Bundesgerichtshof, Beschluss vom 22.05.2012, Az. 5 StR 15/12

5. Strafsenat | REWIS RS 2012, 6247

© REWIS UG (haftungsbeschränkt)

Tags hinzufügen

Sie können dem Inhalt selbst Schlagworten zuordnen. Geben Sie hierfür jeweils ein Schlagwort ein und drücken danach auf sichern, bevor Sie ggf. ein neues Schlagwort eingeben.

Beispiele: "Befangenheit", "Revision", "Ablehnung eines Richters"

QR-Code

Gegenstand

Fehler in der Beweiswürdigung: Inanspruchnahme eigener Sachkunde ohne Auseinandersetzung mit aussagepsychologischem Sachverständigengutachten


Tenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des [X.] vom 20. Juni 2011 mit den Feststellungen aufgehoben (§ 349 Abs. 4 StPO).

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des [X.] zurückverwiesen.

Gründe

1

Das [X.] hat den Angeklagten – unter Freispruch im Übrigen –wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in drei Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch einer [X.], zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt und angeordnet, dass sechs Monate der verhängten Freiheitsstrafe wegen erheblicher rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung als bereits vollstreckt gelten. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.

2

1. Nach den Feststellungen des [X.]s hat der Angeklagte die Nebenklägerin, seine leibliche Tochter, zwischen ihrem achten Geburtstag im Februar 1997 und seinem Auszug aus der Familienwohnung Ende Dezember 1999 in einer Reihe von Fällen sexuell missbraucht, von denen drei Taten näher konkretisiert werden konnten (Tat 1: Berührung des unbedeckten Geschlechtsteils des Kindes mit einem Vibrator; Tat 2: orale Stimulation des Kindes; Tat 3: gegenseitiger Oralverkehr). Von den Vorwürfen weiterer sexueller Missbräuche hat das [X.] den Angeklagten mangels Individualisierbarkeit weiterer Vorfälle oder mangels feststellbarer Erheblichkeit der sexuellen Handlungen (§ 184g Nr. 1 StGB) freigesprochen.

3

Die Nebenklägerin erstattete im Jahre 2006 Anzeige gegen den Angeklagten. Im März 2008 beauftragte die Staatsanwaltschaft eine psychologische Sachverständige mit der Erstattung eines aussagepsychologischen Gutachtens, nach dessen Eingang im November 2008 Anklage erhoben wurde. Im Januar 2011 erließ das [X.] einen Eröffnungsbeschluss. Im Hinblick auf die nicht hinreichende Förderung des Verfahrens im Ermittlungs- und im Zwischenverfahren hat die [X.] – insoweit rechtsfehlerfrei und mit für sich nicht beanstandenswerten rechtlichen Folgerungen – eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung von insgesamt dreieinhalb Jahren festgestellt.

4

2. Die durch das [X.] vorgenommene Beweiswürdigung hält rechtlicher Prüfung nicht stand.

5

Im Fall 3 referiert das [X.] lediglich die Einschätzung der von der Staatsanwaltschaft bereits im Ermittlungsverfahren beauftragten und in der Hauptverhandlung angehörten aussagepsychologischen Sachverständigen, dass sie hinsichtlich der Bekundungen der Nebenklägerin zu dieser Tat die Feststellung einer Erlebnisfundierung nicht treffen könne, da die Aussage insoweit nicht detailliert genug sei. Wenn die [X.] dessen ungeachtet der Aussage der Nebenklägerin auch hinsichtlich dieses [X.] folgt, muss sie die Einwände der Sachverständigen deutlich machen und sich mit ihnen auseinandersetzen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die [X.] ihrer Beweiswürdigung das von ihr für nachvollziehbar, widerspruchsfrei und aktuellen wissenschaftlichen Anforderungen genügend gehaltene Sachverständigengutachten nicht zugrunde gelegt hat, nachdem sie zuvor einen Antrag der Verteidigung auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens unter Hinweis auf eigene Sachkunde (§ 244 Abs. 4 Satz 1 [X.]) abgelehnt hatte. Angesichts der vorliegenden Aussage-gegen-Aussage-Konstellation hätte das [X.] im Rahmen einer umfassenden Gesamtwürdigung alle möglicherweise entscheidungsbeeinflussenden Umstände, so auch den genannten, in seine Überlegung einbeziehen müssen (vgl. [X.], Urteil vom 29. Juli 1998 – 1 [X.], [X.]St 44, 153, 158 f., Beschlüsse vom 16. Juli 2009 – 5 StR 84/09 – und vom 27. April 2010 – 5 [X.], jeweils mwN). Der Rechtsfehler kann Auswirkungen auf die Beurteilung der Erlebnisbegründetheit der auch im Übrigen knappen Bekundungen der Nebenklägerin haben. Der Senat hebt deshalb das Urteil insgesamt auf, um dem neuen Tatgericht eine umfassende Beweiswürdigung zu ermöglichen.

6

3. Auf die von der Revision erhobene Verfahrensrüge kommt es mithin nicht mehr an. Sie gibt dem Senat allerdings Anlass zu dem Hinweis, dass die gerügte Behandlung des auf die substantiierte Darlegung methodischer Mängel des [X.] gestützten Antrags der Verteidigung auf Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens bedenklich war. Nachdem die von der Staatsanwaltschaft hier durchaus sachgerecht beauftragte Gutachterin in der Hauptverhandlung als Sachverständige und nicht lediglich als Zeugin gehört worden war und das [X.] deren Ausführungen ausweislich der Urteilsgründe für überzeugend erachtet hat, war nicht auszuschließen, dass sich diese auf die Beweiswürdigung des [X.]s auswirken würden. Dies begründete wiederum die Gefahr, dass etwaige methodische Mängel des Gutachtens die Beweiswürdigung der [X.] beeinflussen könnten. Deswegen war es für sie angezeigt, sich in ihrem auf § 244 Abs. 4 Satz 1 [X.] gestützten Ablehnungsbeschluss mit den von der Verteidigung behaupteten Mängeln des Gutachtens auseinanderzusetzen (vgl. auch [X.], Beschluss vom 27. Januar 2010 – 2 [X.], [X.]St 55, 5).

7

4. Der Senat weist darauf hin, dass – entsprechend der Stellungnahme des [X.] – eine Verurteilung wegen jeweils tateinheitlich begangenen sexuellen Missbrauchs von [X.] nicht mehr erfolgen kann, weil insoweit Verjährung eingetreten ist (vgl. [X.], Beschluss vom 24. Juni 2004 – 4 [X.], [X.]R StGB § 78b Abs. 1 Ruhen 12). Die Vorschrift des § 174 StGB wurde erst mit Wirkung zum 1. April 2004 in den Katalog des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB aufgenommen. Die Regelung gilt rückwirkend nur für vor dem 1. April 2004 begangene Taten, die bis dahin nicht verjährt waren. Indes waren die zwischen dem 27. Februar 1997 und möglicherweise nur bis März 1999 begangenen Taten in diesem Zeitpunkt, der vor der Anzeigeerstattung lag, bereits verjährt.

8

5. Da die Revision des Angeklagten zu einer Aufhebung und Zurückverweisung der Sache nach § 354 Abs. 2 Satz 1 [X.] führt, wird seine Kostenbeschwerde gegenstandslos (vgl. [X.], [X.], 54. Aufl., § 464 Rn. 20).

Basdorf                                   Schaal                                Schneider

                          König                                  [X.]

Meta

5 StR 15/12

22.05.2012

Bundesgerichtshof 5. Strafsenat

Beschluss

Sachgebiet: StR

vorgehend LG Bremen, 20. Juni 2011, Az: 404 Js 29700/06 - 9 KLs

§ 244 Abs 4 S 1 StPO, § 261 StPO

Zitier­vorschlag: Bundesgerichtshof, Beschluss vom 22.05.2012, Az. 5 StR 15/12 (REWIS RS 2012, 6247)

Papier­fundstellen: REWIS RS 2012, 6247

Auf dem Handy öffnen Auf Mobilgerät öffnen.


Die hier dargestellten Entscheidungen sind möglicherweise nicht rechtskräftig oder wurden bereits in höheren Instanzen abgeändert.

Ähnliche Entscheidungen

5 StR 15/12 (Bundesgerichtshof)


2 StR 219/15 (Bundesgerichtshof)

Sexueller Kindesmissbrauch: Auswirkung des zeitlichen Abstandes zwischen Tat und Urteil im Rahmen der Strafzumessung; Einholung …


1 StR 489/20 (Bundesgerichtshof)

Beweiswürdigung im Strafverfahren wegen Kindesmissbrauchs: Tatsachenfeststellung bei Zeugen vom Hörensagen und Aussage-gegen Aussage-Konstellationen; notwendige Urteilsdarstellungen …


4 StR 381/14 (Bundesgerichtshof)

Beweiswürdigung im Strafverfahren wegen sexuellen Missbrauch eines Kindes: Abweichung vom Sachverständigengutachten


2 StR 165/20 (Bundesgerichtshof)

Strafverurteilung wegen schweren sexuellen Missbrauch von Kindern u.a.: Freie Beweiswürdigung bei Aussage gegen Aussage; Urteilsfeststellungen …


Zitieren mit Quelle:
x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.