revision des [X.] ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Rechtssache an das [X.] zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 [X.]O). Der [X.] kann auf der Grundlage der Feststellungen des [X.] nicht beurteilen, ob dem Kläger für die Monate Juli bis Dezember 2015 ein (Differenz-)Kindergeldanspruch zusteht.

a) Nach § 62 Abs. 1 Satz 1 EStG setzt der Anspruch auf Kindergeld u.a. voraus, dass der Anspruchsteller einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat (Nr. 1) oder ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt nach § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist (Nr. 2 Buchst. a) oder nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird (Nr. 2 Buchst. b).

b) Zutreffend ist das [X.] zunächst aufgrund der den [X.] bindenden Feststellungen (§ 118 Abs. 2 [X.]O) davon ausgegangen, dass eine Anspruchsberechtigung des [X.] nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG nicht besteht.

aa) Nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG hat Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG, wer ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird.

Nach § 1 Abs. 3 EStG werden auf Antrag auch natürliche Personen als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt, die im Inland weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, soweit sie inländische Einkünfte i.S. des § 49 EStG haben. Dies gilt nur, wenn ihre Einkünfte im Kalenderjahr zu mindestens 90 % der [X.] Einkommensteuer unterliegen oder wenn die nicht der [X.] Einkommensteuer unterliegenden Einkünfte den Grundfreibetrag nach § 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG nicht übersteigen.

Aufgrund des im Kindergeldrecht geltenden Monatsprinzips (§ 66 Abs. 2 EStG) löst eine nach § 1 Abs. 3 EStG erfolgte Behandlung als unbeschränkt Steuerpflichtiger nur für die Monate einen Kindergeldanspruch aus, in denen der Steuerpflichtige inländische Einkünfte i.S. des § 49 EStG erzielt hat, die nach § 1 Abs. 3 EStG der Einkommensteuer unterliegen ([X.]-Urteile vom 24.10.2012 - V R 43/11, [X.]E 239, 327, [X.], 491; vom 18.04.2013 - VI R 70/11, [X.]/NV 2013, 1554; vom 16.05.2013 - III R 8/11, [X.]E 241, 511, [X.], 1040; vom 24.07.2013 - XI R 8/12, [X.]/NV 2014, 495; vom 12.03.2015 - III R 14/14, [X.]E 249, 292, [X.], 850). Zur Beantwortung der Frage, in welchem Monat die Einkünfte "erzielt" wurden, ist bei [X.], die Gewinneinkünfte haben, nicht auf die Art der Gewinnermittlung und auch nicht auf den Zeitpunkt des Zuflusses abzustellen. Vielmehr kommt es darauf an, in welchem Monat die wirtschaftliche Tätigkeit im Inland entfaltet wurde, welche die inländische Steuerpflicht auslöst und damit das Wahlrecht nach § 1 Abs. 3 EStG erst eröffnet ([X.]surteil vom 14.03.2018 - III R 5/17, [X.]E 261, 117, BStBl II 2018, 482; [X.] in [X.]/[X.]/[X.], § 62 EStG Rz 7).

bb) Im vorliegenden Fall ist der Kläger zwar auf seinen Antrag hin nach § 1 Abs. 3 EStG für das [X.] als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt worden. Er hatte aber nach den den [X.] bindenden Feststellungen des [X.] (§ 118 Abs. 2 [X.]O) im Streitzeitraum Juli bis Dezember 2015 keine inländischen Einkünfte i.S. des § 49 EStG.

(1) Gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a EStG liegen inländische Einkünfte aus Gewerbebetrieb (§ 15 EStG) vor, wenn für sie im Inland eine Betriebsstätte unterhalten wird oder ein ständiger Vertreter bestellt ist. Eine Betriebsstätte ist nach § 12 Abs. 1 Satz 1 [X.] jede feste Geschäftseinrichtung oder Anlage, die der Tätigkeit eines Unternehmens dient. Damit normiert § 49 EStG für diese Einkunftsart weitere tatbestandliche Voraussetzungen, die einen Inlandsbezug herstellen und die jeweiligen Einkünfte damit überhaupt erst zu "inländischen" i.S. des § 49 EStG machen. Bei den Einkünften aus Gewerbebetrieb knüpft der Gesetzgeber an die im Inland entfaltete wirtschaftliche Tätigkeit an (sog. Quellenprinzip, vgl. [X.]-Urteil vom 10.04.2013 - I R 22/12, [X.]E 241, 251, [X.], 728, Rz 10).

(2) Das [X.] hat festgestellt, dass die inländische Wohnung weder nach dem [X.] noch nach der Vermieterbescheinigung zu gewerblichen Zwecken genutzt wurde. Eine andere inländische Betriebsstätte kam ebenfalls nicht in Betracht. Nach § 118 Abs. 2 [X.]O ist der [X.] an die im angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen gebunden, es sei denn, dass in Bezug auf diese Feststellungen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht werden. Da die bloße Überlassung von Räumen noch keine Betriebsstätte begründet, vielmehr hinzukommen muss, dass auch dort eine eigene gewerbliche Tätigkeit ausgeübt wird ([X.]sbeschluss vom 11.02.1999 - III B 91/98, [X.]/NV 1999, 1122), ist die Würdigung des [X.], eine inländische Betriebsstätte habe nicht vorgelegen, nicht zu beanstanden.

(3) Der [X.] ist an die Feststellungen des [X.] nach § 118 Abs. 2 [X.]O gebunden, denn der Kläger hat die Feststellungen nicht mit einer ordnungsmäßigen Verfahrensrüge angegriffen. Sein Vorbringen beschränkt sich auf die Rüge, das Urteil sei fehlerhaft, weil die Veranlagung des Finanzamtes ([X.]) nach § 1 Abs. 3 EStG für das [X.] bewirke, dass damit für die Familienkasse und das [X.] bindend eine inländische Betriebsstätte im Streitzeitraum mit der Folge inländischer Einkünfte gemäß § 49 EStG festgestellt worden sei. Dieser Rechtsauffassung ist nicht zu folgen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Einkommensteuer nach § 2 Abs. 7 Satz 1 EStG eine Jahressteuer ist und ihre Grundlagen bei der Steuerfestsetzung gemäß § 2 Abs. 7 Satz 2 EStG jeweils für das Kalenderjahr zu ermitteln sind. Aus § 2 Abs. 7 EStG folgt jedoch nicht, dass sich die Behandlung als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig jeweils auf ein Kalenderjahr bezieht. Dies steht auch im Einklang mit dem Wortlaut des § 1 Abs. 3 EStG, wonach die Behandlung von Personen als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig nur erfolgt, "soweit sie inländische Einkünfte i.S. des § 49 EStG haben". Dabei handelt es sich somit nicht nur um eine gegenständliche Definition im Hinblick auf die Bestimmung des sachlichen Umfangs der Einkünfte, sondern auch um eine zeitliche Einschränkung auf den Zeitraum der Behandlung als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ([X.]-Urteil in [X.]E 239, 327, [X.], 491, Rz 20). Die für die Familienkasse bindende Veranlagung nach § 1 Abs. 3 EStG durch das [X.] ist aber nur eine der Voraussetzungen für die [X.] nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG. Das entscheidende, von den Familienkassen und den [X.] selbst zu prüfende Kriterium für die [X.] gemäß § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG ist, ausgehend von der im Kindergeldrecht erforderlichen monatsbezogenen Betrachtungsweise, die inländische Tätigkeit, welche die inländische Steuerpflicht auslöst und damit das Wahlrecht nach § 1 Abs. 3 EStG erst eröffnet (zum Ganzen: [X.]-Urteil in [X.]E 261, 117, BStBl II 2018, 482, m.w.N.). Dem steht auch nicht entgegen, dass die nach § 1 Abs. 3 EStG ergehenden Einkommensteuerbescheide keine Informationen darüber enthalten, wann die Einkünfte i.S. des § 49 EStG erzielt worden sind. Die Familienkassen und [X.] haben den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln (§ 88 [X.], § 76 [X.]O). Dabei sind die Beteiligten nach § 90 [X.], § 76 Abs. 1 Sätze 2 bis 4 [X.]O zur Mitwirkung verpflichtet ([X.]surteil vom 18.07.2013 - III R 59/11, [X.]E 242, 228, [X.], 843, Rz 24).

(4) Entgegen der Ansicht des [X.] ergibt sich auch aus den Regelungen zum Doppelbesteuerungsabkommen ([X.]) mit [X.] nicht, dass im Streitzeitraum inländische Einkünfte i.S. des § 49 EStG vorliegen. Die [X.]-Abkommen regeln nicht, wann inländische Einkünfte vorliegen. Das wird ausschließlich durch § 49 EStG bestimmt. Insbesondere führt ein Besteuerungsrecht nach dem [X.], für Einkünfte, die keine inländischen Einkünfte sind, nicht dazu, dass inländische Einkünfte i.S. des § 49 EStG entstehen. Auch soweit das [X.] im Einkommensteuerbescheid 2015 ausländische Einkünfte in die Berechnung des --progressiven-- Steuersatzes einbezogen hat (Progressionsvorbehalt; vgl. § 32b EStG), werden diese Einkünfte damit nicht zu inländischen Einkünften i.S. des § 49 EStG, die nach § 1 Abs. 3 EStG der Einkommensteuer unterliegen.

c) Zu Unrecht hat das [X.] hingegen die Frage, ob der Kläger im Streitzeitraum einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, dahinstehen lassen. Sofern der Kläger im Streitzeitraum einen inländischen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hatte, ist entgegen der Ansicht des [X.] ein Kindergeldanspruch nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG nicht zwingend ausgeschlossen.

aa) Gemäß § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG hat Anspruch auf Kindergeld für Kinder i.S. des § 63 EStG, wer im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat.

bb) Zu Recht ist das [X.] zwar davon ausgegangen, dass bei der Anwendung der §§ 62 ff. EStG die Regeln des [X.] Sozialrechts zu beachten sind, weil der Geltungsbereich der [X.] Nr. 883/2004 eröffnet ist. Der Fall fällt unter den persönlichen Geltungsbereich der [X.] Nr. 883/2004, da der Kläger und die Kindsmutter als [X.] Staatsangehörige nach Art. 2 Abs. 1 der [X.] Nr. 883/2004 von diesem erfasst werden. Zudem fällt das [X.] Kindergeld nach Art. 3 Buchst. [X.]. Art. 1 Buchst. z der [X.] Nr. 883/2004 unter den sachlichen Geltungsbereich der [X.] Nr. 883/2004 ([X.]surteil vom 26.07.2017 - III R 18/16, [X.]E 259, 98, [X.], 1237, Rz 13).

Ist der persönliche und sachliche Geltungsbereich der [X.] Nr. 883/2004 eröffnet und liegen konkurrierende Ansprüche im Sinne der Verordnung vor, dann sind die Ansprüche ausschließlich nach Art. 68 der [X.] Nr. 883/2004 zu koordinieren. Diese Prioritätsregelung ist gegenüber § 65 EStG grundsätzlich vorrangig ([X.]surteil vom 04.02.2016 - III R 9/15, [X.]E 253, 139, [X.], 121, Rz 17, m.w.N.).

(1) Das [X.] ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Ehefrau des [X.] aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit in [X.] den [X.]n Rechtsvorschriften nach Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der [X.] Nr. 883/2004 unterliegt. Der Kläger unterliegt --einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland unterstellt-- gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der [X.] Nr. 883/2004 den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats der [X.] ([X.]), da er nach den Feststellungen des [X.] im Streitzeitraum weder im Inland eine Erwerbstätigkeit ausgeübt (Art. 11 Abs. 3 Buchst. a und b der [X.] Nr. 883/2004) noch Leistungen bei Arbeitslosigkeit (Art. 11 Abs. 3 Buchst. c der [X.] Nr. 883/2004) erhalten hat. Damit wäre [X.] gemäß Art. 68 Abs. 1 Buchst. a der [X.] Nr. 883/2004 der vorrangige Staat.

(2) Im Falle der Nachrangigkeit des Kindergeldanspruchs in [X.] wird dieser nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 der [X.] Nr. 883/2004 bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags ausgesetzt. Der an sich nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der [X.] Nr. 883/2004 vorgesehene Differenzbetrag muss gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der [X.] Nr. 883/2004 allerdings nicht für Kinder gewährt werden, die in einem Mitgliedstaat wohnen, wenn der entsprechende Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wird ([X.]surteil vom 22.02.2018 - III R 10/17, [X.]E 261, 214, BStBl II 2018, 717, Rz 28 f.).

Entgegen der Ansicht der Familienkasse bedeutet dies aber nicht, dass der Anspruch im nachrangigen Staat nach Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der [X.] Nr. 883/2004 auch dann ausgeschlossen ist, wenn nur ein Anspruch im nachrangigen Staat besteht, die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für einen Anspruch im vorrangigen Staat aber nicht erfüllt sind. Die Koordinierungsregel des Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der [X.] Nr. 883/2004 ist nach der neuesten Rechtsprechung des [X.] nur anwendbar, wenn konkurrierende Ansprüche im Sinne dieser Vorschrift vorliegen ([X.]surteil vom 18.02.2021 - III R 27/19, [X.]/NV 2021, 886; [X.]/[X.]/[X.], [X.], Kommentar, Fach D, [X.] Kommentierung, Art. 68 [X.] Nr. 883/2004 Rz 36 f.). Besteht mithin im vorrangigen Staat kein Anspruch auf Familienleistungen, weil beispielsweise die Altersgrenze oder bestimmte Einkommensgrenzen überschritten sind, ist für diese Fallgestaltung eine Anwendung der Prioritätsregelung nach Art. 68 der [X.] Nr. 883/2004 generell ausgeschlossen. Insoweit wäre aber auch zu prüfen, ob dem Kläger ein Anspruch auf Familienleistungen in [X.] zusteht.

(3) Unter Zugrundelegung dieser Rechtsgrundsätze hat das [X.] im Streitfall zu Unrecht einen Kindergeldanspruch auch für den Fall verneint, dass der Kläger im Inland einen Wohnsitz im Streitzeitraum hatte und Familienleistungen in [X.] und/oder [X.] ausgeschlossen sind.

3. Die Sache ist nicht spruchreif und war deshalb an das [X.] zurückzuverweisen, damit das [X.] die erforderlichen Feststellungen nachholt.

4. Für den zweiten Rechtsgang weist der [X.] auf Folgendes hin:

a) Das [X.] wird zunächst festzustellen haben, ob der Kläger im Streitzeitraum in [X.] einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hatte und deshalb nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG überhaupt anspruchsberechtigt sein kann (vgl. [X.]surteil vom 08.05.2014 - III R 21/12, [X.]E 246, 389, [X.], 135). Gegen einen Wohnsitz könnte sprechen, dass der Kläger selbst eine Veranlagung nach § 1 Abs. 3 EStG beantragt und damit zumindest konkludent kundgetan hat, dass er im Inland weder einen Wohnsitz noch einen gewöhnlichen Aufenthalt hat.

b) Soweit das [X.] in seinen Entscheidungsgründen ausgeführt hat, dass weder dem Kläger noch seiner Ehefrau ein Anspruch auf [X.] Familienleistungen zugestanden habe, fehlt es an einer tragfähigen Tatsachengrundlage für die Annahme eines fehlenden Anspruchs (zum Fehlen einer tragfähigen Tatsachengrundlage vgl. [X.]surteil vom 02.12.2004 - III R 49/03, [X.]E 208, 531, [X.], 483). Bescheinigungen ausländischer Behörden, aus denen sich lediglich ergibt, dass kein Antrag auf Kindergeld in [X.] gestellt wurde, sind nicht ausreichend, um einen Anspruch auf [X.] Familienleistungen zu verneinen. Insofern wäre zu berücksichtigen, dass der vom Kläger in [X.] gestellte Antrag gemäß Art. 68 Abs. 3 Buchst. b der [X.] Nr. 883/2004 von den [X.]n Behörden so zu behandeln ist, als ob er direkt bei ihnen gestellt worden wäre; der Tag der Einreichung des Antrags beim ersten Träger gilt als der Tag der Einreichung bei dem Träger, der vorrangig zuständig ist. Sollte es auf den Anspruch auf Familienleistungen in [X.] ankommen, könnte dies mittels eines Auskunftsersuchens gegenüber der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats [X.] geklärt werden, ob und in welchem Umfang dort ein Anspruch auf Familienleistungen bestand.

c) Darüber hinaus wäre auch zu prüfen, ob der Kläger aufgrund seiner Tätigkeit in [X.] im Streitzeitraum Ansprüche auf Familienleistungen in [X.] hatte, die ebenfalls nach der [X.] Nr. 883/2004 zu koordinieren wären.

5. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das [X.] folgt aus § 143 Abs. 2 [X.]O.

Meta

III R 23/20

25.02.2021

Bundesfinanzhof 3. Senat

Urteil

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg, 4. März 2020, Az: 7 K 7168/18, Urteil

§ 62 Abs 1 EStG 2009, § 49 EStG 2009, § 1 Abs 3 EStG 2009, § 8 AO, § 9 AO, § 12 AO, Art 68 Abs 2 S 3 EGV 883/2004, Art 6 OECDMustAbk, Art 6ff OECDMustAbk, § 66 Abs 2 EStG 2009, Art 6 OECD-MA, Art 6ff OECD-MA, EStG VZ 2015

Zitier­vorschlag: Bundesfinanzhof, Urteil vom 25.02.2021, Az. III R 23/20 (REWIS RS 2021, 8373)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2021, 8373

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

III R 7/20 (Bundesfinanzhof)

Kindergeld bei fiktiv unbeschränkter Einkommensteuerpflicht eines Elternteils


V R 45/11 (Bundesfinanzhof)

Kindergeld für einen aus Polen nach Deutschland entsandten Saisonarbeitnehmer


III R 31/20 (Bundesfinanzhof)

Zur Prüfung des deutschen Kindergeldanspruchs bei möglichem Bezug von Familienleistungen im Vereinigten Königreich


III R 10/17 (Bundesfinanzhof)

(Kindergeld, Nachweis der Behandlung nach § 1 Abs. 3 EStG, Differenzkindergeld bei ausschließlich durch den …


III R 11/20 (Bundesfinanzhof)

Kindergeldbezug aufgrund inländischer Einkünfte


Referenzen
Wird zitiert von

Keine Referenz gefunden.

Zitiert

Keine Referenz gefunden.

Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.